des Organismus, als ein Versuchen, Tasten, Fehlgreifen, als eine Mühsal, bei der unnöthig viel Nervenkraft verbraucht wird, – wir leugnen, daß irgend Etwas vollkommen gemacht werden kann, so lange es noch bewußt gemacht wird. Der »reine Geist« ist eine reine Dummheit: rechnen wir das Nervensystem und die Sinne ab, die »sterbliche Hülle«, so verrechnen wir uns – weiter nichts!« …
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15.
Weder die Moral noch die Religion berührt sich im Christenthume mit irgend einem Punkte der Wirklichkeit. Lauter imaginäre Ursachen (»Gott«, »Seele«, »Ich«, »Geist«, »der freie Wille« – oder auch »der unfreie«); lauter imaginäre Wirkungen (»Sünde«, »Erlösung«, »Gnade«, »Strafe«, »Vergebung der Sünde«). Ein Verkehr zwischen imaginären Wesen (»Gott«, »Geister«, »Seelen«); eine imaginäre Naturwissenschaft (anthropocentrisch; völliger Mangel des Begriffs der natürlichen Ursachen); eine imaginäre Psychologie (lauter Selbst-Mißverständnisse, Interpretationen angenehmer oder unangenehmer Allgemeingefühle, zum Beispiel der Zustände des nervus sympathicus, mit Hülfe der Zeichensprache religiös-moralischer Idiosynkrasie, – »Reue«, »Gewissensbiß«, »Versuchung des Teufels«, »die Nähe Gottes«); eine imaginäre Teleologie (»das Reich Gottes«, »das jüngste Gericht«, »das ewige Leben«). – Diese reine Fiktions-Welt unterscheidet sich dadurch sehr zu ihren Ungunsten von der Traumwelt, daß letztere die Wirklichkeit wiederspiegelt, während sie die Wirklichkeit fälscht, entwerthet, verneint. Nachdem erst der Begriff »Natur« als Gegenbegriff zu »Gott« erfunden war, mußte »natürlich« das Wort sein für »verwerflich«, – jene ganze Fiktions-Welt hat ihre Wurzel im Haß gegen das Natürliche (– die Wirklichkeit! –), sie ist der Ausdruck eines tiefen Mißbehagens am Wirklichen … Aber damit ist Alles erklärt. Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit? Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein … Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache jener fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht giebt aber die Formel ab für décadence …
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16.
Zu dem gleichen Schlusse nöthigt eine Kritik des christlichen Gottesbegriffs. – Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch noch seinen eignen Gott. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist, seine Tugenden, – es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Wer reich ist, will abgeben, ein stolzes Volk braucht einen Gott, um zu opfern … Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Man ist für sich selber dankbar: dazu braucht man einen Gott. – Ein solcher Gott muß nützen und schaden können, muß Freund und Feind sein können, – man bewundert ihn im Guten wie im Schlimmen. Die widernatürliche Castration eines Gottes zu einem Gotte bloß des Guten läge hier außerhalb aller Wünschbarkeit, Man hat den bösen Gott so nöthig als den guten: man verdankt ja die eigne Existenz nicht gerade der Toleranz, der Menschenfreundlichkeit … Was läge an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Hohn, List, Gewaltthat kennte? dem vielleicht nicht einmal die entzückenden ardeurs des Siegs und der Vernichtung bekannt wären? Man würde einen solchen Gott nicht verstehn: wozu sollte man ihn haben? – Freilich: wenn ein Volk zu Grunde geht; wenn es den Glauben an Zukunft, seine Hoffnung auf Freiheit endgültig schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen in’s Bewußtsein treten, dann muß sich auch sein Gott verändern. Er wird jetzt Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, räth zum »Frieden der Seele«, zum Nicht-mehr-hassen, zur Nachsicht, zur »Liebe« selbst gegen Freund und Feind. Er moralisirt beständig, er kriecht in die Höhle jeder Privattugend, wird Gott für Jedermann, wird Privatmann, wird Kosmopolit … Ehemals stellte er ein Volk, die Stärke eines Volkes, alles Aggressive und Machtdurstige aus der Seele eines Volkes dar: jetzt ist er bloß noch der gute Gott … In der That, es giebt keine andre Alternative für Götter: entweder sind sie der Wille zur Macht – und so lange werden sie Volksgötter sein –, oder aber die Ohnmacht zur Macht – und dann werden sie nothwendig gut …
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17.
Wo in irgend welcher Form der Wille zur Macht niedergeht, giebt es jedesmal auch einen physiologischen Rückgang, eine décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Tugenden und Trieben, wird nunmehr nothwendig zum Gott der physiologisch– Zurückgegangenen, der Schwachen. Sie heißen sich selbst nicht die Schwachen, sie heißen sich »die Guten« … Man versteht, ohne daß ein Wink noch noth thäte, in welchen Augenblicken der Geschichte erst die dualistische Fiktion eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfnen ihren Gott zum »Guten an sich« herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus; sie nehmen Rache an ihren Herren, dadurch daß sie deren Gott verteufeln. – Der gute Gott, ebenso wie der Teufel: Beide Ausgeburten der décadence, – Wie kann man heute noch der Einfalt christlicher Theologen so viel nachgeben, um mit ihnen zu decretiren, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom »Gotte Israels«, vom Volksgotte zum christlichen Gotte, zum Inbegriff alles Guten, sei ein Fortschritt? – Aber selbst Renan thut es. Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! Das Gegentheil springt doch in die Augen. Wenn die Voraussetzungen des aufsteigenden Lebens, wenn alles Starke, Tapfere, Herrische, Stolze aus dem Gottesbegriffe eliminirt werden, wenn er Schritt für Schritt zum Symbol eines Stabs für Müde, eines Rettungsankers für alle Ertrinkenden heruntersinkt, wenn er Arme-Leute-Gott, Sünder-Gott, Kranken-Gott par excellence wird, und das Prädikat »Heiland«, »Erlöser« gleichsam übrig bleibt als göttliches Prädikat überhaupt: wovon redet eine solche Verwandlung? eine solche Reduktion des Göttlichen? – Freilich: »das Reich Gottes« ist damit größer geworden. Ehemals hatte er nur sein Volk, sein »auserwähltes« Volk. Inzwischen gieng er, ganz wie sein Volk selber, in die Fremde, auf Wanderschaft, er saß seitdem nirgendswo mehr still: bis er endlich überall heimisch wurde, der große Kosmopolit, – bis er »die große Zahl« und die halbe Erde auf seine Seite bekam. Aber der Gott der »großen Zahl«, der Demokrat unter den Göttern, wurde trotzdem kein stolzer Heidengott: er blieb Jude, er blieb der Gott der Winkel, der Gott aller dunklen Ecken und Stellen, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt! … Sein Weltreich ist nach wie vor ein Unterwelts-Reich, ein Hospital, ein souterrain-Reich, ein Ghetto-Reich