Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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des Or­ga­nis­mus, als ein Ver­su­chen, Tas­ten, Fehl­grei­fen, als eine Müh­sal, bei der un­nö­thig viel Ner­ven­kraft ver­braucht wird, – wir leug­nen, daß ir­gend Et­was voll­kom­men ge­macht wer­den kann, so lan­ge es noch be­wußt ge­macht wird. Der »rei­ne Geist« ist eine rei­ne Dumm­heit: rech­nen wir das Ner­ven­sys­tem und die Sin­ne ab, die »sterb­li­che Hül­le«, so ver­rech­nen wir uns – wei­ter nichts!« …

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      15.

      We­der die Moral noch die Re­li­gi­on be­rührt sich im Chris­tent­hu­me mit ir­gend ei­nem Punk­te der Wirk­lich­keit. Lau­ter ima­gi­näre Ur­sa­chen (»Gott«, »See­le«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wil­le« – oder auch »der un­freie«); lau­ter ima­gi­näre Wir­kun­gen (»Sün­de«, »Er­lö­sung«, »Gna­de«, »Stra­fe«, »Ver­ge­bung der Sün­de«). Ein Ver­kehr zwi­schen ima­gi­nären We­sen (»Gott«, »Geis­ter«, »See­len«); eine ima­gi­näre Na­tur­wis­sen­schaft (an­thro­po­cen­trisch; völ­li­ger Man­gel des Be­griffs der na­tür­li­chen Ur­sa­chen); eine ima­gi­näre Psy­cho­lo­gie (lau­ter Selbst-Miß­ver­ständ­nis­se, In­ter­pre­ta­tio­nen an­ge­neh­mer oder un­an­ge­neh­mer All­ge­mein­ge­füh­le, zum Bei­spiel der Zu­stän­de des ner­vus sym­pa­thi­cus, mit Hül­fe der Zei­chen­spra­che re­li­gi­ös-mo­ra­li­scher Idio­syn­kra­sie, – »Reue«, »Ge­wis­sens­biß«, »Ver­su­chung des Teu­fels«, »die Nähe Got­tes«); eine ima­gi­näre Te­leo­lo­gie (»das Reich Got­tes«, »das jüngs­te Ge­richt«, »das ewi­ge Le­ben«). – Die­se rei­ne Fik­ti­ons-Welt un­ter­schei­det sich da­durch sehr zu ih­ren Un­guns­ten von der Traum­welt, daß letz­te­re die Wirk­lich­keit wie­der­spie­gelt, wäh­rend sie die Wirk­lich­keit fälscht, ent­wert­het, ver­neint. Nach­dem erst der Be­griff »Na­tur« als Ge­gen­be­griff zu »Gott« er­fun­den war, muß­te »na­tür­lich« das Wort sein für »ver­werf­lich«, – jene gan­ze Fik­ti­ons-Welt hat ihre Wur­zel im Haß ge­gen das Na­tür­li­che (– die Wirk­lich­keit! –), sie ist der Aus­druck ei­nes tie­fen Miß­be­ha­gens am Wirk­li­chen … Aber da­mit ist Al­les er­klärt. Wer al­lein hat Grün­de, sich weg­zulü­gen aus der Wirk­lich­keit? Wer an ihr lei­det. Aber an der Wirk­lich­keit lei­den heißt eine ver­un­glück­te Wirk­lich­keit sein … Das Über­ge­wicht der Un­lust­ge­füh­le über die Lust­ge­füh­le ist die Ur­sa­che je­ner fik­ti­ven Moral und Re­li­gi­on: ein sol­ches Über­ge­wicht giebt aber die For­mel ab für dé­ca­dence

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      16.

      Zu dem glei­chen Schlus­se nö­thigt eine Kri­tik des christ­li­chen Got­tes­be­griffs. – Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch sei­nen eig­nen Gott. In ihm ver­ehrt es die Be­din­gun­gen, durch die es oben­auf ist, sei­ne Tu­gen­den, – es pro­ji­cirt sei­ne Lust an sich, sein Macht­ge­fühl in ein We­sen, dem man da­für dan­ken kann. Wer reich ist, will ab­ge­ben, ein stol­zes Volk braucht einen Gott, um zu op­fern … Re­li­gi­on, in­ner­halb sol­cher Voraus­set­zun­gen, ist eine Form der Dank­bar­keit. Man ist für sich sel­ber dank­bar: dazu braucht man einen Gott. – Ein sol­cher Gott muß nüt­zen und scha­den kön­nen, muß Freund und Feind sein kön­nen, – man be­wun­dert ihn im Gu­ten wie im Schlim­men. Die wi­der­na­tür­li­che Ca­stra­ti­on ei­nes Got­tes zu ei­nem Got­te bloß des Gu­ten läge hier au­ßer­halb al­ler Wünsch­bar­keit, Man hat den bö­sen Gott so nö­thig als den gu­ten: man ver­dankt ja die eig­ne Exis­tenz nicht ge­ra­de der To­le­ranz, der Men­schen­freund­lich­keit … Was läge an ei­nem Got­te, der nicht Zorn, Ra­che, Neid, Hohn, List, Ge­walt­t­hat kenn­te? dem viel­leicht nicht ein­mal die ent­zücken­den ar­deur­s des Siegs und der Ver­nich­tung be­kannt wä­ren? Man wür­de einen sol­chen Gott nicht ver­stehn: wozu soll­te man ihn ha­ben? – Frei­lich: wenn ein Volk zu Grun­de geht; wenn es den Glau­ben an Zu­kunft, sei­ne Hoff­nung auf Frei­heit end­gül­tig schwin­den fühlt; wenn ihm die Un­ter­wer­fung als ers­te Nütz­lich­keit, die Tu­gen­den der Un­ter­wor­fe­nen als Er­hal­tungs­be­din­gun­gen in’s Be­wußt­sein tre­ten, dann muß sich auch sein Gott ver­än­dern. Er wird jetzt Duck­mäu­ser, furcht­sam, be­schei­den, räth zum »Frie­den der See­le«, zum Nicht-mehr-has­sen, zur Nach­sicht, zur »Lie­be« selbst ge­gen Freund und Feind. Er mo­ra­li­sirt be­stän­dig, er kriecht in die Höh­le je­der Pri­vat­tu­gend, wird Gott für Je­der­mann, wird Pri­vat­mann, wird Kos­mo­po­lit … Ehe­mals stell­te er ein Volk, die Stär­ke ei­nes Vol­kes, al­les Ag­gres­si­ve und Macht­durs­ti­ge aus der See­le ei­nes Vol­kes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott … In der That, es giebt kei­ne and­re Al­ter­na­ti­ve für Göt­ter: ent­we­der sind sie der Wil­le zur Macht – und so lan­ge wer­den sie Volks­göt­ter sein –, oder aber die Ohn­macht zur Macht – und dann wer­den sie nothwen­dig gut …

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      17.

      Wo in ir­gend wel­cher Form der Wil­le zur Macht nie­der­geht, giebt es je­des­mal auch einen phy­sio­lo­gi­schen Rück­gang, eine dé­ca­dence. Die Gott­heit der dé­ca­dence, be­schnit­ten an ih­ren männ­lichs­ten Tu­gen­den und Trie­ben, wird nun­mehr nothwen­dig zum Gott der phy­sio­lo­gisch– Zu­rück­ge­gan­ge­nen, der Schwa­chen. Sie hei­ßen sich selbst nicht die Schwa­chen, sie hei­ßen sich »die Gu­ten« … Man ver­steht, ohne daß ein Wink noch noth thä­te, in wel­chen Au­gen­bli­cken der Ge­schich­te erst die dua­lis­ti­sche Fik­ti­on ei­nes gu­ten und ei­nes bö­sen Got­tes mög­lich wird. Mit dem­sel­ben In­stink­te, mit dem die Un­ter­worf­nen ih­ren Gott zum »Gu­ten an sich« her­un­ter­brin­gen, strei­chen sie aus dem Got­te ih­rer Über­win­der die gu­ten Ei­gen­schaf­ten aus; sie neh­men Ra­che an ih­ren Her­ren, da­durch daß sie de­ren Gott ver­teu­feln. – Der gute Gott, eben­so wie der Teu­fel: Bei­de Aus­ge­bur­ten der dé­ca­dence, – Wie kann man heu­te noch der Ein­falt christ­li­cher Theo­lo­gen so viel nach­ge­ben, um mit ih­nen zu de­cre­ti­ren, die Fort­ent­wick­lung des Got­tes­be­griffs vom »Got­te Is­raels«, vom Volks­got­te zum christ­li­chen Got­te, zum In­be­griff al­les Gu­ten, sei ein Fort­schritt? – Aber selbst Ren­an thut es. Als ob Ren­an ein Recht auf Ein­falt hät­te! Das Ge­gent­heil springt doch in die Au­gen. Wenn die Voraus­set­zun­gen des auf­stei­gen­den Le­bens, wenn al­les Star­ke, Tap­fe­re, Her­ri­sche, Stol­ze aus dem Got­tes­be­grif­fe eli­mi­nirt wer­den, wenn er Schritt für Schritt zum Sym­bol ei­nes Stabs für Müde, ei­nes Ret­tungs­an­kers für alle Er­trin­ken­den her­un­ter­sinkt, wenn er Arme-Leu­te-Gott, Sün­der-Gott, Kran­ken-Gott par ex­cel­lence wird, und das Prä­di­kat »Hei­land«, »Er­lö­ser« gleich­sam üb­rig bleibt als gött­li­ches Prä­di­kat über­haupt: wo­von re­det eine sol­che Ver­wand­lung? eine sol­che Re­duk­ti­on des Gött­li­chen? – Frei­lich: »das Reich Got­tes« ist da­mit grö­ßer ge­wor­den. Ehe­mals hat­te er nur sein Volk, sein »aus­er­wähl­tes« Volk. In­zwi­schen gieng er, ganz wie sein Volk sel­ber, in die Frem­de, auf Wan­der­schaft, er saß seit­dem nir­gends­wo mehr still: bis er end­lich über­all hei­misch wur­de, der große Kos­mo­po­lit, – bis er »die große Zahl« und die hal­be Erde auf sei­ne Sei­te be­kam. Aber der Gott der »großen Zahl«, der De­mo­krat un­ter den Göt­tern, wur­de trotz­dem kein stol­zer Hei­den­gott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Win­kel, der Gott al­ler dunklen Ecken und Stel­len, al­ler un­ge­sun­den Quar­tie­re der gan­zen Welt! … Sein Wel­treich ist nach wie vor ein Un­ter­welts-Reich, ein Ho­spi­tal, ein sou­ter­rain-Reich, ein Ghet­to-Reich