Arme und ließ sie wieder fallen. »Bis zur Stund hab ich von einer Feindschaft nix gewusst«, erwiderte er. »Wir sind vor etlichen Wochen einmal aneinandergeraten, haben uns aber im Guten getrennt.«
Xaver steckte die Pfeife in Brand. »Beim Ludl ist wohl ein Stachel zurückgeblieben«, meinte er. Gleich darauf murmelte er eine Verwünschung, denn die Glut seiner Pfeife war wieder erloschen. Er kniff ein Auge zu. »Du hast allweil herumgerätselt, wer hinter den hundsgemeinen Anschlägen stecken könnt, die dir und deiner Familie das Leben schwer gemacht haben. Könnt’s net sein …«
»Grad im Moment ist mir der gleiche Gedanke durch den Kopf geschossen«, fiel ihm Severin ins Wort. »Der Neudecker-Ludl mag ein närrischer Bockschädel sein, aber solche Schuftigkeiten trau ich ihm net zu.«
Achselzuckend trank der Schnitzbaumer sein Bier aus, rief die Kellnerin und bezahlte, was an diesem Tisch getrunken worden war. Gemeinsam verließen die beiden Freunde den Bräugarten. Auf der vom trüben Licht der Laternen erhellten Gasse schüttelten sie sich die Hand.
»An deiner Stell tät ich dem Gendarm doch einen Wink geben, dass er sich den Ludl ein bissel genauer anschaut«, riet Xaver. »Schaden kann’s bestimmt net.«
»Das ist wahr«, stimmte Severin zu. »Dann dank ich dir halt noch, dass du dich beim Streit sofort auf meine Seite gestellt hast, Xaver.«
Grinsend sagte der Schnitzbaumer: »Zum Fäusteschwingen ist’s ja net gekommen. Ich hätt nix dagegen gehabt, denn den Ludl hab ich noch nie leiden mögen. Gut Nacht, Severin.«
»Gut Nacht, Xaver. Grüß mir dein Weib.«
*
Mit der Geschicklichkeit des erfahrenen Forstmannes im Bergrevier kletterte der Jäger Ebenhecht den ziemlich steilen Felshang abwärts. Er hatte es eilig, denn in der Waldung waren drei Schüsse gefallen. Zuerst einer. Vier Minuten später zwei weitere.
»Wahrscheinlich komm ich zu spät«, murmelte er grimmig. »Aber ich kann schließlich net tun, als hätt ich nix gehört. Vielleicht läuft mir der Spitzbub doch noch in die Arme.«
Er hastete das Latschenfeld hinunter, auf dem vereinzelt sturmzerzauste Krüppelkiefern standen. Der Waldgürtel schien vor ihm zurückzuweichen. Doch diesen Eindruck vermittelte ihm nur seine brennende Ungeduld, mit der er den hoch aufragenden Tannen und Fichten entgegenstrebte. Mit dicken Schweißperlen auf der von Wind und Wetter gegerbten Stirn erreichte er den Saum des Bergwalds. Hastig riss er den Stutzen vom Rücken und entsicherte ihn. Dann drang er ein in den Schatten der breitästigen Kronen.
Seiner Schätzung nach waren die Schüsse nicht weit vom Serpentinenpfad abgegeben worden. Gebückt schlug er diese Richtung ein, wobei seine scharfen Grauaugen ständig nach allen Seiten wanderten. Eine Viertelstunde später war er am Pfad angelangt. Am Wegrand entdeckte er eine Schweißspur, die zur Jungfichtenschonung hinführte. Ebenhechts Augen wurden schmal.
Im Moos lag ein junges schlankes Reh. Der Jäger sprang hinter den Stamm einer Weißtanne. Wo das geschossene Wild lag, konnte auch der Schütze nicht fern sein. Erstaunlich war freilich, dass dieser mitsamt dem toten Wild nicht längst das Weite gesucht hatte.
Nur eine Minute verharrte Ebenhecht hinter der Tanne, dann hielt er es nicht mehr aus. Er trat auf das Reh zu. Sein Blick glitt am Saum der Schonung entlang. Auf einem schmalen Streifen spross kniehohes Gras aus dem Waldboden. Ihm verschlug es den Atem.
In diesem Grasstreifen lag eine reglose Gestalt.
Der Forstmann stürmte darauf zu und kniete nieder. »Gütiger Himmel«, würgte er hervor. »Der Ludl!«
Die glasigen Augen schienen zu den Wipfeln der Baumriesen hinaufzustarren. Traurig hingen die Enden des sonst so keck aufgezwirbelten Schnurrbarts nach unten. Ebenhecht schob die Joppe des Toten beiseite. Die linke Brustseite des grünen Leinenhemds wies zwei große rote Flecken auf. Ebenhecht biss sich auf die Unterlippe.
»Der erste Schuss hat also dem Reh gegolten und die andern beiden dem Schützen«, überlegte er. »Das kann ich mir momentan net zusammenreimen.«
Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine tiefe Falte eingegraben, als er sich erhob. Nach dem Mörder zu suchen, hatte keinen Sinn. Dieser war längst über alle Berge. Da fiel der Blick des Jägers auf einen glänzenden Gegenstand, der von einem Sonnenstrahl getroffen wurde. Wenig später hielt Ebenhecht ein Jagdgewehr in den Händen, das nach seiner Meinung dem Ludl gehört hatte. Doch seine Verwunderung wuchs ins Unermessliche, als er nicht weit davon entfernt eine zweite Schusswaffe entdeckte.
»Das kann nur die Büchs vom Mörder sein«, murmelte er fassungslos. »Aber warum hat dieser seinen Schießprügel liegen gelassen?« Ebenhecht verstand die Welt nicht mehr. So unsinnig handelte kein Verbrecher, der seine fünf Sinne beisammen hatte.
»Was sich auch hier abgespielt hat, das geht über meinen Horizont«, stellte er fest. »Meines Wissens halten sich Kriminaler aus der Kreisstadt in unserem Dorf auf. Wegen der Vorfälle auf dem Mangoldhof. Sie sollen herausfinden, was sich hier im Bergwald zugetragen hat.«
Er bedeckte das Gesicht des Toten mit dessen Hut, schulterte die beiden aufgefundenen Jagdgewehre und stapfte im Eilschritt durch die Waldung.
Die Sonne rückte auf den Zenit zu, als er am Fuß des Bergriesen anlangte. Schweißüberströmt stand er schließlich vor der Tür der Gendarmeriestation. Kopfschüttelnd hörte sich der Dorfpolizist die Schilderung des Jägers an, der sich fortwährend Gesicht und Nacken mit einem riesigen Taschentuch abrieb.
»Den Ludl hat’s also erwischt. Seine Jagdleidenschaft war ja dorfbekannt. Aber das mit den zwei Gewehren ist schon eine ganz verwunderliche Geschichte.« Entschlossen setzte er seine Dienstmütze auf. »Darüber kann sich Inspektor Wenzel den Kopf zerbrechen. Der ist grad mit seinen Beamten bei den Mangolds, weil der Knecht auf der Wiese ein Feuerzeug gefunden hat, das keinem von der Familie gehört. Komm mit, Ebenhecht! Ich bin gespannt wie ein Kälberstrick, was Wenzel zu dieser Neuigkeit sagt.«
Der Bauer hatte die Kriminalbeamten zum Mittagstisch eingeladen. Nach einigem Zögern hatten sie der freundlichen Aufforderung nachgegeben, und so saßen alle einträchtig in der Essstube bei vollen Tellern, als der Gendarm, zusammen mit dem Jäger, auf dem Hof eintraf. Polizist Vogelrieder salutierte in strammer Haltung vor dem Inspektor und entschuldigte sich mehrmals, dass er mitten in die Mahlzeit hineingeplatzt wäre.
»Aber die Sache duldet keinen Aufschub, Herr Inspektor. Droben im Bergwald liegt ein Toter. Es handelt sich um den Bergführer Ludl Neudecker.«
Etliche Messer und Gabeln fielen klirrend auf die Tischplatte. Sowohl die Bauernfamilie als auch die Bediensteten starrten den Sprecher mit aufgerissenen Mündern an.
»Der Ludl?«, kam es tonlos von Severins Lippen. »Wer kann es denn auf sein Leben abgesehen haben?«
Der Jäger, der neben dem Gendarm immer noch an der Tür stand, räusperte sich.
»Vielleicht hat gar ein eifersüchtiger Sommerfrischler die Hand im Spiel gehabt«, gab er zu bedenken. »Der Ludl hat es mit den Urlauberinnen arg getrieben. Aus diesem Grund hat ihn auch meine Tochter verlassen.«
Vogelrieder stieß den Jäger leicht mit dem Ellbogen an. »Erzähl dem Herrn Inspektor, was du droben vorgefunden hast, Ebenhecht.«
Der grau melierte Waidmann nickte. Bereitwillig beschrieb er das schaurige Erlebnis des Vormittags. Sämtliche Augenpaare hingen an seinen Lippen. Ebenhecht nahm die beiden Gewehre vom Rücken und streckte sie dem Inspektor entgegen. Doch bevor der Beamte danach fassen konnte, war Severin aufgesprungen, um den Tisch herumgeeilt und hatte eines der Gewehre gepackt. Nur einen kurzen prüfenden Blick warf er darauf.
»Diese Büchs gehört meinem Vater«, sagte er in ruhigem Ton.
»Was?«, schrie Vogelrieder. »Wie kommt die Büchs auf den Berg?«
Der alte Mangold hatte sich weit vorgebeugt und nickte. »Das ist mein Eigentum«, bestätigte er. Scharf schaute er den Sohn an. »Jetzt möcht ich aber auch gern wissen, wie der Jäger das Gewehr auf dem Horn hat finden können?«
Der