Иван Гончаров

Die Schlucht


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am anderen Ufer,« sagte die Großtante. »Man schickte nach ihr: die Popenfrau, die mit uns bekannt ist, war krank geworden und bat sie hinzukommen. Daß das gerade jetzt passieren mußte! Heute noch lasse ich sie holen . . .«

      »Nein, nein,« hielt Raiski sie zurück. »Warum sie meinetwegen beunruhigen? Ich sehe sie ja, wenn sie zurückkommt.«

      »Wie hast du dich eigentlich hier in den Hof geschlichen? Wir hatten doch Wachen aufgestellt, und nun haben sie dich doch verpaßt!« sagte Tatjana Markowna. »In der Nacht mußten die Bauern achtgeben, und eben hab’ ich wieder Jegorka zu Pferde weggeschickt, ob er dich nicht vielleicht auf der Landstraße sieht. Und Ssawelij ist nach der Stadt gefahren, um sich zu erkundigen. Geradeso wie damals hast du dich herangeschlichen! Aber nun tragt doch endlich das Frühstück auf! Was ist denn das? Der gnädige Herr kommt nach seinem Stammgut, und nichts ist fertig – als käme er auf die Poststation! Bringt her, was zuerst fertig ist!«

      »Aber ich bin ja gar nicht hungrig, Tantchen, ich bin satt bis oben hin! Auf der einen Station hab’ ich Tee getrunken, auf der anderen Milch, auf der dritten bin ich gerade zu einer Bauernhochzeit zurechtgekommen, man hat mich mit Branntwein, mit Honig, mit Pfefferkuchen bewirtet . . .«

      »Schämst du dich nicht? Du fährst nach Hause zur Tante, und stopfst dir unterwegs den Magen mit solchem Zeug voll? Pfefferkuchen am frühen Morgen – hat man so was gehört! Das wär’ was für Marsinka: die liebt die Hochzeiten und den Pfefferkuchen. So komm doch endlich, brauchst dich nicht zu schämen!« sagte sie nach der Tür gewandt. »Sie schämt sich nämlich, daß du sie im Negligé angetroffen hast. Komm nur, es ist ja kein Fremder, sondern dein Bruder!«

      Man brachte Tee und Kaffee, und zuletzt das Frühstück. So sehr sich Raiski auch sträubte, er mußte von allem kosten – es war das einzige Mittel, die Großtante zu beruhigen und ihr den Morgen nicht zu verderben.

      »Aber ich kann wirklich nicht!« versuchte Raiski einzuwenden.

      »Nein, das ist schon so gang und gäbe: wenn jemand von der Reise kommt, muß er essen. Hier – Bouillon! Und hier – ein junges Huhn . . . Auch Pastete ist da . . .«

      »Ich danke wirklich, Tantchen, ich kann nicht,« sagte er, aber sie legte ihm auf, ohne auf ihn zu hören, und er trank die Bouillon und aß von dem Hühnchen.

      »Nun etwas von dem Truthahn,« fuhr sie fort. »Bring’ doch von den eingemachten Berberitzen, Wassilissa!«

      »Wie soll ich denn jetzt noch von dem Truthahn essen!« sagte er, machte sich aber gleichwohl an die Arbeit.

      »Nun, mein Lieber – bist du jetzt satt?« fragte sie schließlich.

      »Ich sollt’s meinen! Aber wenn ich schon dabei bin . . . was gibt’s denn sonst noch? Pastete, denk’ ich . . .«

      »Ja, gewiß doch – die Pastete ist vergessen! Heda, die Pastete!«

      Er aß auch von der Pastete, ganz wie es gang und gäbe ist, wenn jemand von der Reise kommt.

      »Nun, jetzt mußt du ihn weiter bewirten, Marsinka – so komm doch schon!«

      Wenige Augenblicke später öffnete sich leise die Tür, und langsam, mit verschämtem Gesichte, die Augen auf den Boden geheftet und die Wangen gerötet, trat Marsinka ins Zimmer. Hinter ihr kam Wassilissa daher mit einem großen Präsentierbrett, auf dem sich allerhand Süßigkeiten, Eingemachtes, Backwerk und sonstige Leckerbissen befanden.

      Marsinka stand verlegen da, mit unsicherem Lächeln, den Blick mit verhaltener Neugier auf den Ankömmling gerichtet. Um den Hals und die Hände trug sie jetzt Spitzen, und das wiederaufgesteckte Haar lag wie ein Kranz dicht um den Kopf; sie trug ein Barégekleid und ein blaues Band um die Taille.

      Raiski sprang auf, warf die Serviette hin, blieb vor ihr stehen und betrachtete sie mit Entzücken.

      »Wie reizend!« sagte er voll Bewunderung. »Und das ist meine kleine Schwester Marfa Wassiljewna! Welche Überraschung! Und was macht denn das Gänschen – lebt es noch?«

      Marsinka ward verwirrt; sie antwortete auf Raiskis Verbeugung mit einem Knicks und setzte sich verschämt in eine Ecke.

      »Ihr seid beide nicht recht klug,« sagte die Großtante – »ist denn das eine Art, sich zu begrüßen?«

      Raiski wollte Marsinka die Hand küssen.

      »Marfa Wassiljewna . . .« begann er.

      »Was heißt hier Wassiljewna?« rief die Tante. »Hast du sie denn gar nicht mehr lieb? Für dich ist sie einfach Marsinka und nicht Marfa Wassiljewna! Schließlich wirst du auch mich noch Tatjana Markowna nennen! Gebt euch einen herzhaften Kuß – ihr seid doch Bruder und Schwester!«

      »Ich will nicht, Tantchen, er neckt mich mit dem Gänschen . . . Es schickt sich nicht, die Leute zu belauschen! . . .« sagte sie.

      Alle lachten. Raiski küßte sie auf beide Wangen und legte den Arm um ihre Taille, worauf sie plötzlich alle Verwirrung und Schüchternheit abstreifte und seine Küsse tapfer erwiderte. Nur einen Augenblick noch, nur ein Wort, und über das schüchterne Lächeln hinweg brach ihr heiteres Geplauder und Lachen hervor, das sie nur mit Mühe zurückzuhalten schien.

      »Erinnerst du dich noch, Marsinka . . . wie wir hier zusammen herumliefen und zeichneten . . . und wie du immer weintest?«

      »Nein . . . ach, ja, ich erinnere mich . . . wie im Traume . . . Tantchen, erinnere ich mich noch – oder nicht? . . .«

      »Gott bewahre – wie soll sie sich noch erinnern? Sie war doch noch keine fünf Jahre alt . . .«

      »Doch, Tantchen, ich erinnere mich – bei Gott, wie im Traume . . .«

      »Laß nur Gott hübsch aus dem Spiele, meine Liebe – das hast du von Nikolaj Andreitsch angenommen! . . .«

      Kaum hatte Raiski diese alten Erinnerungen berührt, als Marsinka aus dem Zimmer verschwand und gleich darauf wieder mit einem Stoß von Heften und Zeichnungen und allerhand Spielsachen zurückkam. Ganz vertraulich trat sie auf ihn zu und zeigte ihm die Sachen. Dann setzte sie sich so dicht neben ihn, daß ihre Knie sich fast berührten, ohne daß sie in ihrer Harmlosigkeit etwas davon bemerkt hätte.

      »Da sehen Sie, Vetter,« begann sie lebhaft, während ihre Augen rasch über sein Gesicht, über seine Hände, seine Kleider und selbst seine Schuh glitten – »da sehen Sie, wie die Tante ist! Sie sagt, ich erinnere mich nicht mehr – und ich erinnere mich doch noch, ganz genau weiß ich, wie Sie hier gezeichnet haben— ich saß noch auf Ihrem Schoße! – Tantchen hat alle Ihre Zeichnungen, Porträts und Hefte, kurz, alle Ihre Sachen aufgehoben und sie dort in dem dunklen Zimmer verwahrt, wo auch das Silberzeug ist und die Brillanten und Spitzen . . . Sie hat neulich alles herausgenommen und mir gegeben – als Sie schrieben, daß Sie kommen wollten. Hier ist mein Bild – wie drollig ich hier aussehe! Und das ist Wjerotschka! Und hier, das Porträt der Tante, und das von Wassilissa. Diese Zeichnung haben Sie für Wjerotschka gemacht. Und wissen Sie noch, wie Sie uns damals über das Wasser trugen? Ich saß auf Ihrem Arme, und Wjerotschka auf Ihrer Schulter!?«

      »Auch das weißt du noch?« fragte die Tante, die ihr aufmerksam zuhörte. »Schäm’ dich doch, so zu prahlen! Das hat doch Wjerotschka neulich erzählt, und du gibst es jetzt als deine Erinnerung aus! Wjera weiß ja noch einiges, viel ist es auch nicht . . .«

      »Hier – sehen Sie, wie ich jetzt zeichnen kann!« sagte Marsinka und zeigte ihm ein Blatt, auf dem ein Blumenstrauß gezeichnet war.

      »Ganz vortrefflich – bravo, Schwesterchen! Nach der Natur?«

      »Ja, nach der Natur. Ich kann auch Blumen aus Wachs modellieren!«

      »Treibst du auch Musik?«

      »Ja, ich spiele Klavier.«

      »Und was treibt Wjerotschka – zeichnet sie auch? Spielt sie?«

      Marsinka schüttelte verneinend den Kopf.

      »Nein, das macht ihr kein Vergnügen«, sagte sie.

      »Was treibt sie denn sonst? Beschäftigt sie sich mit Handarbeiten?«

      Wiederum schüttelte Marsinka den Kopf.

      »Liest