Heinrich Zschokke

Ausgewählte Werke von Heinrich Zschokke


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      »Und Du kannst wirklich mit so großer Ruhe an den Tod denken? Hast Du Deine Strafzeit auch so angewandt, daß Du hoffen darfst, vollkommen mit dem ewigen Richter ausgesöhnt zu sein? Siehe, Alamontade, der Herr Kapitän Delaubin erweiset Dir viel Gnade. Er glaubt selbst, Du werdest nur noch wenige Tage zählen . . . ich komme auf sein Verlangen zu Dir, um . . .«

      Alamontade unterbrach mich: »Die Gnade unseres Herrn Kapitäns rührt mich tief; auch Ihre Menschenliebe, mein Herr, ehre ich, aber ich bitte Sie demütigst, meinen Herrn zu ersuchen, keinen Geistlichen weiter zu senden, sondern meinen letzten Stunden den Trost der Einsamkeit zu gönnen! Soll und muß ich denn auch dieses Trostes entbehren?« –

      Er sagte dies mit so herzlich bittender Stimme, daß ich ohne weiteres mein Wort gab, mich für ihn zu verwenden. Unter anderem ließ ich dabei den Gedanken ganz unwillkürlich fallen: es sei eine Pflicht, das Begehren der Sterbenden zu ehren; und wenn er ein Gottesläugner wäre, solle man ihn nicht wider seinen Willen in den Himmel bringen.

      »Sie sind ein Geistlicher?« sagte er. »Ihre Milde thut mir wohl, mehr denn alle Ermahnungen Ihrer Vorgänger. Sie geben mir Ruhe, und machen mich zum Herrn meiner kostbarsten Stunden, der letzten. Einem Mann wie Ihnen, voller Duldung, Erbarmen und Einsicht, kann auch die Dankbarkeit eines Sträflings nicht unangenehm sein. Sie sind ein außerordentlicher Mann!«

      »Außerordentlich?« sagte ich. »Ich finde nichts Außerordentliches in Erfüllung der ersten Pflichten jedes Menschen.«

      »Eben darin liegt das Außerordentliche!« rief er.

      Ich verlangte von ihm, sich näher zu erklären. Er schien Anstand zu nehmen, und fragte mit Schüchternheit, ob ich nicht zürnen würde, wenn er sich frei ausspräche? Ich versicherte ihm, daß es mir sehr lieb sein werde. Darauf sprach er: Mein Herr, wenn der gewöhnliche Mensch seine Pflichten thut, verdient er wahrlich kein Lob! Aber der Mensch, den Stand und Würde über seine Mitbrüder erheben, sein Herz verhärten und sein Urteil lähmen, verdient Bewunderung, wenn er unbefangen und der menschlichen Natur getreu bleibt. Darum soll man an gebornen Königen jede Tugend, an Soldaten das Zartgefühl für Leidende, an Advokaten die Gerechtigkeit, an Priestern die Ehrfurcht vor fremder Meinung rühmen.«

      Einem alten Galeerensklaven glaubte ich das Urteil nicht anrechnen zu müssen. Aber doch wurde der Mensch mir durch dies und alles, was er sprach, bedeutender. Ich drang weiter in ihn. Ich war glücklich genug, sein Vertrauen zu erwecken. Meine Unterhaltung schien ihm angenehm gewesen zu sein. Er bat demutsvoll um Wiederholung der Besuche. Ich erfüllte sein Verlangen, ich besuchte ihn täglich. Unser Gespräch wandte sich bald zu den erhabensten Gegenständen der Menschheit. O Ihr Lieben, dieser Verachtete erhob sich in meinen Augen bald zu einem der ehrwürdigen Sterblichen. Er, den ich von seinen Irrtümern bekehren sollte, er bekehrte mich. Seine Weisheit wurde in den Nächten des Lebens mein Leitstern. Seine Tugend heiligte mich wieder. Kommet, ich teile Euch Alamontades Unterhaltungen mit! So ehre ich sein Andenken am schönsten. Was Ihr bis jetzt von mir vernommen, betrachtet als Einleitung zu allem. Euer Seelenzustand ist derselbe, welchen ich zu dem sterbenden Sklaven mitbrachte. Was er damals zu mir sprach, nehmet, als sei es auch zu Euch gesprochen.

      Mit diesen Worten erhob sich der Abbé Dillon. Wir gingen schweigend am Ufer des Sees entlang.

      Als wir auf des Abbés Zimmer kamen, und die Kerzen angezündet waren, zog er unter seinen Papieren ein Heft hervor. Wir setzten uns, und Dillon las.

      3.

       Inhaltsverzeichnis

      Obgleich ich den Sklaven nicht mit Untersuchungen über religiöse Dinge behelligen wollte, weil ich ihn zu kränken fürchtete, leitete er doch selbst die Rede darauf. Er sprach mit Wärme über die Religion.

      »Wie,« sagte ich, »Du hast also doch eine Religion, Alamontade?« – »Glauben Sie,« antwortete er, »daß irgend ein Mensch ohne Religion sei? Nur die frühste Kindheit und der Wahnsinn mögen ohne solche sein.« – »Und welche ist die Deinige? Denn man hält Dich für einen Gottesläugner.«

      Er versank in ein wehmütiges Schweigen. Dann erhob sich sein Blick wieder zu mir, und er sprach: »Sie fragen nach meiner Religion? Wie soll ich sie Ihnen beschreiben? Es ist die, welche der Schöpfer selber in meinem Innersten offenbarte. Die Vorurteile des großen Haufens, die Sittenlosigkeit der Priester und Mönche, die Widersprüche des kirchlichen Lehrbegriffs mit den unerschütterlichen Wahrheiten der Natur erweckten in früheren Zeiten mein Nachdenken. Und dieses leitete mich aus dem Schoß der Kirche in den Arm Gottes. Meine Religion, mein Herr, kennt ein jeder! Sie finden sie in allen Weltgegenden wieder. Alle Völker haben sie; nur mit mancherlei Schmuck und Zusatz, dessen sie für mich nicht bedarf. Mir ists leichter als allen, sie zu haben. Ich bin ein Elender, der zwar keinem Volke, aber doch der Menschheit angehört. Darum habe ich nicht die Religion eines Volkes, sondern die Religion der Menschheit, und niemand verfolgt mich darum. Auch haben sich die Nationen nie um die Religion, sondern um deren Schmuck und menschlichen Zusatz gestritten . . . Aber sei's doch; wohl denen, die für ihn starben! Beide waren in ihm selig.«

      »Wenn Du aber Deinen Glauben für den wahren hältst, und nicht mehr zweifelst; wenn Du also überzeugt bist, daß die Religion anderer etwa Wahn und Irrtum sei, wie kannst Du sie doch selig preisen?«

      »Weil sie es waren. Ach, wäre ich ein Mensch wie andere, und wie ich's einst war, und hätte der Welt Vertrauen und Liebe gewonnen . . . dennoch hätte ich mich vor der Sünde gefürchtet, fremden Glauben anzutasten. Die Bewohner der Erde leben ja in ewiger Unmündigkeit. Sie sind Kinder allesamt, und bedürfen des Gängelbandes und des Vormundes. Ihre Vernunft liegt allezeit in der weichen Wiege der Phantasie; und die Empfindungen stehen umher, sie zu wiegen. Zwar schwebt vor ihnen die gewaltige Natur und zeugt mit lauter Stimme: Es ist ein Gott! Zwar wohnt im Innern ihres Herzens ein heiliger Bürge für die Ewigkeit – doch ist ihr Vertrauen zu sich selbst zu gering. Sie zittern vor Selbsttäuschung. Sie glauben dem Fremden mehr als dem Heimischen. Sie bedürfen der Offenbarung. Wohlan denn! Jedes Volk hat seinen Gottgesandten und Propheten; und jedes Kind glaubt seinem Vater mehr, als sich selbst. – Nur wenige einzelne ergeben sich aus der Masse der Millionen; sie verstehen das Zeugnis der Natur und den Bürgen in ihrer Brust, und das Licht ihres Geistes, als Leitstern der Menschheit. Dies sind die Mündigen, die Gottgesandten.«

      »Kann aber,« sagte ich, »kann dereinst nicht eine Zeit erscheinen, wo das Menschengeschlecht aus dem Stande der Unmündigkeit hervortritt?«

      »Ich zweifle daran,« antwortete Alamontade. »Bei dieser Welteinrichtung, wo wir unser Brot im Schweiße unsers Angesichts genießen sollen, verfliegt der schönste Teil des Lebens überall am Pfluge, am Webstuhl, in der Scheune und am Schiffsruder, im Dienst irdischer Bedürfnisse. Nur wenigen ward es vergönnt, ihre Tage den Wissenschaften zu weihen. Es kann ein Jahrhundert erscheinen, wo endlich das Volk die Ergebnisse der Weltweisheit und Naturkunde, die Früchte mühsamer Untersuchungen auf allen Gebieten der menschlichen Erkenntnis als Eigentum besitzt; es kann ein Jahrhundert erscheinen, wo selbst die Religion in ihrer stillen Einfalt und frei von sinnlichem Gepränge Religion des Volkes ist – aber nie wird das Volk selbst untersuchen und prüfen können. Es wird die großen einfachen Grundsätze und Lehren nicht aus ersten Quellen unmittelbar schöpfen, sondern sie im Vertrauen auf des Lehrers Weisheit empfangen. Und so wie dann, so steht es jetzt. Das Volk hängt mit Glauben an dem, der ihm ein Geweihter höherer Erkenntnis ist; mit dem Glauben, welchen das Kind zu seinen Eltern, der Kranke zu seinem Arzt bringt. Alte Vorurteile werden untergehen, aber neue emporsteigen und die Welt beherrschen. Die Menschen werden kunstvoller, gebildeter, menschlicher werden. Sie werden einst schaudern vor den Zeiten der Barbarei, in welcher wir heute leben – und dennoch aus dem Stande der Unmündigkeit nie ganz hervorschreiten können.«

      »Ich zweifle,« sprach ich, »daß die Menschheit, indem sie sich ausbildet, und eines höhern Grades der Einsicht, des Zartgefühls sich freut, zugleich des Elends weniger sehen sollte.«

      »Warum nicht? O wahrlich, mein Herr, unter einem veredelten Volk würde ich nie die schönere Hälfte meiner Tage im Kerker und