Stimmung wiedergewonnen und schien alle Furcht und Vorsicht vergessen zu haben.
»Und Jelnin?« fragte sie plötzlich.
»Was soll hier Jelnin?« fragte er, als sie ihm so unerwartet ins Wort fiel. »Jelnin . . . Jelnin . . .« – er stockte in seiner Rede – »das war eine kindliche Torheit, die unschuldige Schwärmerei eines Schulmädchens. Hier aber ist eine Leidenschaft im Spiel, flammende, gefährliche Leidenschaft!«
»Nun denn – auch Sie hegten doch eine Leidenschaft für mich – warum soll nicht auch ich mich leidenschaftlich verlieben?« versetzte sie lachend. »Ist es nicht gleich, ob ich mit Jelnin da hinausgehe« – sie wies durchs Fenster nach der Straße – »oder mit dem Grafen? Dort erwartet mich doch das Glück, das wirkliche, volle Leben?«
Raiski biß die Zähne aufeinander, setzte sich fester in den Sessel und schwieg zornig. Er las es deutlich in ihren Zügen, daß sie sich über ihn lustig machte.
»Ach!« rief er mit einer unwilligen Bewegung. Er war aufs heftigste erregt – nicht, weil er sich auf einem Widerspruch ertappt fühlte, oder weil Sophie ihm für immer zu entschlüpfen schien, sondern weil die Möglichkeit, daß ein anderer sie erringen könnte, ihm die heftigsten Qualen verursachte. Wäre dieser andere nicht gewesen, dann hätte er sich in Ruhe und Demut seinem Schicksal gefügt.
Und nun blickte sie triumphierend auf ihn, so ruhig, so klar. Sie war im Recht – und er war in diese törichte, höchst unbehagliche Situation hineingeraten!
»Was soll ich nun tun, Cousin: soll ich ihnen« – sie wies auf die Ahnen – »Glauben schenken, oder soll ich alles von mir werfen, auf niemand hören, mich in das große Menschenmeer stürzen und ein ›neues Leben‹ beginnen?«
»Auch hier sind Sie sich selbst treu geblieben,« rief er plötzlich freudig aus, als hätte er einen Strohhalm erblickt, an dem er sich festhalten konnte – »der Segen der Ahnen wird Ihnen nicht entgehen: Ihre Wahl ist doch wenigstens auf einen Grafen gefallen! Hahaha!« lachte er krampfhaft auf. »Würden Sie ihn dieser Aufmerksamkeit wohl auch gewürdigt haben, wenn er zufällig nicht Graf wäre? – Tun Sie, was Sie wollen!« fuhr er, ärgerlich die Achseln zuckend, fort – »Sie haben ja schließlich recht: was geht mich das alles an? Ich sehe, daß dieser homme distingué mit seiner geschmackvollen, verständigen, originellen, so angenehm vibrierenden Unterhaltung bereits Besitz genommen hat von . . . von . . . nicht wahr, nicht wahr?« Er lachte gezwungen auf.
»Nun, das ist ja herrlich! Italien, der ewig blaue Himmel, die Sonne des Südens, die Liebe . . .« fuhr er fort und wippte in der Erregung mit dem Fuße hin und her.
»Das stand doch auch in Ihrem Programm!« versetzte sie.
»Auch Sie wollten mich ja in ferne Länder schicken, sogar in ein finnisches Dorf, wo ich ›ganz allein wäre mit der Natur‹ . . . Nach Ihrer Logik müßte ich doch jetzt vollkommen glücklich sein!« sagte sie spöttisch. »Ach, Cousin!« fügte sie hinzu und lachte hell auf, unterdrückte jedoch plötzlich ihr Lachen.
Er warf einen düsteren Blick auf sie. Sie hatte wieder die gewohnte, nachdenklich kalte Miene, die Vorsicht war wieder obenauf bei ihr.
»Beruhigen Sie sich: nichts von alledem trifft bei mir zu,« sagte sie freundlich, »und es bleibt mir nur noch übrig, Ihnen für diese neue Lektion, diese wohlgemeinte Warnung zu danken. Ich weiß nun freilich nicht, woran ich mich zu halten habe: damals wollten sie mich um jeden Preis hinausstoßen auf die Straße – und jetzt . . . sind Sie so ungemein besorgt um mich! Was soll ich Ärmste nun tun?« fragte sie mit komisch ängstlicher Miene.
Sie schwiegen beide.
»Ich werde das Porträt mitnehmen,« sagte er dann plötzlich.
»Weshalb? Sie sagten doch, Sie wollten mir damit ein Geschenk machen!«
»Nein, ich will einiges daran ändern: ich will daraus . . . eine Büßerin machen . . .?
Sie lachte wieder hell auf.
»Machen Sie daraus, was Sie wollen, Cousin – Gott mit Ihnen!«
»Und auch mit Ihnen! Aber . . . Cousine . . .«
Er hielt in seiner Rede ein: es war ihm plötzlich, als fiele ihm eine Last vom Herzen. Er lachte gutmütig, halb über sie und halb über sich selbst.
»Aber . . . aber sollen wir wirklich so voneinander scheiden: so kalt, so gar nicht als Freunde, so verärgert, fast als Feinde?« brach es plötzlich aus ihm hervor, und sein ganzer Zorn schien verraucht. Er erhob sich und streckte ihr die Hand entgegen, und seine Augen ruhten wieder wie verzückt auf ihrer Gestalt. Es verlangte ihn nach der früheren Freundschaft, nach der alten, harmlosen Vertraulichkeit. Noch war der Eindruck nicht verwischt, den sie auf ihn gemacht hatte, noch stand er, wie er sie vor sich sah, im Banne ihrer Schönheit. In seiner Stimme klang noch immer ein leises Zittern, und die angeborene Gutmütigkeit, die bösen Gefühlen in seiner Seele keinen Raum gab, trat deutlich zutage.
»Als Freunde! Wie sind Sie mit meiner Freundschaft umgegangen?« sagte sie im Tone des Vorwurfs.
»Geben Sie sie mir zurück, Cousine,« bat er, »vergeben Sie Ihrem ein klein wenig . . . verliebten Cousin, und leben Sie wohl!«
Er küßte ihr die Hand.
»Werde ich Sie nicht mehr sehen?« fragte sie lebhaft.
»Für diese Frage bitte ich, nochmals Ihre Hand küssen zu dürfen. Ich bin wieder der Raiski von früher und rufe Ihnen zu: lieben Sie, Cousine, genießen Sie, denken Sie an alles das, was ich Ihnen dereinst gesagt habe . . . nur vergessen Sie Ihren Vetter Raiski nicht ganz! Aber warum mußten Sie sich nur in diesen . . . Grafen verlieben?« fügte er leise, mit bedauerndem Lächeln hinzu.
»Sie reden schon wieder von ›verlieben‹! . . .«
»Verstellen Sie sich doch nicht länger, ich bitte Sie! Gott mit Ihnen, Cousine – was geht es mich schließlich an? Ich verschließe meine Augen und Ohren, ich bin blind, taub und stumm,« sagte er. »Aber wenn Sie wirklich einmal,« fügte er plötzlich hinzu und sah ihr gerade in die Augen – »alles das empfinden sollten, was ich Ihnen heute hier sagte oder voraussagte, ja vielleicht erst in Ihnen geweckt habe . . . werden Sie es mir dann eingestehen? Ich verdiene wirklich Ihr Vertrauen!«
»Sie wollen also durchaus, daß ich Sie beleidigen soll?«
»Tut nichts, ich will ein Held sein, ein Ritter der Freundschaft, das Musterbild eines Cousins! Ich habe es mir überlegt und finde, daß solch eine Freundschaft zwischen Cousin und Cousine doch ganz nett ist, und ich nehme die Ihrige an.«
»A la bonne heure!« sagte sie und reichte ihm die Hand. »Und wenn ich das, was Sie da vorausgesagt haben, wirklich einmal fühlen sollte, dann sollen Sie es wissen, Sie ganz allein und sonst niemand in der Welt. Aber das wird nie geschehen, kann nie geschehen!« fügte sie hastig hinzu. »Genug, Cousin – ich höre einen Wagen vorfahren: das werden die Tanten sein.«
Sie stand auf, warf rasch vor dem Spiegel einen Blick auf ihre Toilette und ging den Tanten entgegen.
»Und werden Sie meine Briefe beantworten?« fragte er, während er hinter ihr herschritt.
»Mit Vergnügen – nur darf nichts von Liebe darin stehen.«
»Sie ist unverbesserlich!« dachte er im stillen. »Doch – wir wollen sehen, was nun weiter wird!« Still und nachdenklich, den irrenden Blick tief in sich gekehrt, schritt er dahin. Die quälende Pein der Enttäuschung, der verletzten Eigenliebe schwand nach und nach. Die Leidenschaft war verraucht, und Sophie selbst, die eitle, kalte Frau, hörte auf, für ihn zu existieren; der bunte Flitter, mit dem seine Phantasie ihre Gestalt ausgeschmückt hatte, zerstob in nichts, und die Ahnenbilder, die Tanten, selbst der verhaßte Milari, waren wie in der Versenkung verschwunden.
Vor ihm erhob sich wie aus einem Nebel eine weibliche Gestalt: nicht Sophie war es, sondern das Bild! Nein, das war nicht Sophie, sondern ein Idealbild strenger, reiner Frauenschönheit, von antiker, unvergänglicher Würde. Er war ganz versenkt in dieses Gebilde seines schöpferischen Träumens, das sich zu einem grandiosen Gemälde auswuchs und all sein Sinnen und Denken fesselte.
Er vertiefte sich ganz in diese