für ihn der Satz »Alles ist Wasser« bestätigt wäre. Der Gedanke des Thales hat vielmehr gerade darin seinen Werth – auch nach der Erkenntniß, daß er unbeweisbar ist –, daß er jedenfalls unmythisch und unallegorisch gemeint war. Die Griechen, unter denen Thales plötzlich so bemerkbar wurde, waren darin das Gegenstück aller Realisten, als sie eigentlich nur an die Realität von Menschen und Göttern glaubten und die ganze Natur gleichsam nur als Verkleidung, Maskerade und Metamorphose dieser Götter-Menschen betrachteten. Der Mensch war ihnen die Wahrheit und der Kern der Dinge, alles Andre nur Erscheinung und täuschendes Spiel. Ebendeshalb machte es ihnen unglaubliche Beschwerde, die Begriffe als Begriffe zu fassen: und umgekehrt wie bei den Neueren auch das Persönlichste sich zu Abstraktionen sublimirt, rann bei ihnen das Abstrakteste immer wieder zu einer Person zusammen. Thales aber sagte: »nicht der Mensch, sondern das Wasser ist die Realität der Dinge«, er fängt an, der Natur zu glauben, sofern er doch wenigstens an das Wasser glaubt. Als Mathematiker und Astronom hatte er sich gegen alles Mythische und Allegorische erkältet, und wenn es ihm nicht gelang, bis zu der reinen Abstraktion »Alles ist Eins« ernüchtert zu werden, und er bei einem physikalischen Ausdrucke stehen blieb, so war er doch, unter den Griechen seiner Zeit, eine befremdliche Seltenheit. Vielleicht besaßen die höchst auffälligen Orphiker die Fähigkeit, Abstraktionen zu fassen und unelastisch zu denken, in einem noch höheren Grade als er: nur daß ihnen der Ausdruck derselben allein in der Form der Allegorie gelang. Auch Pherekydes aus Syros, der Thales in der Zeit und in manchen physikalischen Conceptionen nahe steht, schwebt mit seinem Ausdrucke derselben in jener Mittelregion, in der der Mythus sich mit der Allegorie gattet: so daß er zum Beispiel wagt, die Erde mit einer geflügelten Eiche zu vergleichen, die mit ausgebreiteten Fittigen in der Luft hängt und der Zeus, nach Überwältigung des Kronos, ein prachtvolles Ehrengewand umlegt, in das er mit eigner Hand die Länder, Wasser und Flüsse eingestickt hat. Solchem kaum in’s Schaubare zu übersetzenden düster-allegorischen Philosophiren gegenüber ist Thales ein schöpferischer Meister, der ohne phantastische Fabelei der Natur in ihre Tiefen zu sehen begann. Wenn er dabei die Wissenschaft und das Beweisbare zwar benutzte, aber bald übersprang, so ist dies ebenfalls ein typisches Merkmal des philosophischen Kopfes. Das griechische Wort, welches den »Weisen« bezeichnet, gehört etymologisch zu sapio ich schmecke, sapiens der Schmeckende, sisyphos der Mann des schärfsten Geschmacks; ein scharfes Herausschmecken und -erkennen, ein bedeutendes Unterscheiden macht also, nach dem Bewußtsein des Volkes, die eigenthümliche Kunst des Philosophen aus. Er ist nicht klug, wenn man klug Den nennt, der in seinen eignen Angelegenheiten das Gute herausfindet; Aristoteles sagt mit Recht: »Das, was Thales und Anaxagoras wissen, wird man ungewöhnlich, erstaunlich, schwierig, göttlich nennen, aber unnütz, weil es ihnen nicht um die menschlichen Güter zu thun war.« Durch dieses Auswählen und Ausscheiden des Ungewöhnlichen, Erstaunlichen, Schwierigen, Göttlichen grenzt sich die Philosophie gegen die Wissenschaft ebenso ab, wie sie durch das Hervorheben des Unnützen sich gegen die Klugheit abgrenzt. Die Wissenschaft stürzt sich, ohne solches Auswählen, ohne solchen Feingeschmack, auf alles Wißbare, in der blinden Begierde, Alles um jeden Preis erkennen zu wollen; das philosophische Denken dagegen ist immer auf der Fährte der Wissenswürdigsten Dinge, der großen und wichtigsten Erkenntnisse, Nun ist der Begriff der Größe wandelbar, sowohl im moralischen als ästhetischen Bereiche: so beginnt die Philosophie mit einer Gesetzgebung der Größe, ein Namengeben ist mit ihr verbunden. »Das ist groß« sagt sie und damit erhebt sie den Menschen über das blinde ungebändigte Begehren seines Erkenntnißtriebes. Durch den Begriff der Größe bändigt sie diesen Trieb: und am meisten dadurch, daß sie die größte Erkenntniß, vom Wesen und Kern der Dinge, als erreichbar und als erreicht betrachtet. Wenn Thales sagt »Alles ist Wasser«, so zuckt der Mensch empor aus dem wurmartigen Betasten und Herumkriechen der einzelnen Wissenschaften, er ahnt die letzte Lösung der Dinge und überwindet, durch diese Ahnung, die gemeine Befangenheit der niederen Erkenntnißgrade. Der Philosoph sucht den Gesammtklang der Welt, in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend wie der Religiöse, nach Zwecken und Causalitäten spähend wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen fühlt, behält er dabei die Besonnenheit, sich, als den Wiederschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andre Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin, in geschriebenen Versen zu projiciren weiß. Was hier der Vers für den Dichter ist, ist für den Philosophen das dialektische Denken: nach ihm greift er, um sich seine Verzauberung festzuhalten, um sie zu petrificiren. Und wie für den Dramatiker Wort und Vers mir das Stammeln in einer fremden Sprache sind, um in ihr zu sagen, was er lebte und schaute und was er direkt nur durch die Gebärde und die Musik verkünden kann, so ist der Ausdruck jeder tiefen philosophischen Intuition durch Dialektik und wissenschaftliches Reflektiren zwar einerseits das einzige Mittel, um das Geschaute mitzutheilen, aber ein kümmerliches Mittel, ja im Grunde eine metaphorische, ganz und gar ungetreue Übertragung in eine verschiedene Sphäre und Sprache. So schaute Thales die Einheit des Seienden: und wie er sich mittheilen wollte, redete er vom Wasser!
4.
Während der allgemeine Typus des Philosophen an dem Bilde des Thales sich nur wie aus Nebeln heraushebt, spricht schon das Bild seines großen Nachfolgers viel deutlicher zu uns. Anaximander aus Milet, der erste philosophische Schriftsteller der Alten, schreibt so, wie der typische Philosoph eben schreiben wird, so lange ihm noch nicht durch befremdende Anforderungen die Unbefangenheit und die Naivetät geraubt sind: in großstilisirter Steinschrift, Satz für Satz Zeuge einer neuen Erleuchtung und Ausdruck des Verweilens in erhabenen Contemplationen. Der Gedanke und seine Form sind Meilensteine auf dem Pfade zu jener höchsten Weisheit. In solcher lapidarischen Eindringlichkeit sagt Anaximander einmal: »Woher die Dinge ihre Entstehung haben, dahin müssen sie auch zu Grunde gehen, nach der Nothwendigkeit; denn sie müssen Buße zahlen und für ihre Ungerechtigkeiten gerichtet werden, gemäß der Ordnung der Zeit«, Räthselhafter Ausspruch eines wahren Pessimisten, Orakelaufschrift am Grenzsteine griechischer Philosophie, wie werden wir dich deuten?
Der einzige ernstgesinnte