Leo ist von demjenigen getötet worden, der sich von ihm durchschaut gefühlt oder aber auch durch ihn ein großes Hindernis gesehen hat.«
Anita starrte sie an, hatte aber weder den Mut noch die Kraft, ihr zu widersprechen. Sie nahm mit zitternder Hand das silberne Kettchen zurück und dankte nicht einmal.
»Gott schütze dich!« sagte Apollonia leise. »Er möge dir einen klaren Blick für das wirklich Geschehene geben!«
Da warf sich Anita aufschluchzend herum und rannte den Pfad hinunter. Apollonia sorgte sich nicht um sie. Sie lächelte vor sich hin und nickte dem Hund zu, als könnte dieser alles besser verstehen als das davonrennende Madl.
Anita Söllner war von Apollonias Worten nicht unbeeindruckt geblieben. Sie dachte tatsächlich in Ruhe noch einmal über alles nach und begann an der Schuld des Jägers zu zweifeln. Zu ihr war er freundlich gewesen – aber nicht so, als geschähe es aus einem schlechten Gewissen heraus. Auch der alten Apollonia tat Anita im stillen Abbitte, denn diese hatte ihr das Silberketterl zurückgegeben, ohne eine Frage zu stellen oder gar Vorwürfe zu machen.
Der Söllner-Bauer wunderte sich, weil seine Tochter oft so nachdenklich war und immer seltener widersprach. Doch als er eines Tages zufällig mitbekam, daß sie den Bertrammer-Hannes absichtlich übersah und dabei die Stirn furchte, ermahnte er sie mit den Worten: »Übertreib deine Abneigung gegen unseren Nachbarn net zu sehr, Anita. Es ist schließlich kein Verbrechen, wenn er ein so hübsches Madl wie dich zum Weib nehmen möcht.«
»Ich trau ihm so viel Schlechtes zu, daß mir manchmal vor ihm graut, Vater!« stieß sie hervor und erzählte kurz, wie zornig und offensichtlich ungerecht sie ihn vor kurzem erlebt hatte.
Der Söllner erschrak im stillen, und zwar aus verschiedenen Gründen. Da er jedoch mit dem Bertrammer nachbarlichen Frieden haben wollte, nahm er sich vor, einmal offen mit Hannes zu reden.
Die Gelegenheit dazu ergab sich schon drei Tage später, als der Bertrammer beim Dorfschmied war und der Söllner hinzukam.
»Na, sieht man dich auch amal wieder?« fragte der Bertrammer nach einer Begrüßung, die ziemlich kühl ausgefallen war.
»Hab halt mehr zu tun jetzt – wo mein Bub nimmer da ist«, gab der Söllner zur Antwort.
Der Schmied sah verwundert von einem zum anderen. Dann griff er in die Höhe und zog den Blasebalg nieder.
»Also – überleg dir die Sach, Vitus«, sagte der Bertrammer überaus freundlich zu ihm und wollte die Schmiede verlassen.
»Wart, ich komm mit.« Der Söllner vergaß sein Anliegen beim Schmied. Eiligst folgte er Hannes Bertrammer, der keinen Schritt langsamer ging.
»Hannes…«, begann er, »ich möcht unsere gute Nachbarschaft durch nichts getrübt sehen.«
»Du hast Anita gegen mich aufgehetzt!« warf der Bertrammer ihm vor.
»Ach wo! Das bildest dir nur ein. Anita hat dir nie irgendwelche Hoffnungen gemacht. Und jetzt, wo sie diesen Lukas liebgewonnen hat, solltest das respektieren.«
Der Bertrammer blieb ruckartig stehen. Haß glühte in seinen Augen, als er den Söllner ansah. »Lukas – Lukas!« äffte er ihn nach. »Wenn ich das schon hör! Jeder X-Beliebige scheint dir als Schwiegersohn willkommener zu sein als ich. Net amal meine finanzielle Unterstützung hast angenommen. Statt dessen hast lieber den Wald verkauft, der meinen Besitz so schön hätt abrunden können!«
Der Söllner setzte schon zu einer Verteidigung an, als sein Blick starr wurde und ihm das Wort in der Kehle steckenblieb. Hannes Bertrammer hatte den linken Arm erhoben, um sich über das Haar zu streichen. Den Ärmel seines braunen Jankers aber zierte ein Knopf, der nicht zum vorderen Verschluß paßte. Es war ein selten schöner Hornknopf – genauso gefärbt, doch kleiner als derjenige, der nach dem Kampf mit dem Unbekannten zurückgeblieben war…
Dem Söllner wurde es jäh siedend heiß. Es war, als würden die verheilten Kratzer und Prellungen aufs neue schmerzen. Er stand da, starrte und schluckte krampfhaft.
Hannes Bertrammer ließ den Arm sinken und lächelte unsicher. Er konnte sich nicht vorstellen, was es da an seinem Jackenärmel Interessantes zu sehen gab.
»Du warst nie wirklich mein Freund, Söllner«, sagte er aus einem jähen bösen Impuls heraus.
»Warst du es?« fragte der Bauer ernst.
Der Bertrammer wurde noch unsicherer. Hat er einen Verdacht, überlegte er, während er den Nachbarn mißtrauisch musterte. Bevor er einen solchen ausspricht, dachte Hannes weiter, sollt man ihn für immer zum Schweigen bringen. Dann ist Anita mutterseelenallein und braucht wirklich meinen Rat und meine Hilf. Das Stückerl Wald ist mir leider verlorengegangen, aber Anita noch net! Wenn ich mich beeil, ist es für diesen Lukas zu spät, falls er überhaupt jemals wieder hier auftaucht…
»Anita wird niemals dein Weib werden. Damit mußt du dich endlich abfinden, Hannes«, sagte der Söllner.
Der Bertrammer grinste hämisch. Seine Pläne wurden aus Haß und Gier geboren, aber auch aus dem Verlangen, den eigenen Willen stets siegreich durchzusetzen.
»Ich krieg das Madl. Ich schwöre es dir!« sagte er, maß ihn von Kopf bis Fuß und fügte verächtlich hinzu: »Du bist net mehr der Jüngste, Söllner. Die Garantie für deine Lebenszeit ist fast abgelaufen. Anita wird erleichtert und dankbar sein, wenn ich ihr eines Tages helf, die Trauer um Bruder und Vater zu tragen.«
Der Söllner schwieg vor Entsetzen. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen. Gleichzeitig war ihm jedoch schmerzlich bewußt, das beweisen zu müssen, was er in Gedanken schon ahnte.
»Gelt, jetzt denkst a bissel anders?« fragte der Bertrammer mit einem Frohlocken in der Stimme. »Anita wird die gute Nachbarschaft eines Tages anerkennen. Grüß sie ganz herzlich von mir. Richt ihr aus, daß ich an meinem Geburtstag so mit ihr tanzen werd, daß sie jenen Burschen vergißt, dem sie noch immer wie einem Phantom nachzurennen scheint.«
Furcht und Grauen versiegelten dem Söllner die Lippen. Plötzlich fror er wie an einem frostigen Wintertag. Hannes Bertrammer lächelte noch hämischer.
»Pfüat di, Schwiergervater in spe!« grüßte er höhnisch und ging davon.
*
Der Söllner-Bauer hatte sorgenschwere Stunden und in den Nächten quälende Träume. Er schrieb seinen Letzten Willen nieder und fügte den Nachsatz an: »Falls ich auf ähnlich rätselhafte Weis wie mein Sohn zu Tode kommen sollt, bitt ich mit den Untersuchungen in meiner allernächsten Nachbarschaft anzufangen. Der Bertrammer-Hannes ist ein Bauer wie ich, nur reicher und listiger. Er ist kein Jager und geht auch net mit den anderen zur Jagd. Trotzdem hab ich ihn öfter mit einer Flint bergan gehen sehen. Merkwürdig kommt mir das erst heut vor – heut, da ich seit kurzem damit rechnen muß, daß er seine Niederlag bei Anita an mir rächen wird…«
Nun meinte er Vorsorge getroffen zu haben, schloß das Papier sorgfältig ein und trat mit einem Gefühl der Erleichterung ans Fenster.
In der Nacht war der erste Schnee gefallen. Er hatte die Landschaft nur bis zur Hälfte wie in Puderzucker getaucht. Die Sonne schien darauf nieder und ließ die Eiskristalle Juwelen gleich blitzen. Es war ein vertrautes, immer wieder aufs neue zu Herzen gehendes Bild. Beim Bertrammer quoll kein Rauch aus dem Schornstein. Er hatte auch die Heizung auf den modernsten Stand bringen lassen und besaß sogar ein gänzlich gekacheltes Bad.
Während der Söllner noch grübelnd zum Nachbarn hinüberschaute, entdeckte er dessen Magd Leni. Sie stand im Garten über dem Grünkohlbeet gebückt und pflückte emsig die krausen Blätter.
Der Söllner zog seinen Anorak an und begab sich ins Freie. Als würde er die Grenze seines Anwesens mit Schritten abmessen, so ging er dahin – geradewegs auf die Magd zu. Er hielt Leni für ziemlich naiv und leicht beeindruckbar. Um sie aber nicht zu erschrecken, hüstelte er jetzt.
Sofort richtete sie sich auf, lächelte jedoch, als sie ihn erkannte. Ihr Gesicht wurde feuerrot, als der Söllner sie mit den Worten lobte: »Du bist ein fleißiges Madl,