Anne Altenried

Wilderer und Jäger Staffel 1


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und ließ ihre Wut gleich an einem Unbeteiligten aus. Während sie an der blutenden Wunde lutschte, klagte sie laut: »Leo ist nie da, wenn man ihn dringend braucht, Vater. Mich versuchst wie eine Gefangene zu halten, indes du bei Leo mehr als nur zwei Augen zudrückst.«

      Der Söllner-Bauer maß seine eifernde Tochter mit einem ärgerlichen Blick. Zwischen Manns- und Weiberleuten, so meinte er bei sich, gab es mächtige Unterschiede. Einer davon bestand darin, daß letztere brav Haus und Hof zu hüten hatten. Männer dagegen hatten mehr Freiheit. Sie vergaben sich nichts, wenn sie viel unterwegs waren, mal im Wirtshaus hockten oder sich sonst das eh so harte Leben ein bißchen verschönten.

      »Hetz net schon wieder gegen deinen Bruder!« befahl er nun und sah sie mit Strenge an. »Mir wär lieber, du würdest dein Temperament zügeln oder nur dort einsetzen, wo’s notwendig erscheint.«

      »Zum Beispiel?« fragte Anita, schmollend die Lippen verziehend.

      »Hier im Haus, wo eure Mutter immer spürbarer fehlt!« antwortete er mit Donnerstimme.

      »Das versuch ich ja, aber ohne jede Anerkennung von eurer Seite«, erwiderte Anita. Ihre schwarzen Augen, die zornig funkelten, blickten alles andere als in kindlicher Zuneigung auf den Vater.

      »Leo ist vier Jahre älter als du«, erinnerte der Söllner.

      »Aber seit gestern nachmittag net daheim und somit zur Zeit ganz gewiß net auf dem rechten Weg!« trumpfte sie auf.

      »Wie soll ich das verstehen, Anita?«

      »So, wie’s gesagt worden ist. Leo macht schon lang manche Nacht zum Tag. Doch ich könnt es beschwören, daß er sich dann net mit einem Madl trifft. Von den drei alten Flinten, die droben im Flur hängen, riecht eine zu oft nach Pulverdampf. Hin und wieder fehlt sie auch. Hast es noch nie bemerkt, was sich Leo in der letzten Zeit alles gekauft hat, Vater?«

      »Gekauft?« wiederholte der Söllner perplex. Sein kantiges Gesicht verfärbte sich, als er an seine mißliche finanzielle Lage dachte.

      »Net, daß ich meinen eigenen Bruder verraten würd«, fuhr Anita fort, »aber es sollt schleunigst ein End haben mit seinem heimlichen Treiben. Wir sind zwar arm geworden, doch unser Stolz ist uns geblieben. Ich möcht’s net erleben, daß man mich eines Tages Leos wegen schief ansieht oder gar verachtet, Vater.«

      »Das möcht ich auch net. Aber was tut er deiner Meinung nach, während ich ihn schlafend im Bett glaub?«

      »Danach fragst ihn am besten selber, sonst heißt’s nachher, daß ich petz oder mal wieder ’s Gras wachsen hör, Vater.« Anita schwieg und zerrte nervös an dem Silberkettchen, das sie um den Hals hängen hatte.

      Der Söllner-Bauer brütete schweigend vor sich hin. Er dachte daran, wie stolz er einst auf seinen Sohn und Erben gewesen war. Leider hatte dieser keine der heimlichen Hoffnungen erfüllt und war inzwischen zu einem Sorgenkind geworden, das längst hätte erwachsen sein müssen.

      »Wo mag er zur Zeit stecken, Anita?« fragte er nach einer Weile und sah sie an, als erwarte er von ihr ein Wunder.

      »Für einen Besuch erscheint mir Leos Abwesenheit zu lang. Zudem hängt sein Sonntagszeug noch im Schrank – aber die eine Flinte fehlt wieder. Ich fürcht, Leo ist… Nun, er würd sie kaum brauchen, wenn er am hellen Tag und in redlicher Absicht unterwegs wär, Vater.«

      Der Söllner nickte und sah äußerst besorgt aus. Zorn durchglühte ihn, als er sich vorstellte, sein Sohn könnte Schande über die Familie bringen.

      »Ist’s wahr, was ich als Vermutung net amal zu End denken will, so bringe ich ihn um!« stieß er plötzlich hervor.

      Anita erschrak bis ins Herz hinein. Sie kannte den Jähzorn ihres Vaters und auch die oft schrecklichen Folgen. Da sie nicht daran zweifelte, daß er seine Drohung wahr machen würde, bekam sie es nun mit der Angst zu tun. Wenngleich sie auch oft über ihren Bruder klagte oder auf ihn schimpfte, so hatte sie ihn dennoch gern und sorgte sich jetzt nur noch mehr. Um etwas abzuschwächen, sagte sie: »Solang wir net vor vollendeten Tatsachen stehen, Vater, dürfen wir net zu schlecht von Leo denken. Wir müssen zu ihm halten. Streiten wir uns vor den Leuten, ist’s mit unserem bissel Ansehen ebenso aus und vorbei wie mit einer etwaigen günstigen Heirat für mich.«

      »Schwatz net so blöd daher, sondern schaff mir Leo zurück!« fuhr der Söllner sie an. »Du kennst seine krummen Wege gewiß besser als ich!«

      Anita nickte unwillkürlich und ließ einen schweren Seufzer hören. Ihren Verdacht mochte sie nicht laut werden lassen. Was sie anfangs aufregend und abenteuerlich empfunden hatte, flößte ihr längst Angst ein. Zum neuen, erschreckenden Bild von Leo fügte sich eine ungute Wahrnehmung zur anderen, wie Steinchen eines Mosaiks. Leo verfügte über viel Bargeld und schien es zum Fenster hinauszuwerfen. Er hatte sich charakterlich zu seinem Nachteil verändert.

      Nichts soll die Ehre der Söllner trüben! so dachte Anita, während sie mit gesenktem Haupt zur Tür ging. Sie ahnte nicht, wie bald schon auch sie einen Weg einschlagen würde, der dem von Leo ähnelte.

      Zwanzig Minuten später verließ sie eiligst den am Hang gelegenen Hof. Sie hatte keinen Blick für das Haus, das längst einer gründlichen Renovierung bedurft hätte.

      Es ging auf den Abend zu. Nebelschleier lagen über dem Tal und den Senken. Die Bergspitzen waren durch Wolken wie mit einer Riesenschere verkürzt.

      Anita lächelte etwas schadenfroh, als sie weiter unten drei Männer sah, die sich bemühten, den ausgebrochenen Stier des Bertrammer wieder hinter das Gatter zu bringen. Sie kehrte ihnen den Rücken zu, um den Weg am Kar vorbei zu wählen. Leo pflegte selten vom Dorf her heimzukommen. Schlich er sich nächtlicherweise auf den Hof zurück, geschah es von der Bergseite her.

      Gedämpft tönten die beiden Glocken der Dorfkirche herauf. Anita hörte keine Mahnung heraus. Sie ging weiter bergauf, als hätte sie ein bestimmtes Ziel. Es wurde dämmrig; für eine ausgedehnte Wanderung war es zu spät.

      Aus der nahen Schlucht klang das Tosen des Wildbaches. Es paßte zu den drängenden Stimmen in Anitas Brust. Obwohl sie anderen gegenüber stets Leos Partei zu ergreifen pflegte, wollte sie ihm heute noch so gründlich die Meinung sagen, daß ihm das übliche Lachen verging.

      Je höher sie kam, desto verlassener und einsamer fühlte sie sich. Doch sie gab solchen sentimentalen Gefühlen nicht nach, setzte mit einem Sprung über das Bachbett einer Wiese und strebte dem Hohlweg zu.

      Dann geschah etwas Sonderbares. Durch die Schatten der Dämmerung schwankten Lichter. Es waren nur armselige Lichter, die von knirschenden Schritten und herabrollenden Steinen begleitet wurden.

      Anita blieb abrupt stehen. Sie fühlte sich auf die Stelle gebannt und das Herz rasend hämmern. Die Lichter kamen näher, beleuchteten zwei Männer, deren Köpfe leicht geneigt waren. Anita erkannte den bärtigen Senn von der am höchsten gelegenen Alm und den Bertrammer-

      Hannes.

      Sie rührte sich nicht. Ihr war, als käme mit den beiden ein Unheil auf sie zu, dem sie nicht entrinnen konnte. Nun wurde auch deutlich, daß die Männer eine Tragbahre schwer zwischen sich schleppten. Unter der sich wölbenden Decke ragte eine Hand hervor. Eine Hand mit silbern schimmerndem Ring!

      Anita glaubte aufzuschreien und gab doch nur einen erstickten Laut von sich. Erst jetzt wurde sie von den Männern bemerkt.

      »Jesus – das Madl!« stieß der Senn betroffen hervor.

      »Wie hat man dich ganz allein heraufschicken können, Anita!« erregte sich Hannes Bertrammer laut und entrüstet.

      Das gab ihr die Gewißheit, eine schreckliche, nicht faßbare Gewißheit. Es rann ihr eisig über den Rücken; der Schlag ihres Herzens wurde kurz holprig. Sie vermochte sich noch immer nicht zu rühren, starrte auf die Tragbahre nieder, die inzwischen vor ihr abgesetzt worden war.

      »Wir haben’s net früher geschafft«, erklärte der Senn, während er sich mit dem Sacktuch über die Stirn tupfte.

      »Dieser neue Jager ist eine Niete!« behauptete Hannes Bertrammer,