einzige Realität – der Rest ist Zeichen, um von ihr zu reden…
Die Folge eines solchen Zustandes projicirt sich in eine neue Praktik, die eigentlich evangelische Praktik. Nicht ein »Glaube« unterscheidet den Christen: der Christ handelt, er unterscheidet sich durch ein andres Handeln. Daß er Dem, der böse gegen ihn ist, weder durch Wort, noch im Herzen Widerstand leistet. Daß er keinen Unterschied zwischen Fremden und Einheimischen, zwischen Juden und Nicht-Juden macht (»der Nächste« eigentlich der Glaubensgenosse, der Jude). Daß er sich gegen Niemanden erzürnt, Niemanden geringschätzt. Daß er sich bei Gerichtshöfen weder sehn läßt, noch in Anspruch nehmen läßt (»nicht schwören«). Daß er sich unter keinen Umständen, auch nicht im Falle bewiesener Untreue des Weibes, von seinem Weibe scheidet. – Alles im Grunde Ein Satz, Alles Folgen Eines Instinkts. –
Das Leben des Erlösers war nichts Andres als diese Praktik, – sein Tod war auch nichts Andres… Er hatte keine Formeln, keinen Ritus für den Verkehr mit Gott mehr nöthig, – nicht einmal das Gebet. Er hat mit der ganzen jüdischen Buß- und Versöhnungs-Lehre abgerechnet; er weiß, wie es allein die Praktik des Lebens ist, mit der man sich »göttlich«, »selig«, »evangelisch«, jederzeit ein »Kind Gottes« fühlt. Nicht »Buße«, nicht »Gebet um Vergebung« sind Wege zu Gott: die evangelische Praktik allein führt zu Gott, sie eben ist »Gott«! – Was mit dem Evangelium abgethan war, das war das Judenthum der Begriffe »Sünde«, »Vergebung der Sünde«, »Glaube«, »Erlösung durch den Glauben«, – die ganze jüdische Kirchen-Lehre war in der »frohen Botschaft« verneint.
Der tiefe Instinkt dafür, wie man leben müsse, um sich »im Himmel« zu fühlen, um sich »ewig« zu fühlen, während man sich bei jedem andern Verhalten durchaus nicht »im Himmel« fühlt: dies allein ist die psychologische Realität der »Erlösung«. – Ein neuer Wandel, nicht ein neuer Glaube…
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34.
Wenn ich irgend Etwas von diesem großen Symbolisten verstehe, so ist es Das, daß er nur innere Realitäten als Realitäten, als »Wahrheiten« nahm, – daß er den Rest, alles Natürliche, Zeitliche, Räumliche, Historische nur als Zeichen, als Gelegenheit zu Gleichnissen verstand. Der Begriff »des Menschen Sohn« ist nicht eine concrete Person, die in die Geschichte gehört, irgend etwas Einzelnes, Einmaliges, sondern eine »ewige« Thatsächlichkeit, ein von dem Zeitbegriff erlöstes psychologisches Symbol. Dasselbe gilt noch einmal, und im höchsten Sinne, von dem Gott dieses typischen Symbolisten, vom »Reich Gottes«, vom »Himmelreich«, von der »Kindschaft Gottes«. Nichts ist unchristlicher als die kirchlichen Cruditäten von einem Gott als Person, von einem »Reich Gottes«, welches kommt, von einem »Himmelreich« jenseits, von einem »Sohne Gottes«, der zweiten Person der Trinität. Dies Alles ist – man vergebe mir den Ausdruck – die Faust auf dem Auge – oh auf was für einem Auge! – des Evangeliums: ein welthistorischer Cynismus in der Verhöhnung des Symbols… Aber es liegt ja auf der Hand, was mit dem Zeichen »Vater« und »Sohn« angerührt wird – nicht auf jeder Hand, ich gebe es zu: mit dem Wort »Sohn« ist der Eintritt in das Gesammt-Verklärungs-Gefühl aller Dinge (die Seligkeit) ausgedrückt, mit dem Wort »Vater« dieses Gefühl selbst, das Ewigkeits-, das Vollendungs-Gefühl. – Ich schäme mich daran zu erinnern, was die Kirche aus diesem Symbolismus gemacht hat: hat sie nicht eine Amphitryon-Geschichte an die Schwelle des christlichen »Glaubens« gesetzt? Und ein Dogma von der »unbefleckten Empfängniß« noch obendrein?… Aber damit hat sie die Empfängniß befleckt – –
Das »Himmelreich« ist ein Zustand des Herzens, – nicht Etwas, das »über der Erde« oder »nach dem Tode« kommt. Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern, bloß scheinbaren, bloß zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die »Todesstunde« ist kein christlicher Begriff, – die »Stunde«, die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der »frohen Botschaft«… Das »Reich Gottes« ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in »tausend Jahren«, – es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da…
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35.
Dieser »frohe Botschafter« starb wie er lebte, wie er lehrte – nicht um »die Menschen zu erlösen«, sondern um zu zeigen, wie man zu leben hat. Die Praktik ist es, welche er der Menschheit hinterließ: sein Verhalten vor den Richtern, vor den Häschern, vor den Anklägern und aller Art Verleumdung und Hohn, – sein Verhalten am Kreuz. Er widersteht nicht, er vertheidigt nicht sein Recht, er thut keinen Schritt, der das Äußerste von ihm abwehrt, mehr noch, er fordert es heraus… Und er bittet, er leidet, er liebt mit Denen, in Denen, die ihm Böses thun… Nicht sich wehren, nicht zürnen, nicht verantwortlich-machen … Sondern auch nicht dem Bösen widerstehen, – ihn lieben…
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36.
– Erst wir, wir freigewordenen Geister, haben die Voraussetzung dafür, Etwas zu verstehn, das neunzehn Jahrhunderte mißverstanden haben, – jene Instinkt und Leidenschaft gewordene Rechtschaffenheit, welche der »heiligen Lüge« noch mehr als jeder andern Lüge den Krieg macht… Man war unsäglich entfernt von unsrer liebevollen und vorsichtigen Neutralität, von jener Zucht des Geistes, mit der allein das Errathen so fremder, so zarter Dinge ermöglicht wird: man wollte jederzeit, mit einer unverschämten Selbstsucht, nur seinen Vortheil darin, man hat aus dem Gegensatz zum Evangelium die Kirche aufgebaut…
Wer nach Zeichen dafür suchte, daß hinter dem großen Welten-Spiel eine ironische Göttlichkeit die Finger handhabe, er fände keinen kleinen Anhalt in dem ungeheuren Fragezeichen, das Christentum heißt. Daß die Menschheit vor dem Gegensatz Dessen auf den Knien liegt, was der Ursprung, der Sinn, das Recht des Evangeliums war, daß sie in dem Begriff »Kirche« gerade Das heilig gesprochen hat, was der »frohe Botschafter« als unter sich, als hinter sich empfand – man sucht vergebens nach einer größeren Form welthistorischer Ironie – –
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37.
– Unser Zeitalter ist stolz auf seinen historischen Sinn: wie hat es sich den Unsinn glaublich machen können, daß an dem Anfange des Christentums die grobe Wunderthäter- und Erlöser-Fabel steht, – und daß alles Spirituale und Symbolische erst eine spätere Entwicklung ist? Umgekehrt: die Geschichte des Christentums – und zwar vom Tode am Kreuze an – ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Mißverstehns eines ursprünglichen