Menschlichkeit. – Die christlichen – die vornehmen Werthe: erst wir, wir freigewordnen Geister, haben diesen größten Werth-Gegensatz, den es giebt, wiederhergestellt! – –
*
38.
– Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer nicht. Es giebt Tage, wo mich ein Gefühl heimsucht, schwärzer als die schwärzeste Melancholie – die Menschen-Verachtung. Und damit ich keinen Zweifel darüber lasse, was ich verachte, wen ich verachte: der Mensch von Heute ist es, der Mensch, mit dem ich verhängnißvoll gleichzeitig bin. Der Mensch von Heute – ich ersticke an seinem unreinen Athem… Gegen das Vergangne bin ich, gleich allen Erkennenden, von einer großen Toleranz, das heißt großmüthigen Selbstbezwingung: ich gehe durch die Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende, heiße sie nun »Christenthum«, »christlicher Glaube«, »christliche Kirche«, mit einer düsteren Vorsicht hindurch, – ich hüte mich, die Menschheit für ihre Geisteskrankheiten verantwortlich zu machen. Aber mein Gefühl schlägt um, bricht heraus, sobald ich in die neuere Zeit, in unsre Zeit eintrete. Unsre Zeit ist wissend… Was ehemals bloß krank war, heute ward es unanständig, – es ist unanständig, heute Christ zu sein. Und hier beginnt mein Ekel. – Ich sehe mich um: es ist kein Wort von Dem mehr übrig geblieben, was ehemals »Wahrheit« hieß, wir halten es nicht mehr aus, wenn ein Priester das Wort »Wahrheit« auch nur in den Mund nimmt. Selbst bei dem bescheidensten Anspruch auf Rechtschaffenheit muß man heute wissen, daß ein Theologe, ein Priester, ein Papst mit jedem Satz, den er spricht, nicht nur irrt, sondern lügt, – daß es ihm nicht mehr freisteht, aus »Unschuld«, aus »Unwissenheit« zu lügen. Auch der Priester weiß, so gut es Jedermann weiß, daß es keinen »Gott« mehr giebt, keinen »Sünder«, keinen »Erlöser«, – daß »freier Wille«, »sittliche Weltordnung« Lügen sind: – der Ernst, die tiefe Selbstüberwindung des Geistes erlaubt Niemandem mehr, hierüber nicht zu wissen… Alle Begriffe der Kirche sind erkannt als Das, was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es giebt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu entwerthen; der Priester selbst ist erkannt als Das, was er ist, als die gefährlichste Art Parasit, als die eigentliche Giftspinne des Lebens… Wir wissen, unser Gewissen weiß es heute –, was überhaupt jene unheimlichen Erfindungen der Priester und der Kirche werth sind, wozu sie dienten, mit denen jener Zustand von Selbstschändung der Menschheit erreicht worden ist, der Ekel vor ihrem Anblick machen kann – die Begriffe »Jenseits«, »jüngstes Gericht«, »Unsterblichkeit der Seele«, die »Seele« selbst: es sind Folter-Instrumente, es sind Systeme von Grausamkeiten, vermöge deren der Priester Herr wurde, Herr blieb… Jedermann weiß das: und trotzdem bleibt Alles beim Alten. Wohin kam das letzte Gefühl von Anstand, von Achtung vor sich selbst, wenn unsre Staatsmänner sogar, eine sonst sehr unbefangne Art Mensch und Antichristen der That durch und durch, sich heute noch Christen nennen und zum Abendmahl gehn?… Ein junger Fürst an der Spitze seiner Regimenter, prachtvoll als Ausdruck der Selbstsucht und Selbstüberhebung seines Volks, – aber, ohne jede Scham, sich als Christen bekennend!… Wen verneint denn das Christentum? was heißt es »Welt«? Daß man Soldat, daß man Richter, daß man Patriot ist; daß man sich wehrt; daß man auf seine Ehre hält; daß man seinen Vortheil will; daß man stolz ist… Jede Praktik jedes Augenblicks, jeder Instinkt, jede zur That werdende Wertschätzung ist heute antichristlich: was für eine Mißgeburt von Falschheit muß der moderne Mensch sein, daß er sich trotzdem nicht schämt, Christ noch zu heißen! – – –
*
39.
– Ich kehre zurück, ich erzähle die echte Geschichte des Christenthums. – Das Wort schon »Christenthum« ist ein Mißverständniß –, im Grunde gab es nur Einen Christen, und der starb am Kreuz. Das »Evangelium« starb am Kreuz. Was von diesem Augenblick an »Evangelium« heißt, war bereits der Gegensatz Dessen, was er gelebt: eine » schlimme Botschaft«, ein Dysangelium. Es ist falsch bis zum Unsinn, wenn man in einem »Glauben«, etwa im Glauben an die Erlösung durch Christus das Abzeichen des Christen sieht: bloß die christliche Praktik, ein Leben so wie Der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich… Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein… Nicht ein Glauben, sondern ein Thun, ein Vieles- nicht-thun vor Allem, ein andres Sein… Bewußtseins-Zustände, irgend ein Glauben, ein Für-wahr-halten zum Beispiel – jeder Psycholog weiß das – sind ja vollkommen gleichgültig und fünften Ranges gegen den Werth der Instinkte: strenger geredet, der ganze Begriff geistiger Ursächlichkeit ist falsch. Das Christ-sein, die Christlichkeit auf ein Für-wahr-halten, auf eine bloße Bewußtseins-Phänomenalität reduciren heißt die Christlichkeit negiren. In der That gab es gar keine Christen. Der »Christ«, Das, was seit zwei Jahrtausenden Christ heißt, ist bloß ein psychologisches Selbst-Mißverständniß. Genauer zugesehn, herrschten in ihm, trotz allem »Glauben«, bloß die Instinkte – und was für Instinkte! – Der »Glaube« war zu allen Zeiten, beispielsweise bei Luther, nur ein Mantel, ein Vorwand, ein Vorhang, hinter dem die Instinkte ihr Spiel spielten –, eine kluge Blindheit über die Herrschaft gewisser Instinkte… Der »Glaube« – ich nannte ihn schon die eigentliche christliche Klugheit, – man sprach immer vom »Glauben«, man that immer nur vom Instinkte… In der Vorstellungswelt des Christen kommt Nichts vor, was die Wirklichkeit auch nur anrührte: dagegen erkannten wir im Instinkt-Haß gegen jede Wirklichkeit das treibende, das einzig treibende Element in der Wurzel des Christenthums. Was folgt daraus? Daß auch in psychologicis hier der Irrthum radikal, das heißt wesen-bestimmend, das heißt Substanz ist. Ein Begriff hier weg, eine einzige Realität an dessen Stelle – und das ganze Christentum rollt in’s Nichts! – Aus der Höhe gesehn, bleibt diese fremdartigste aller Thatsachen, eine durch Irrthümer nicht nur bedingte, sondern nur in schädlichen, nur in leben- und herzvergiftenden Irrthümern erfinderische und selbst geniale Religion ein Schauspiel für Götter, – für jene Gottheiten, welche zugleich Philosophen sind, und denen ich zum Beispiel bei jenen berühmten Zwiegesprächen auf Naxos begegnet bin. Im Augenblick, wo der Ekel von ihnen weicht (– und von uns!), werden sie dankbar für das Schauspiel des Christen: das erbärmliche kleine Gestirn, das Erde heißt, verdient vielleicht allein um dieses curiosen Falls willen einen göttlichen Blick, eine göttliche Antheilnahme … Unterschätzen wir nämlich den Christen nicht: der Christ, falsch bis zur Unschuld, ist weit über dem Affen, – in Hinsicht auf Christen wird eine bekannte Herkunfts-Theorie zur bloßen Artigkeit …
*
40.
– Das Verhängnis; des Evangeliums entschied sich mit dem Tode, – es