Doch ihm blieb keine Zeit, sich darüber lange Gedanken zu machen. Keuchend erreichte er den oberen Punkt des Buckels. Vom Wilddieb war nichts mehr zu sehen. In einer Entfernung von etwa dreihundert Metern stand die Almhütte. Die Tür war einen Spaltbreit offen.
Der Jäger stieg vom Buckl aus den schrägen Wiesenhang hinunter und langte wenig später an der Hütte an. Kräftig klopfte er an das Holz. Schlurfende Schritte näherten sich. Die Tür wurde weit aufgerissen. Ebenhecht blickte in das von Runzeln durchzogene Gesicht der Almhüterin, in dem besonders die vorstehenden Backenknochen auffielen.
»Grüß dich, Sennermoidl!«, sagte der Weidmann und schnaufte immer noch heftig. »Du müsstest eigentlich das Bürschl gesehen haben, das eben an der Alm vorbeigelaufen ist.«
»Dalkerte Red«, keifte die Alte. »Wie soll ich ein Bürschl gesehen haben, wenn ich drinnen in der Stube einen Kupferkessel gescheuert hab? Kann ich gar durch die Wänd schauen?« Die flinken gelblichen Augen wichen dem Blick des Jägers aus.
Dieser beugte sich vor und sah in die Stube hinein. Auf dem Tisch entdeckte er einen Kupferkessel und daneben eine Dose mit Scheuerpulver. Die Aussage der Moidl stimmte also. Aber die unruhigen Augen der Frau machten ihn stutzig.
Scheinbar gelassen sagte er: »Dass du dir einen Haufen Ärger einhandelst, Moidl, wenn du das Wildererbürschl versteckst, ist dir hoffentlich klar.«
»Auf was für Ideen du kommst, Jäger«, murrte die Sennerin und kehrte zurück zum Tisch in der Hütte.
»Für einen langen Schwatz fehlt mir die Zeit. Ich muss arbeiten.« Heftig polierte sie mit einem Lappen das Kupfer.
»Lass dich net aufhalten«, sagte der Weidmann und trat ebenfalls in das Hütteninnere. »Wirst wohl nix dagegen haben, dass ich mich in deinem Stüberl ein bissel umseh?«
Die Hand mit dem Putzlappen hielt inne. »Wer gibt dir das Recht dazu, Jäger?«, würgte sie hervor. Ihre Stimme zitterte.
»Das Recht nehm ich mir einfach«, erklärte Ebenhecht und machte schmale Augen. Ihm war die Angst der Sennerin nicht entgangen. Er war auf der richtigen Spur.
Seine Blicke flogen in dem nicht sehr großen Raum herum. Als Versteck bot sich nur die Liegestatt an, unter die ein Mann bequem kriechen konnte. Er richtete den Lauf seiner Waffe in diese Richtung. Hinter seinem Rücken hörte er das erregte Schnaufen der Almhüterin.
»Komm unter dem Bett hervor, Spitzbub«, rief er scharf. »Lass dir aber keine Dummheiten einfallen, sonst hast ein Loch im Fell.«
Ein paar Sekunden lang war es still in der Hütte. Dann vernahm er scharrende Geräusche. Ein Kopf tauchte am Bettrand auf. Eine schlanke Burschengestalt schob sich hinterher. Der Wilddieb richtete sich auf und streckte dem Forstmann verkniffen grinsend das Gewehr entgegen.
»Ah, der Leitner-Pauli«, schmunzelte Ebenhecht. »Man trifft halt allweil die gleichen Früchterl bei der Wildräuberei. Für deinen Pirschgang neulich steht der Richterspruch noch aus. Aber jetzt kommt dein heutiger Versuch der Wilddieberei hinzu. Da brauchst vom Richter keine Milde erwarten. Du landest im Loch.«
Die Sennerin näherte sich und fuchtelte erregt mit den Armen in der Luft herum. »Zieh mich bitt schön net in die Sache mit hinein, Jäger«, flehte sie. »Der Pauli ist ein weitschichtiger Verwandter, drum hab ich ihm geholfen. Obwohl er’s net wert ist, der Nixnutz.«
»Schon gut, Moidl«, beschwichtigte sie der Jäger. »Ich hab schon vergessen, dass er unter deiner Bettlade gelegen hat.« Darauf wandte er sich an den Burschen. »Komm, Pauli. Wir steigen bergab.«
Seite an Seite schritten die beiden ungleichen Männer über die Almmatten und näherten sich der Waldung. Der Zwanzigjährige war sehr nachdenklich, wie Ebenhecht aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie hatten kaum den Bergwald betreten, da blieb Pauli stehen und sah den Forstmann eine Weile stumm an.
»Ich pack aus, Jäger«, sagte er dumpf. »Zu schwer drückt mich seit Wochen, was ich weiß.«
»Lass hören, Pauli«, sagte Ebenhecht ruhig.
»Mir ist bekannt, wer den Neudecker-Ludl umgebracht hat.«
Der Ältere atmete schwer. »Red, Pauli«, stieß er hervor.
»An den Anschlägen auf dem Mangoldhof waren der Ludl, der Fuhrmann Hopf und ich beteiligt. Der Ludl und der Hopf wollten dem Severin heimzahlen, dass er sie bei dir verpfiffen hat.«
Verblüfft hob Ebenhecht die Augenbrauen. »Aber vom Severin hab ich net das Geringste erfahren. Du warst es, Pauli, der zuerst gebeichtet und dann widerrufen hat.«
Der Bursche senkte beschämt den Kopf und nickte. »Das haben der Ludl und der Hopf net gewusst. Zu meinem Glück.«
»Erzähl weiter.«
»Der Ludl hat die Kuh vom Mangold vergiftet, und ich hab den Heustadel angezündet. Der Hopf aber ist auf die Idee gekommen, aus dem Landauer den Radbolzen herauszuziehen und gegen einen hölzernen auszutauschen. Er selber hat die Tat auch ausgeführt.« Pauli suchte vergeblich ein Tuch in sämtlichen Taschen und wischte sich dann mit dem Joppenärmel den Schweiß von der Stirn.
»Weiter, Pauli!«, drängte Ebenhecht.
»Wie wir wieder einmal im Haus vom Fuhrmann Hopf beisammengesessen waren, hat der Ludl wie beiläufig erwähnt, dass das Kuhvergiften und Heustadelanzünden eigentlich Bagatellfälle wären gegen das Herausziehen eines Radbolzens. So was könnte man auch Mordversuch nennen. Ich war über solche Worte genauso erstaunt wie der Hopf. Schließlich haben wir doch alle drei unter einer Decke gesteckt.«
Der Jäger stieß einen Pfiff aus. »Aha! Der Ludl wollte den Hopf unter Druck setzen.«
»Regelrecht erpresst hat er ihn«, stieß Pauli hervor. »Der Hopf hätte das meiste Geld und könnte leicht ein paar Tausender springen lassen. Ich war dagegen, weil es doch allen an den Kragen gegangen wär, wenn der Ludl die Bolzengeschichte aufgedeckt hätte.«
»Wie hat sich der Hopf verhalten?«
»Erst war er vor Wut außer sich. Aber der Ludl ist hartnäckig geblieben. Da hat der Fuhrmann versprochen, Geld herauszurücken.«
»Der Hopf also hat den Neudecker-Ludl erschossen«, murmelte der Jäger. »Wie aber ist ihm das zu beweisen?«
Der Zwanzigjährige nahm sein Hütl ab und fuhr sich durch die wirren dunklen Locken. »An dem Tag, an dem du den Toten gefunden hast, war der Hopf bei mir. Er hat wohl befürchtet, ich könnt gleich zum Gendarm rennen. Er hat geschluchzt und von seiner Verzweiflung geredet, in die ihn der Ludl getrieben hätt. Danach hat er mir ein Bündel Geldscheine auf den Tisch gelegt und mir den doppelten Preis für jedes Stück Wild versprochen, das ich ihm künftig ins Haus bringe. Verdacht könnt keiner auf ihn fallen, weil er den Ludl mit der Büchs vom Severin erschossen hätt.«
»Er hat das Gewehrversteck gekannt?«
»Jeder von uns hat gewusst, wo es zu finden ist.«
Die Züge des Jägers wirkten gelöst, zeigten einen Anflug von Freude. »Jetzt erlangt der Mangold-Severin seine Freiheit wieder, die er wegen eines Lumpen eingebüßt hat«, murmelte er. »Und du hast gut daran getan, zu reden, Pauli. Dein Leben wäre keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Bei nächster Gelegenheit hätt der Hopf den Mitwisser aus dem Weg geräumt. Vorwärts, wir haben’s eilig.«
*
Drei Tage leugnete der Fuhrmann Hopf, dann brach er zusammen und legte ein umfassendes Geständnis ab.
Es war ein trüber, regnerischer Morgen, als Severin das Gefängnis verließ. Doch in ihm war es hell, sonnig. Die Straßen der Kreisstadt wiesen große Pfützen auf, in denen sich der graue Himmel widerspiegelte. Mit aufgespannten Regenschirmen eilten die Passanten hastig ihren Zielen zu.
Der hochgewachsene Blonde summte eine Melodie. Die auf ihn herniederprasselnden Tropfen kümmerten ihn nicht. Er schlug den Kragen seiner Joppe hoch und sprang mitten in eine Pfütze, dass das Wasser hoch aufspritzte. Eine junge Frau stieß einen Schrei aus und machte einen großen Bogen