Frau Christines Hände beginnen zu zittern.
Daß er von Magda sprechen würde, nach der sie sich in Sehnsucht fast verzehrt, hat sie nicht erwartet.
Sie nimmt eine abwehrende Haltung an und schüttelt verneinend den Kopf.
Doktor Urban sieht, daß ihr die Tränen nahe sind, und weiß ganz richtig zu deuten, was in ihrem Innern vor sich geht.
»Jetzt halten Sie mich bestimmt für einen taktlosen Menschen, nicht wahr? Was ich Ihnen erzählen will, hängt aber so eng mit Magda, Ihrem Liebling, zusammen, daß ich an die alte Wunde rühren muß, ob ich will oder nicht.«
»Sie – Sie wissen etwas über Magda?« stößt sie erregt hervor. Sie sinkt in sich zusammen und bittet flehentlich: »Spannen Sie mich nicht auf die Folter, Doktor! Ich habe in letzter Zeit so viel Leid ertragen müssen, daß ich selbst eine neue Schreckensnachricht gefaßt aufnehmen werden.«
Doktor Urbans Lächeln vertieft sich. »Muß es durchaus eine Schreckensnachricht sein?«
»Herr Doktor!?« Frau Christine kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, sie rinnen ungehemmt über das liebe, gütige Gesicht. »Ist es eine Freude, dann haben Sie erst recht Erbarmen mit mir! Als sie uns und den Birkenhof verließ, da hat sie den Sonnenschein und das Glück mit sich genommen. Seitdem habe ich nur selten gelacht. Also – was ist mit Magda? Will sie wiederkommen? Ist sie gesund, und denkt sie an uns?«
»Ich will Sie heute darüber aufklären, und was ich Ihnen jetzt sage, ist reine Wahrheit. Magda hat mich seinerzeit angefleht, zu jedermann darüber zu schweigen. Allein das Unglück, das Hanno und Sie neuerlich heimgesucht hat, entbindet mich, Ihnen gegenüber wenigstens, zu einem Teil von meinem gegebenen Wort.
Fast zu der gleichen Zeit, da Hanno in seiner Hoffnung getäuscht wurde, durch Aline den Hoferben zu erhalten, ist er durch Magda Vater eines gesunden Jungen geworden. Sie floh seinerzeit aus dem Hause, als sie durch mich die Gewißheit erhielt, daß sie Mutter werden würde. Sie ging, um Aline den Weg zum Herzen ihres Mannes freizumachen.«
Nach dieser Erklärung des Arztes bleibt es still zwischen den beiden alten Leuten.
Frau Christine ist mit einem schwachen Laut zurückgesunken.
Blaß, mit geschlossenen Augen und heftig arbeitender Brust sitzt sie Doktor Urban gegenüber.
»Magda!« flüstert sie. »Mein liebes, kleines Mädel – Mutter? Wie der Herrgott doch alles lenkt! Was wird Hanno sagen, wenn er es erfährt! Und Magda – wieder ist es Magda, die ihm dieses Glück bringt! Magda ist doch die Frau, die ihm bestimmt war!«
Ihre Tränen fließen stärker, die spülen viel Leid hinweg und erleichtern ihr das sorgenvolle Herz.
Plötzlich wird sie wieder lebhaft und bricht in bittere Selbstanklagen aus: »Warum nur mußte damals der unselige Heiratsplan auftauchen? Warum nur mußten die beiden Menschen, die wie für einander geschaffen waren, getrennt werden? Hätte ich mich doch damals diesem Plan widersetzt! – Und Aline, die arme, unglückliche Aline! Auch ihr wäre dann vielleicht manches Herzeleid erspart geblieben.«
Doktor Urban fängt die zitternden Hände der alten Frau ein.
»Weil es noch immer so kommt, wie es kommen muß! Jedem ist sein Weg vom Schicksal vorgezeichnet. Auch Hanno und Magda. Noch darf Hanno nichts von dem Kinde wissen. Wann das geschieht, ist einzig und allein Magdas Angelegenheit. Ich wollte Ihnen mit dieser Mitteilung nur neue Zuversicht ins Herz senken, weil Sie unter den Geschehnissen zu sehr leiden und Gefahr laufen, davon aufgerieben zu werden. Und ich wollte Ihnen damit neue Kraft geben, Hanno über die nächste schwere Zeit hinwegzuhelfen, denn –« Doktor Urban wird wieder sachlich, »– nach menschlichem Ermessen wird Frau Aline den Frühling nicht mehr erleben.«
*
In dem Wohnzimmer sitzt Aline ihrer Schwiegermutter gegenüber und träumt in die herabsinkende Dämmerung hinein. Grübelnder Ernst liegt auf ihrem blassen Antlitz.
Leise klappern die Stricknadeln in Frau Christines nimmermüden Händen, sonst ist wohltuende Ruhe um die beiden Frauen.
»Mutter!«
Die alte Frau erhebt sich sofort und steht schon neben Alines Lehnstuhl. »Ja, Kind?«
»Bitte, Mutter, setz dich etwas näher zu mir und höre mich einmal an: Ich gehe mit einem Gedanken um, der mir Tag und Nacht keine Ruhe läßt. Mit der grausamen Tatsache, daß ich Hanno kein Kind mehr schenken kann, habe ich mich abgefunden. Also werden wir nach Ersatz suchen für das, was der Himmel uns versagt.
Wir werden einen gesunden, kräftigen Jungen zu uns ins Haus nehmen, und Hanno soll lernen, ihm Vater zu sein. Hörst du? Du begibst dich mit ihm in irgendein Kinderheim oder in das Waisenhaus in Freiberg, und von dort bringt ihr mir einen kleinen elternlosen Buben mit.«
Sie hebt beschwichtigend die Hand, als sie sieht, daß Frau Christine sie erregt unterbrechen will, und fährt sogleich fort:
»Meine Sehnsucht nach einem Brüderchen für unsere Christine ist grenzenlos. Ich weiß, daß ich nicht mehr lange leben werde; so will ich wenigstens noch ein kurzes Glück genießen, wenn der Bub auch nicht mein eigenes Fleisch und Blut ist. Nicht wahr, Mutter, du wirst dabei helfen und meinen Wunsch bei Hanno unterstützen?«
Flehend hängen die Augen der jungen Frau an dem Gesicht der Schwiegermutter.
Nachdem Frau Christine sich von ihrem ersten Schreck ein wenig erholt hat, fällt sie der bittenden Schwiegertochter hart ins Wort:
»Nein, Aline – niemals! Auf dem Birkenhof – ein fremdes Kind –?«
Ihre Lippen pressen sich fest aufeinander. Was ihr jetzt auf der Zunge liegt, muß sie gewaltsam unterdrücken. Hannos Kind, sein eigen Fleisch und Blut, irgendwo draußen unter fremden Menschen zu wissen, während ein fremdes Kind hier die Rechte eines Sohnes genösse? – Nein! Das ist unmöglich!
Der Kopf der jungen Frau ist auf die Brust herabgesunken, und unaufhaltsam laufen ihr die Tränen über die schmalen Wangen.
»Und ich glaubte, ihr hättet mich ein wenig liebgewonnen! Also verzeiht ihr mir meine Unfruchtbarkeit doch nicht?« stößt sie unter Schluchzen hervor.
»Aline!« Frau Christine möchte besänftigend über den dunklen Kopf Alines streichen, aber die Arme sind ihr schwer wie Blei.
Sie rafft sich auf, ihre Stimme klingt gequält und unsicher, als sie sagt:
»Das ist es nicht. Ich will das von dir Angeregte nicht ohne weiteres verwerfen, obwohl es viel Schmerzliches für mich hat. Ich werde mich mit Hanno darüber besprechen. Laß mir Zeit; die Sache will wohl überlegt sein.«
Sie sucht krampfhaft nach einer Möglichkeit, Aline hinzuhalten.
»Es liegt ganz in eurer Hand, mich die kurze Zeit, dich ich noch bei euch sein darf, glücklich werden zu lassen«, jammert Aline.
Mit schmerzendem Kopf und blei-schweren Gliedern schleicht Frau Christine im Hause umher.
Als Hanno von einem Gang in das Dorf zurückkommt, fällt ihm das verstörte Aussehen der Mutter sofort auf. Sie bittet ihn, sogleich zu Aline zu gehen. Er tut es und findet seine Frau heftig weinend in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen.
Unter Schluchzen spricht Aline nun auch zu Hanno von ihrem Wunsch. Gedankenvoll hört er ihr zu, während Frau Christine, an allen Gliedern zitternd, im Hintergrunde des Zimmers bleibt.
»Deine Mutter will nicht! Sie widersetzt sich mit aller Macht meinem Vorschlag. Bitte, Hanno sag mir zuliebe ja; laß mich diese Freude und Beruhigung mit ins Grab nehmen!«
Bestürzung malt sich in Hannos Zügen.
Der Gedanke, einen Wahlsohn an sein Herz zu nehmen, hat etwas Verlockendes für ihn.
Zum erstenmal in seinem Leben versteht er die Mutter nicht ganz.
Vorsichtig und zurückhaltend wendet er sich deshalb an sie, um den Grund ihrer schroffen Ablehnung