obschon unsere an die biographische Seuche gewöhnte Zeit anders und stattlicher über die Würde des Menschen zu denken scheint –; wer, wie Schopenhauer, auf den »Höhen der indischen Lüfte« das heilige Wort von dem moralischen Werthe des Daseins gehört hat, der wird schwer davon abzuhalten sein, eine höchst anthropomorphische Metapher zu machen und jene schwermüthige Lehre aus der Beschränkung auf das Menschenleben herauszuziehen und sie auf den allgemeinen Charakter alles Daseins, durch Übertragung, anzuwenden. Es mag nicht logisch sein, ist aber jedenfalls recht menschlich, und überdies recht im Stile des früher geschilderten philosophischen Springens, jetzt mit Anaximander alles Werden wie eine strafwürdige Emancipation vom ewigen Sein anzusehn, als ein Unrecht, das mit dem Untergange zu büßen ist. Alles, was einmal geworden ist, vergeht auch wieder, ob wir nun dabei an das Menschenleben oder an das Wasser oder an Warm und Kalt denken: überall, wo bestimmte Eigenschaften wahrzunehmen sind, dürfen wir auf den Untergang dieser Eigenschaften, nach einem ungeheuren Erfahrungs-Beweis, prophezeien. Nie kann also ein Wesen, das bestimmte Eigenschaften besitzt und aus ihnen besteht, Ursprung und Princip der Dinge sein; das wahrhaft Seiende, schloß Anaximander, kann keine bestimmten Eigenschaften besitzen, sonst würde es, wie alle andern Dinge, entstanden sein und zu Grunde gehn müssen. Damit das Werden nicht aufhört, muß das Urwesen unbestimmt sein. Die Unsterblichkeit und Ewigkeit des Urwesens liegt nicht in einer Unendlichkeit und Unausschöpfbarkeit – wie gemeinhin die Erklärer des Anaximander annehmen –, sondern darin, daß es der bestimmten, zum Untergange führenden Qualitäten bar ist; weshalb es auch seinen Namen, als »das Unbestimmte« trägt. Das so benannte Urwesen ist über das Werden erhaben und verbürgt eben deshalb die Ewigkeit und den ungehemmten Verlauf des Werdens. Diese letzte Einheit in jenem »Unbestimmten«, der Mutterschooß aller Dinge, kann freilich von dem Menschen nur negativ bezeichnet werden, als Etwas, dem aus der vorhandenen Welt des Werdens kein Prädikat gegeben werden kann, und dürfte deshalb dem kantischen »Ding an sich« als ebenbürtig gelten.
Wer sich freilich mit Anderen darüber herumstreiten kann, was das nun eigentlich für ein Urstoff gewesen sei, ob er etwa ein Mittelding zwischen Luft und Wasser oder vielleicht zwischen Luft und Feuer sei, hat unsern Philosophen gar nicht verstanden: was ebenfalls von Jenen zu sagen ist, die sich ernsthaft fragen, ob Anaximander sich seinen Urstoff als Mischung aller vorhandenen Stoffe gedacht habe. Vielmehr dorthin müssen wir den Blick richten, wo wir lernen können, daß Anaximander die Frage nach der Herkunft dieser Welt bereits nicht mehr rein physikalisch behandelte, hin nach jenem zuerst angeführten lapidarischen Satz. Wenn er vielmehr in der Vielheit der entstandenen Dinge eine Summe von abzubüßenden Ungerechtigkeiten schaute, so hat er das Knäuel des tiefsinnigsten ethischen Problems mit kühnem Griffe, als der erste Grieche, erhascht. Wie kann Etwas vergehen, was ein Recht hat zu sein! Woher jenes rastlose Werden und Gebären, woher jener Ausdruck von schmerzhafter Verzerrung auf dem Angesichte der Natur, woher die nie endende Todtenklage in allen Reichen des Daseins? Aus dieser Welt des Unrechtes, des frechen Abfalls von der Ur-Einheit der Dinge flüchtet Anaximander in eine metaphysische Burg, aus der hinausgelehnt er jetzt den Blick weit umher rollen läßt, um endlich, nach nachdenklichem Schweigen, an alle Wesen die Frage zu richten: »Was ist euer Dasein werth? Und wenn es nichts werth ist, wozu seid ihr da? Durch eure Schuld, merke ich, weilt ihr in dieser Existenz. Mit dem Tode werdet ihr sie büßen müssen. Seht hin, wie eure Erde welkt; die Meere nehmen ab und trocknen aus, die Seemuschel auf dem Gebirge zeigt euch, wie weit sie schon vertrocknet sind; das Feuer zerstört eure Welt bereits jetzt, endlich wird sie in Dunst und Rauch aufgehn. Aber immer von Neuem wieder wird eine solche Welt der Vergänglichkeit sich bauen: wer vermöchte euch vom Fluche des Werdens zu erlösen?«
Einem Manne, der solche Fragen stellt, dessen aufschwebendes Denken fortwährend die empirischen Stricke zerriß, um sofort den höchsten superlunarischen Aufschwung zu nehmen, mag nicht jede Art des Lebens willkommen gewesen sein. Wir glauben es gerne der Überlieferung, daß er in besonders ehrwürdiger Kleidung einhergieng und einen wahrhaft tragischen Stolz in seinen Gebärden und Lebensgewohnheiten zeigte. Er lebte, wie er schrieb; er sprach so feierlich als er sich kleidete; er erhob die Hand und setzte den Fuß, als ob dieses Dasein eine Tragödie sei, in der er, als Held, mitzuspielen geboren sei. In Alledem war er das große Vorbild des Empedokles. Seine Mitbürger erwählten ihn, eine auswandernde Kolonie anzuführen – vielleicht freuten sie sich ihn zugleich ehren und loswerden zu können. Auch sein Gedanke zog aus und gründete Kolonien: in Ephesus und in Elea wurde man ihn nicht los, und wenn man sich nicht entschließen konnte, an der Stelle zu bleiben, wo er stand, so wußte man doch, daß man dorthin von ihm geführt worden sei, von wo man jetzt, ohne ihn, weiterzuschreiten sich anschickte.
Thales zeigt das Bedürfniß, das Reich der Vielheit zu simplificiren und zu einer bloßen Entfaltung oder Verkleidung der einen allein vorhandenen Qualität, des Wassers, herabzusetzen. Über ihn geht Anaximander mit zwei Schritten hinaus. Er fragt sich einmal: »Wie ist doch, wenn es überhaupt eine ewige Einheit giebt, jene Vielheit möglich?« und entnimmt die Antwort aus dem widerspruchsvollen, sich selbst aufzehrenden und verneinenden Charakter dieser Vielheit. Die Existenz derselben wird ihm zu einem moralischen Phänomen, sie ist nicht gerechtfertigt, sondern büßt sich fortwährend durch den Untergang ab. Aber dann fällt ihm die Frage ein: »Warum ist denn nicht schon längst alles Gewordne zu Grunde gegangen, da doch bereits eine ganze Ewigkeit von Zeit vorüber ist? Woher der immer erneute Strom des Werdens?« Er weiß sich nur durch mystische Möglichkeiten vor dieser Frage zu retten: das ewige Werden kann seinen Ursprung nur im ewigen Sein haben, die Bedingungen zu dem Abfall von jenem Sein zu einem Werden in Ungerechtigkeit sind immer die gleichen, die Constellation der Dinge ist nun einmal so beschaffen, daß kein Ende für jenes Heraustreten des Einzelwesens aus dem Schooß des »Unbestimmten« abzusetzen ist. Hierbei blieb Anaximander: das heißt er blieb in den tiefen Schatten, die wie riesenhafte Gespenster auf dem Gebirge einer solchen Weltbetrachtung lagen. Je mehr man dem Probleme sich nahen wollte, wie überhaupt aus dem Unbestimmten je das Bestimmte, aus dem Ewigen das Zeitliche, aus dem Gerechten die Ungerechtigkeit, durch Abfall entstehen könne, um so größer wurde die Nacht.
5.
Mitten auf diese mystische Nacht, in die Anaximander’s Problem vom Werden gehüllt war, trat Heraklit aus Ephesus zu und erleuchtete sie durch einen göttlichen Blitzschlag. »Das Werden schaue ich an, ruft