geringe Anzahl seiner Lehren erwähnt wurde, also durch Unvollständigkeit. Es sind aber die Lehren ausgewählt worden, in denen das Persönliche eines Philosophen am Stärksten nachklingt, während eine vollständige Aufzählung aller möglichen überlieferten Lehrsätze, wie sie in den Handbüchern Sitte ist, jedenfalls Eins zu Wege bringt, das völlige Verstummen des Persönlichen. Dadurch werden jene Berichte so langweilig: denn an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren, denn dies ist das ewig Unwiderlegbare. Aus drei Anekdoten ist es möglich, das Bild eines Menschen zu geben; ich versuche es, aus jedem Systeme drei Anekdoten herauszuheben, und gebe das Übrige preis.
1.
Es giebt Gegner der Philosophie: und man thut wohl auf sie zu hören, sonderlich wenn sie den ertränkten Köpfen der Deutschen die Metaphysik widerrathen, ihnen aber Reinigung durch die Physis, wie Goethe, oder Heilung durch die Musik, wie Richard Wagner, predigen. Die Ärzte des Volkes verwerfen die Philosophie; wer diese also rechtfertigen will, mag zeigen, wozu die gesunden Völker die Philosophie brauchen und gebraucht haben. Vielleicht gewinnen, falls er dies zeigen kann, selbst die Kranken die ersprießliche Einsicht, warum gerade ihnen dieselbe schädlich sei. Es giebt zwar gute Beispiele einer Gesundheit, die ganz ohne Philosophie oder bei einem ganz mäßigen, fast spielerischen Gebrauche derselben bestehen kann; so lebten die Römer in ihrer besten Zeit ohne Philosophie. Aber wo fände sich das Beispiel der Erkrankung eines Volkes, dem die Philosophie die verlorne Gesundheit wiedergegeben hätte? Wenn sie je helfend, rettend, vorschützend sich äußerte, dann war es bei Gesunden, die Kranken machte sie stets noch kränker. War je ein Volk zerfasert und in schlaffer Spannung mit seinen Einzelnen verbunden, nie hat die Philosophie diese Einzelnen enger an das Ganze zurückgeknüpft. War je Einer gewillt abseits zu stehen und um sich den Zaun der Selbstgenugsamkeit zu ziehen, immer war die Philosophie bereit, ihn noch mehr zu isoliren und durch Isolation zu zerstören. Sie ist gefährlich, wo sie nicht in ihrem vollen Rechte ist: und nur die Gesundheit eines Volkes, aber auch nicht jedes Volkes, giebt ihr dieses Recht.
Schauen wir uns jetzt nach jener höchsten Auktorität für Das um, was an einem Volke gesund zu heißen hat. Die Griechen, als die wahrhaft Gesunden, haben ein für allemal die Philosophie selbst gerechtfertigt, dadurch, daß sie philosophirt haben; und zwar viel mehr als alle anderen Völker. Sie konnten nicht einmal zur rechten Zeit aufhören; denn noch im dürren Alter gebärdeten sie sich als hitzige Verehrer der Philosophie, ob sie schon unter ihr nur die frommen Spitzfindigkeiten und die hochheiligen Haarspaltereien der christlichen Dogmatik verstanden. Dadurch, daß sie nicht zur rechten Zeit aufhören konnten, haben sie selbst ihr Verdienst um die barbarische Nachwelt sehr verkürzt, weil diese, in der Unbelehrtheit und dem Ungestüm ihrer Jugend, sich gerade in jenen künstlich gewebten Netzen und Stricken verfangen mußte.
Dagegen haben die Griechen es verstanden, zur rechten Zeit anzufangen, und diese Lehre, wann man zu Philosophiren anfangen müsse, geben sie so deutlich, wie kein anderes Volk. Nicht nämlich erst in der Trübsal: was wohl Einige vermeinen, die die Philosophie aus der Verdrießlichkeit ableiten. Sondern im Glück, in einer reifen Mannbarkeit, mitten heraus aus der feurigen Heiterkeit des tapferen und siegreichen Mannesalters. Daß in dieser Zeit die Griechen philosophirt haben, belehrt uns ebenso über Das, was die Philosophie ist und was sie soll, als über die Griechen selbst. Wären jene damals solche nüchterne und altkluge Praktiker und Heiterlinge gewesen, wie es sich der gelehrte Philister unserer Tage wohl imaginirt, oder hätten sie nur in einem schwelgerischen Schweben, Klingen, Athmen und Fühlen gelebt, wie es wohl der ungelehrte Phantast gerne annimmt, so wäre die Quelle der Philosophie gar nicht bei ihnen an’s Licht gekommen. Höchstens hätte es einen bald im Sande verrieselnden oder zu Nebeln verdunstenden Bach gegeben, nimmermehr aber jenen breiten, mit stolzem Wellenschlage sich ergießenden Strom, den wir als die griechische Philosophie kennen.
Zwar hat man mit Eifer darauf hingezeigt, wie viel die Griechen im orientalischen Auslande finden und lernen konnten, und wie mancherlei sie wohl von dort geholt haben. Freilich gab es ein wunderliches Schauspiel, wenn man die angeblichen Lehrer aus dem Orient und die möglichen Schüler aus Griechenland zusammenbrachte und jetzt Zoroaster neben Heraklit, die Inder neben den Eleaten, die Ägypter neben Empedokles, oder gar Anaxagoras unter den Juden und Pythagoras unter den Chinesen zur Schau stellte. Im Einzelnen ist wenig ausgemacht worden; aber den ganzen Gedanken ließen wir uns schon gefallen, wenn man uns nur nicht mit der Folgerung beschwert, daß die Philosophie somit in Griechenland nur importirt und nicht aus natürlichem heimischem Boden gewachsen sei, ja daß sie, als etwas Fremdes, die Griechen wohl eher ruinirt als gefördert habe. Nichts ist thörichter, als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen, sie kamen gerade deshalb so weit, weil sie es verstanden, den Speer von dort weiter zu schleudern, wo ihn ein anderes Volk liegen ließ. Sie sind bewunderungswürdig in der Kunst, fruchtbar zu lernen: und so, wie sie, sollen wir von unsern Nachbarn lernen, zum Leben, nicht zum gelehrtenhaften Erkennen, alles Erlernte als Stütze benutzend, auf der man sich hoch und höher als der Nachbar schwingt. Die Fragen nach den Anfängen der Philosophie sind ganz gleichgültig, denn überall ist im Anfang das Rohe, Ungeformte, Leere und Häßliche, und in allen Dingen kommen nur die höheren Stufen in Betracht. Wer an Stelle der griechischen Philosophie sich lieber mit ägyptischer und persischer abgiebt, weil Jene vielleicht »originaler« und jedenfalls älter sind, der verfährt ebenso unbesonnen, wie Diejenigen, welche sich über die griechische so herrliche und tiefsinnige Mythologie nicht eher beruhigen können, als bis sie dieselbe auf physikalische Trivialitäten, auf Sonne, Blitz, Wetter und Nebel als auf ihre Uranfänge zurückgeführt haben, und welche zum Beispiel in der beschränkten Anbetung des einen Himmelsgewölbes bei den anderen Indogermanen eine reinere Form der Religion wiedergefunden zu haben wähnen, als die polytheistische der Griechen gewesen sei. Der Weg zu den Anfängen führt überall zu der Barbarei; und wer sich mit den Griechen abgiebt, soll sich immer vorhalten, daß der ungebändigte Wissenstrieb an sich zu allen Zeiten ebenso barbarisirt als der Wissenshaß, und daß die Griechen durch die Rücksicht auf das Leben, durch ein ideales Lebensbedürfnis; ihren an sich unersättlichen Wissenstrieb gebändigt haben – weil sie Das, was sie lernten, sogleich