Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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ein­zi­ge Rea­li­tät – der Rest ist Zei­chen, um von ihr zu re­den…

      Die Fol­ge ei­nes sol­chen Zu­stan­des pro­ji­cirt sich in eine neue Prak­tik, die ei­gent­lich evan­ge­li­sche Prak­tik. Nicht ein »Glau­be« un­ter­schei­det den Chris­ten: der Christ han­delt, er un­ter­schei­det sich durch ein andres Han­deln. Daß er Dem, der böse ge­gen ihn ist, we­der durch Wort, noch im Her­zen Wi­der­stand leis­tet. Daß er kei­nen Un­ter­schied zwi­schen Frem­den und Ein­hei­mi­schen, zwi­schen Ju­den und Nicht-Ju­den macht (»der Nächs­te« ei­gent­lich der Glau­bens­ge­nos­se, der Jude). Daß er sich ge­gen Nie­man­den er­zürnt, Nie­man­den ge­ring­schätzt. Daß er sich bei Ge­richts­hö­fen we­der sehn läßt, noch in An­spruch neh­men läßt (»nicht schwö­ren«). Daß er sich un­ter kei­nen Um­stän­den, auch nicht im Fal­le be­wie­se­ner Un­treue des Wei­bes, von sei­nem Wei­be schei­det. – Al­les im Grun­de Ein Satz, Al­les Fol­gen Ei­nes In­stinkts. –

      Das Le­ben des Er­lö­sers war nichts Andres als die­se Prak­tik, – sein Tod war auch nichts An­dres… Er hat­te kei­ne For­meln, kei­nen Ri­tus für den Ver­kehr mit Gott mehr nö­thig, – nicht ein­mal das Ge­bet. Er hat mit der gan­zen jü­di­schen Buß- und Ver­söh­nungs-Leh­re ab­ge­rech­net; er weiß, wie es al­lein die Prak­tik des Le­bens ist, mit der man sich »gött­lich«, »se­lig«, »evan­ge­lisch«, je­der­zeit ein »Kind Got­tes« fühlt. Nicht »Buße«, nicht »Ge­bet um Ver­ge­bung« sind Wege zu Gott: die evan­ge­li­sche Prak­tik al­lein führt zu Gott, sie eben ist »Gott«! – Was mit dem Evan­ge­li­um ab­ge­than war, das war das Ju­dent­hum der Be­grif­fe »Sün­de«, »Ver­ge­bung der Sün­de«, »Glau­be«, »Er­lö­sung durch den Glau­ben«, – die gan­ze jü­di­sche Kir­chen-Leh­re war in der »fro­hen Bot­schaft« ver­neint.

      Der tie­fe In­stinkt da­für, wie man le­ben müs­se, um sich »im Him­mel« zu füh­len, um sich »ewig« zu füh­len, wäh­rend man sich bei je­dem an­dern Ver­hal­ten durch­aus nicht »im Him­mel« fühlt: dies al­lein ist die psy­cho­lo­gi­sche Rea­li­tät der »Er­lö­sung«. – Ein neu­er Wan­del, nicht ein neu­er Glau­be…

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      34.

      Wenn ich ir­gend Et­was von die­sem großen Sym­bo­lis­ten ver­ste­he, so ist es Das, daß er nur in­ne­re Rea­li­tä­ten als Rea­li­tä­ten, als »Wahr­hei­ten« nahm, – daß er den Rest, al­les Na­tür­li­che, Zeit­li­che, Räum­li­che, His­to­ri­sche nur als Zei­chen, als Ge­le­gen­heit zu Gleich­nis­sen ver­stand. Der Be­griff »des Men­schen Sohn« ist nicht eine con­cre­te Per­son, die in die Ge­schich­te ge­hört, ir­gend et­was Ein­zel­nes, Ein­ma­li­ges, son­dern eine »ewi­ge« That­säch­lich­keit, ein von dem Zeit­be­griff er­lös­tes psy­cho­lo­gi­sches Sym­bol. Das­sel­be gilt noch ein­mal, und im höchs­ten Sin­ne, von dem Gott die­ses ty­pi­schen Sym­bo­lis­ten, vom »Reich Got­tes«, vom »Him­mel­reich«, von der »Kind­schaft Got­tes«. Nichts ist un­christ­li­cher als die kirch­li­chen Cru­di­tä­ten von ei­nem Gott als Per­son, von ei­nem »Reich Got­tes«, wel­ches kommt, von ei­nem »Him­mel­reich« jen­seits, von ei­nem »Soh­ne Got­tes«, der zwei­ten Per­son der Tri­ni­tät. Dies Al­les ist – man ver­ge­be mir den Aus­druck – die Faust auf dem Auge – oh auf was für ei­nem Auge! – des Evan­ge­li­ums: ein wel­this­to­ri­scher Cy­nis­mus in der Ver­höh­nung des Sym­bol­s… Aber es liegt ja auf der Hand, was mit dem Zei­chen »Va­ter« und »Sohn« an­ge­rührt wird – nicht auf je­der Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort »Sohn« ist der Ein­tritt in das Ge­sammt-Ver­klä­rungs-Ge­fühl al­ler Din­ge (die Se­lig­keit) aus­ge­drückt, mit dem Wort »Va­ter« die­ses Ge­fühl selbst, das Ewig­keits-, das Vollen­dungs-Ge­fühl. – Ich schä­me mich dar­an zu er­in­nern, was die Kir­che aus die­sem Sym­bo­lis­mus ge­macht hat: hat sie nicht eine Am­phi­try­on-Ge­schich­te an die Schwel­le des christ­li­chen »Glau­bens« ge­setzt? Und ein Dog­ma von der »un­be­fleck­ten Emp­fäng­niß« noch oben­drein?… Aber da­mit hat sie die Emp­fäng­niß be­fleckt – –

      Das »Him­mel­reich« ist ein Zu­stand des Her­zens, – nicht Et­was, das »über der Erde« oder »nach dem Tode« kommt. Der gan­ze Be­griff des na­tür­li­chen To­des fehlt im Evan­ge­li­um: der Tod ist kei­ne Brücke, kein Über­gang, er fehlt, weil ei­ner ganz an­dern, bloß schein­ba­ren, bloß zu Zei­chen nütz­li­chen Welt zu­ge­hö­rig. Die »To­des­stun­de« ist kein christ­li­cher Be­griff, – die »Stun­de«, die Zeit, das phy­si­sche Le­ben und sei­ne Kri­sen sind gar nicht vor­han­den für den Leh­rer der »fro­hen Bot­schaft«… Das »Reich Got­tes« ist nichts, das man er­war­tet; es hat kein Ges­tern und kein Über­mor­gen, es kommt nicht in »tau­send Jah­ren«, – es ist eine Er­fah­rung an ei­nem Her­zen; es ist über­all da, es ist nir­gends da…

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      35.

      Die­ser »fro­he Bot­schaf­ter« starb wie er leb­te, wie er lehr­te – nicht um »die Men­schen zu er­lö­sen«, son­dern um zu zei­gen, wie man zu le­ben hat. Die Prak­tik ist es, wel­che er der Mensch­heit hin­ter­ließ: sein Ver­hal­ten vor den Rich­tern, vor den Hä­schern, vor den An­klä­gern und al­ler Art Ver­leum­dung und Hohn, – sein Ver­hal­ten am Kreuz. Er wi­der­steht nicht, er vert­hei­digt nicht sein Recht, er thut kei­nen Schritt, der das Äu­ßers­te von ihm ab­wehrt, mehr noch, er for­dert es her­aus… Und er bit­tet, er lei­det, er liebt mit De­nen, in De­nen, die ihm Bö­ses thun… Nicht sich weh­ren, nicht zür­nen, nicht ver­ant­wort­lich-ma­chen … Son­dern auch nicht dem Bö­sen wi­der­ste­hen, – ihn lie­ben…

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      36.

      – Erst wir, wir frei­ge­wor­de­nen Geis­ter, ha­ben die Voraus­set­zung da­für, Et­was zu ver­stehn, das neun­zehn Jahr­hun­der­te miß­ver­stan­den ha­ben, – jene In­stinkt und Lei­den­schaft ge­wor­de­ne Recht­schaf­fen­heit, wel­che der »hei­li­gen Lüge« noch mehr als je­der an­dern Lüge den Krieg macht… Man war un­säg­lich ent­fernt von uns­rer lie­be­vol­len und vor­sich­ti­gen Neu­tra­li­tät, von je­ner Zucht des Geis­tes, mit der al­lein das Er­rat­hen so frem­der, so zar­ter Din­ge er­mög­licht wird: man woll­te je­der­zeit, mit ei­ner un­ver­schäm­ten Selbst­sucht, nur sei­nen Vort­heil dar­in, man hat aus dem Ge­gen­satz zum Evan­ge­li­um die Kir­che auf­ge­baut…

      Wer nach Zei­chen da­für such­te, daß hin­ter dem großen Wel­ten-Spiel eine iro­ni­sche Gött­lich­keit die Fin­ger hand­ha­be, er fän­de kei­nen klei­nen An­halt in dem un­ge­heu­ren Fra­ge­zei­chen, das Chris­ten­tum heißt. Daß die Mensch­heit vor dem Ge­gen­satz Des­sen auf den Kni­en liegt, was der Ur­sprung, der Sinn, das Recht des Evan­ge­li­ums war, daß sie in dem Be­griff »Kir­che« ge­ra­de Das hei­lig ge­spro­chen hat, was der »fro­he Bot­schaf­ter« als un­ter sich, als hin­ter sich emp­fand – man sucht ver­ge­bens nach ei­ner grö­ße­ren Form wel­this­to­ri­scher Iro­nie – –

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      37.

      – Un­ser Zeit­al­ter ist stolz auf sei­nen his­to­ri­schen Sinn: wie hat es sich den Un­sinn glaub­lich ma­chen kön­nen, daß an dem An­fan­ge des Chris­ten­tums die gro­be Wun­dert­hä­ter- und Er­lö­ser-Fa­bel steht, – und daß al­les Spi­ri­tua­le und Sym­bo­li­sche erst eine spä­te­re Ent­wick­lung ist? Um­ge­kehrt: die Ge­schich­te des Chris­ten­tums – und zwar vom Tode am Kreu­ze an – ist die Ge­schich­te des schritt­wei­se im­mer grö­be­ren Miß­ver­stehns ei­nes ur­sprüng­li­chen