was man dir auch sage«. Es ist in Sonderheit mächtiger als die Macht der Wahrheit. Die Menschheit bringt so selten ein gutes Buch hervor, in dem mit kühner Freiheit das Schlachtlied der Wahrheit, das Lied des philosophischen Heroismus angestimmt wird: und doch hängt es von den elendesten Zufälligkeiten, von plötzlichen Verfinsterungen der Köpfe, von abergläubischen Zuckungen und Antipathien, zuletzt selbst von schreibefaulen Fingern oder gar von Kerbwürmern und Regenwetter ab, ob es noch ein Jahrhundert länger lebt oder zu Moder und Gide wird. Doch wollen wir nicht klagen, vielmehr uns selbst die Abfertigungs- und Trostworte Hamann’s gesagt sein lassen, die er an die Gelehrten richtet, die über verlorne Werke klagen: »Hatte der Künstler, welcher mit einer Linse durch ein Nadelöhr traf, nicht an einem Scheffel Linsen genug zur Übung seiner erworbenen Geschicklichkeit? Diese Frage möchte man an alle Gelehrte thun, welche die Weile der Alten nicht klüger als Jener die Linsen zu gebrauchen wissen.« Es wäre in unserem Falle noch hinzuzufügen, daß uns lein Wort, keine Anekdote, leine Jahreszahl mehr überliefert zu sein brauchte, als überliefert ist, ja daß selbst viel weniger uns erhalten sein dürfte, um die allgemeine Lehre festzustellen, daß die Griechen die Philosophie rechtfertigen.
Eine Zeit, die an der sogenannten allgemeinen Bildung leidet, aber keine Cultur und in ihrem Leben keine Einheit des Stils hat, wird mit der Philosophie nichts Rechtes anzufangen wissen, und wenn sie von dem Genius der Wahrheit selbst auf Straßen und Märkten proklamirt würde.)1 Sie bleibt vielmehr, in einer solchen Zeit, gelehrter Monolog des einsamen Spaziergängers, zufälliger Raub des Einzelnen, verborgenes Stubengeheimniß oder ungefährliches Geschwätz zwischen akademischen Greisen und Kindern. Niemand darf es wagen, das Gesetz der Philosophie an sich zu erfüllen, Niemand lebt philosophisch, mit jener einfachen Mannestreue, die einen Alten zwang, wo er auch war, was er auch trieb, sich als Stoiker zu gebärden, falls er der Stoa einmal Treue zugefügt hatte. Alles moderne Philosophiren ist politisch und polizeilich durch Regierungen, Kirchen, Akademien, Sitten, Moden, Feigheiten der Menschen auf den gelehrten Anschein beschränkt: es bleibt beim Seufzer »wenn doch« oder bei der Erkenntnis; »es war einmal«. Die Philosophie ist ohne Recht, deshalb müßte sie der moderne Mensch, wenn er überhaupt nur muthig und gewissenhaft wäre, verwerfen und sie etwa mit ähnlichen Worten verbannen, mit denen Pluto die Tragödiendichter aus seinem Staate verwies.) Freilich bliebe ihr eine Entgegnung übrig, wie sie auch jenen Tragödiendichtern, gegen Plato, übrig blieb. Sie könnte etwa, wenn man sie einmal zum Reden zwänge, sagen: »Armseliges Volk! Ist es meine Schuld, wenn ich unter dir wie eine Wahrsagerin im Lande herumstreiche und mich verstecken und verstellen muß, als ob ich die Sünderin wäre und ihr meine Richter? Seht nur meine Schwester, die Kunst! Es geht ihr wie mir, wir sind unter Barbaren verschlagen und wissen nicht mehr uns zu retten. Hier fehlt uns, es ist wahr, jedes gute Recht: aber die Richter, vor denen wir Recht finden, richten auch über euch und werden euch sagen: Habt erst eine Cultur, dann sollt ihr auch erfahren, was die Philosophie will und kann.« –
1 Von *) bis *) vgl. Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Bd. II S. 146/47. <<<
3.
Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze: daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschooß aller Dinge sei. Ist es wirklich nöthig, hierbei stille zu stehen und ernst zu werden? Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz Etwas vom Ursprung der Dinge aussagt; zweitens weil er dies ohne Bild und Fabelei thut; und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist »Alles ist Eins«. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite aber nimmt ihn aus dieser Gesellschaft und zeigt uns ihn als Naturforscher, aber vermöge des dritten Grundes gilt Thales als der erste griechische Philosoph. Hätte er gesagt: aus Wasser wird Erde, so hätten wir nur eine wissenschaftliche Hypothese, eine falsche, aber doch schwer widerlegbare. Aber er gieng über das Wissenschaftliche hinaus. Thales hat in der Darstellung dieser Einheits-Vorstellung durch die Hypothese vom Wasser den niedrigen Stand der physikalischen Einsichten seiner Zeit nicht überwunden, sondern höchstens übersprungen. Die dürftigen und ungeordneten Beobachtungen empirischer Art, die Thales über das Vorkommen und die Verwandlungen des Wassers oder, genauer, des Feuchten, gemacht hatte, hätten am wenigsten eine solche ungeheure Verallgemeinerung erlaubt oder gar angerathen; Das, was zu dieser trieb, war ein metaphysischer Glaubenssatz, der seinen Ursprung in einer mystischen Intuition hat und dem wir bei allen Philosophien, sammt den immer erneuten Versuchen, ihn besser auszudrücken, begegnen: – der Satz » Alles ist Eins«.
Es ist merkwürdig, wie gewaltherrisch ein solcher Glaube mit aller Empirie verfährt: gerade an Thales kann man lernen, wie es die Philosophie, zu allen Zeiten, gemacht hat, wenn sie zu ihrem magisch anziehenden Ziele, über die Hecken der Erfahrung hinweg, hinüberwollte. Sie springt auf leichten Stützen voraus: die Hoffnung und die Ahnung beflügeln ihren Fuß. Schwerfällig keucht der rechnende Verstand hinterdrein und sucht bessere Stützen, um auch selbst jenes lockende Ziel zu erreichen, an dem der göttlichere Gefährte schon angelangt ist. Man glaubt, zwei Wanderer an einem wilden, Steine mit sich fortwälzenden Waldbach zu sehen: der eine springt leichtfüßig hinüber, die Steine benutzend und sich auf ihnen immer weiter schwingend, ob sie auch jäh hinter ihm in die Tiefe sinken. Der andere steht alle Augenblicke hülflos da, er muß sich erst Fundamente bauen, die seinen schweren, bedächtigen Schritt ertragen, mitunter geht dies nicht, und dann hilft ihm kein Gott über den Bach. Was bringt also das philosophische Denken so schnell an sein Ziel? Unterscheidet es sich von dem rechnenden und abmessenden Denken etwa nur durch das raschere Durchfliegen großer Räume? Nein, denn es hebt seinen Fuß eine fremde, unlogische Macht, die Phantasie. Durch sie gehoben, springt es weiter von Möglichkeit zu Möglichkeit, die einstweilen als Sicherheiten genommen werden: hier und da ergreift es selbst Sicherheiten im Fluge. Ein genialisches Vorgefühl zeigt sie ihm, es erräth von ferne, daß an diesem Punkte beweisbare Sicherheiten sind. Besonders aber ist die Kraft der Phantasie mächtig im blitzartigen Erfassen und Beleuchten von Ähnlichkeiten: die Reflexion bringt nachher ihre Maßstäbe und Schablonen heran und sucht die Ähnlichkeiten durch Gleichheiten, das Nebeneinander-Geschaute durch Causalitäten zu ersetzen. Aber selbst, wenn dies nie möglich sein sollte, selbst im Falle des