Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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Ich nen­ne sie eine sub­li­me Wei­ter-Ent­wick­lung des He­do­nis­mus auf durch­aus mor­bi­der Grund­la­ge. Nächst­ver­wandt, wenn auch mit ei­nem großen Zu­schuß von grie­chi­scher Vi­ta­li­tät und Ner­ven­kraft, bleibt ihr der Epi­ku­reis­mus, die Er­lö­sungs-Leh­re des Hei­dent­hums. Epi­kur ein ty­pi­scher dé­ca­dent: zu­erst von mir als sol­cher er­kannt. – Die Furcht vor Schmerz, selbst vor dem Unend­lich-Klei­nen im Schmerz – sie kann gar nicht an­ders en­den als in ei­ner Re­li­gi­on der Lie­be…

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      31.

      Ich habe mei­ne Ant­wort auf das Pro­blem vor­weg ge­ge­ben. Die Voraus­set­zung für sie ist, daß der Ty­pus des Er­lö­sers uns nur in ei­ner star­ken Ent­stel­lung er­hal­ten ist. Die­se Ent­stel­lung hat an sich viel Wahr­schein­lich­keit: ein sol­cher Ty­pus konn­te aus meh­re­ren Grün­den nicht rein, nicht ganz, nicht frei von Zutha­ten blei­ben. Es muß so­wohl das Mi­lieu, in dem sich die­se frem­de Ge­stalt be­weg­te, Spu­ren an ihm hin­ter­las­sen ha­ben, als noch mehr die Ge­schich­te, das Schick­sal der ers­ten christ­li­chen Ge­mein­de: aus ihm wur­de, rück­wir­kend, der Ty­pus mit Zü­gen be­rei­chert, die erst aus dem Krie­ge und zu Zwe­cken der Pro­pa­gan­da ver­ständ­lich wer­den. Jene selt­sa­me und kran­ke Welt, in die uns die Evan­ge­li­en ein­füh­ren – eine Welt, wie aus ei­nem rus­si­schen Ro­ma­ne, in der sich Aus­wurf der Ge­sell­schaft, Ner­ven­lei­den und »kind­li­ches« Idio­tent­hum ein Stell­dich­ein zu ge­ben schei­nen – muß un­ter al­len Um­stän­den den Ty­pus ver­grö­bert ha­ben: die ers­ten Jün­ger in Son­der­heit über­setz­ten ein ganz in Sym­bo­len und Un­faß­lich­kei­ten schwim­men­des Sein erst in die eig­ne Cru­di­tät, um über­haupt Et­was da­von zu ver­stehn, – für sie war der Ty­pus erst nach ei­ner Ein­for­mung in be­kann­te­re For­men vor­han­den… Der Pro­phet, der Mes­si­as, der zu­künf­ti­ge Rich­ter, der Moral­leh­rer, der Wun­der­mann, Jo­han­nes der Täu­fer – eben­so­vie­le Ge­le­gen­hei­ten, den Ty­pus zu ver­ken­nen… Un­ter­schät­zen wir end­lich das pro­pri­um al­ler großen, na­ment­lich sek­ti­re­ri­schen Ver­eh­rung nicht: sie löscht die ori­gi­na­len, oft pein­lich-frem­den Züge und Idio­syn­kra­si­en an dem ver­ehr­ten We­sen aus – sie sieht sie selbst nicht. Man hät­te zu be­dau­ern, daß nicht ein Do­stoiew­sky in der Nähe die­ses in­ter­essan­tes­ten dé­ca­dent ge­lebt hat, ich mei­ne, Je­mand, der ge­ra­de den er­grei­fen­den Reiz ei­ner sol­chen Mi­schung von Sub­li­mem, Kran­kem und Kind­li­chem zu emp­fin­den wuß­te. Ein letz­ter Ge­sichts­punkt: der Ty­pus könn­te, als dé­ca­dence-Ty­pus, that­säch­lich von ei­ner ei­gent­hüm­li­chen Viel­heit und Wi­der­sprüch­lich­keit ge­we­sen sein: eine sol­che Mög­lich­keit ist nicht völ­lig aus­zu­schlie­ßen. Trotz­dem räth Al­les ab von ihr: ge­ra­de die Über­lie­fe­rung wür­de für die­sen Fall eine merk­wür­dig treue und ob­jek­ti­ve sein müs­sen: wo­von wir Grün­de ha­ben das Ge­gent­heil an­zu­neh­men. Einst­wei­len klafft ein Wi­der­spruch zwi­schen dem Berg-, See- und Wie­sen-Pre­di­ger, des­sen Er­schei­nung wie ein Bud­dha auf ei­nem sehr we­nig in­di­schen Bo­den an­mu­thet, und je­nem Fa­na­ti­ker des An­griffs, dem Theo­lo­gen- und Pries­ter-Tod­feind, den Renan’s Bos­heit als »le grand maître en iro­nie« ver­herr­licht hat. Ich sel­ber zweifle nicht dar­an, daß das reich­li­che Maaß Gal­le (und selbst von e­sprit) erst aus dem er­reg­ten Zu­stand der christ­li­chen Pro­pa­gan­da auf den Ty­pus des Meis­ters über­ge­flos­sen ist: man kennt ja reich­lich die Un­be­denk­lich­keit al­ler Sek­ti­rer, aus ih­rem Meis­ter sich ihre Apo­lo­gie zu­recht zu ma­chen. Als die ers­te Ge­mein­de einen rich­ten­den, ha­dern­den, zür­nen­den, bös­ar­tig spitz­fin­di­gen Theo­lo­gen nö­thig hat­te, ge­gen Theo­lo­gen, schuf sie sich ih­ren »Gott« nach ih­rem Be­dürf­nis­se: wie sie ihm auch jene völ­lig un­evan­ge­li­schen Be­grif­fe, die sie jetzt nicht ent­beh­ren konn­te, »Wie­der­kunft«, »jüngs­tes Ge­richt«, jede Art zeit­li­cher Er­war­tung und Ver­hei­ßung, ohne Zö­gern in den Mund gab. –

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      32.

      Ich weh­re mich, noch­mals ge­sagt, da­ge­gen, daß man den Fa­na­ti­ker in den Ty­pus des Er­lö­sers ein­trägt: das Wort impérieux, das Ren­an ge­braucht, an­nul­lirt al­lein schon den Ty­pus. Die »gute Bot­schaft« ist eben, daß es kei­ne Ge­gen­sät­ze mehr giebt; das Him­mel­reich ge­hört den Kin­dern; der Glau­be, der hier laut wird, ist kein er­kämpf­ter Glau­be, – er ist da, er ist von An­fang, er ist gleich­sam eine in’s Geis­ti­ge zu­rück­ge­tre­te­ne Kind­lich­keit. Der Fall der ver­zö­ger­ten und im Or­ga­nis­mus un­aus­ge­bil­de­ten Pu­ber­tät, als Fol­ge­er­schei­nung der De­ge­ne­re­scenz, ist we­nigs­tens den Phy­sio­lo­gen ver­traut. – Ein sol­cher Glau­be zürnt nicht, ta­delt nicht, wehrt sich nicht: er bringt nicht »das Schwert«, – er ahnt gar nicht, in­wie­fern er ein­mal tren­nen könn­te. Er be­weist sich nicht, we­der durch Wun­der, noch durch Lohn und Ver­hei­ßung, noch gar »durch die Schrift«: er selbst ist je­den Au­gen­blick sein Wun­der, sein Lohn, sein Be­weis, sein »Reich Got­tes«. Die­ser Glau­be for­mu­lirt sich auch nicht, – er lebt, er wehrt sich ge­gen For­meln. Frei­lich be­stimmt der Zu­fall der Um­ge­bung, der Spra­che, der Vor­bil­dung einen ge­wis­sen Kreis von Be­grif­fen: das ers­te Chris­tent­hum hand­habt nur jü­disch-se­mi­ti­sche Be­grif­fe (– das Es­sen und Trin­ken beim Abend­mahl ge­hört da­hin, je­ner von der Kir­che, wie al­les Jü­di­sche, so schlimm miß­brauch­te Be­griff). Aber man hüte sich, dar­in mehr als eine Zei­chen­re­de, eine Se­mio­tik, eine Ge­le­gen­heit zu Gleich­nis­sen zu sehn. Gera­de, daß kein Wort wört­lich ge­nom­men wird, ist die­sem Anti-Rea­lis­ten die Vor­be­din­gung, um über­haupt re­den zu kön­nen. Un­ter In­dern wür­de er sich der Sânk­hyam-Be­grif­fe, un­ter Chi­ne­sen der des Laot­se be­dient ha­ben – und kei­nen Un­ter­schied da­bei füh­len. – Man könn­te, mit ei­ni­ger To­le­ranz im Aus­druck, Je­sus einen »frei­en Geist« nen­nen – er macht sich aus al­lem Fes­ten nichts: das Wort töd­tet, Al­les, was fest ist, töd­tet. Der Be­griff, die Er­fah­rung »Le­ben«, wie er sie al­lein kennt, wi­der­strebt bei ihm je­der Art Wort, For­mel, Ge­setz, Glau­be, Dog­ma. Er re­det bloß vom In­ners­ten: »Le­ben« oder »Wahr­heit« oder »Licht« ist sein Wort für das In­ners­te, – al­les Üb­ri­ge, die gan­ze Rea­li­tät, die gan­ze Na­tur, die Spra­che selbst, hat für ihn bloß den Werth ei­nes Zei­chens, ei­nes Gleich­nis­ses. – Man darf sich an die­ser Stel­le durch­aus nicht ver­grei­fen, so groß auch die Ver­füh­rung ist, wel­che im christ­li­chen, will sa­gen kirch­li­chen Vor­urt­heil liegt: ein sol­cher Sym­bo­list par ex­cel­lence steht au­ßer­halb al­ler Re­li­gi­on, al­ler Cult-Be­grif­fe, al­ler His­to­rie, al­ler Na­tur­wis­sen­schaft, al­ler Welt-Er­fah­rung, al­ler Kennt­nis­se, al­ler Po­li­tik, al­ler Psy­cho­lo­gie, al­ler Bü­cher, al­ler Kunst, – sein »Wis­sen« ist eben die rei­ne Thor­heit dar­über, daß es Et­was der­glei­chen giebt. Die Cul­tur ist ihm nicht ein­mal vom Hö­ren­sa­gen be­kannt, er hat kei­nen Kampf ge­gen sie nö­thig, – er ver­neint sie nicht… Das­sel­be gilt vom Staat, von der gan­zen bür­ger­li­chen Ord­nung und Ge­sell­schaft, von der Ar­beit, vom Krie­ge, – er hat nie einen Grund ge­habt, »die Welt« zu ver­nei­nen, er hat den kirch­li­chen Be­griff »Welt« nie ge­ahnt… Das Ver­nei­nen ist eben das ihm ganz Un­mög­li­che –. Ins­glei­chen fehlt die Dia­lek­tik, es fehlt die Vor­stel­lung da­von, daß ein Glau­be, eine »Wahr­heit« durch Grün­de be­wie­sen wer­den könn­te (– sei­ne Be­wei­se sind