Фридрих Вильгельм Ницше

Gesammelte Werke


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was uns schäd­lich ist, in der Ein­rich­tung der Le­bens­wei­se, Ver­tei­lung des Ta­ges, Zeit und Aus­wahl des Ver­keh­res, in Be­ruf und Muße, Be­feh­len und Ge­hor­chen, Na­tur- und Kun­st­emp­fin­den, Es­sen, Schla­fen und Nach­den­ken; im Kleins­ten und All­täg­lichs­ten un­wis­sen­d zu sein und kei­ne schar­fen Au­gen zu ha­ben – das ist es, was die Erde für so vie­le zu ei­ner "Wie­se des Un­heils" macht. Man sage nicht, es lie­ge hier wie über­all an der mensch­li­chen Un­ver­nunft: viel­mehr – Ver­nunft ge­nug und über­ge­nug ist da, aber sie wird falsch ge­rich­tet und künst­lich von je­nen klei­nen und al­ler­nächs­ten Din­gen ab­ge­lenkt. Pries­ter und Leh­rer, und die sub­li­me Herrsch­sucht der Idea­lis­ten je­der Art, der grö­be­ren und fei­ne­ren, re­den schon dem Kin­de ein, es kom­me auf et­was ganz an­de­res an: auf das Heil der See­le den Staats­dienst, die För­de­rung der Wis­sen­schaft oder auf An­se­hen und Be­sitz, als die Mit­tel, der gan­zen Mensch­heit Diens­te zu er­wei­sen, wäh­rend das Be­dürf­nis des ein­zel­nen, sei­ne große und klei­ne Not in­ner­halb der vier­und­zwan­zig Ta­ge­s­stun­den et­was Verächt­li­ches oder Gleich­gül­ti­ges sei. – So­kra­tes schon wehr­te sich mit al­len Kräf­ten ge­gen die­se hoch­mü­ti­ge Ver­nach­läs­si­gung des Men­sch­li­chen zu­guns­ten des Men­schen und lieb­te es, mit ei­nem Wor­te Ho­mers, an den wirk­li­chen Um­kreis und In­be­griff al­les Sor­gens und Nach­den­kens zu mah­nen: das ist es und nur das, sag­te er, "was mir zu Hau­se an Gu­tem und Schlim­mem be­geg­net".

      Zwei Trost­mit­tel. – Epi­kur, der See­len-Be­schwich­ti­ger des spä­te­ren Al­ter­tums, hat­te jene wun­der­vol­le Ein­sicht, die heut­zu­ta­ge im­mer noch so sel­ten zu fin­den ist, daß zur Be­ru­hi­gung des Ge­müts die Lö­sung der letz­ten und äu­ßers­ten theo­re­ti­schen Fra­gen gar nicht nö­tig sei. So ge­nüg­te es ihm, sol­chen, wel­che "die Göt­terangst" quäl­te, zu sa­gen: "wenn es Göt­ter gibt, so be­küm­mern sie sich nicht um uns", – an­statt über die letz­te Fra­ge, ob es Göt­ter über­haupt gebe, un­frucht­bar und aus der Fer­ne zu dis­pu­tie­ren. Jene Po­si­ti­on ist viel güns­ti­ger und mäch­ti­ger: man gibt dem an­dern ei­ni­ge Schrit­te vor und macht ihn so zum Hö­ren und Be­her­zi­gen gut­wil­li­ger. So­bald er sich aber an­schickt das Ge­gen­teil zu be­wei­sen – daß die Göt­ter sich um uns be­küm­mern –, in wel­che Irr­sa­le und Dorn­ge­bü­sche muß der Arme ge­ra­ten, ganz von sel­ber, ohne die List des Un­ter­red­ners, der nur ge­nug Hu­ma­ni­tät und Fein­heit ha­ben muß, um sein Mit­lei­den an die­sem Schau­spie­le zu ver­ber­gen. Zu­letzt kommt je­ner an­de­re zum Ekel, dem stärks­ten Ar­gu­ment ge­gen je­den Satz, zum Ekel an sei­ner ei­ge­nen Be­haup­tung; er wird kalt und geht fort mit der­sel­ben Stim­mung, wie sie auch der rei­ne Athe­ist hat: "was ge­hen mich ei­gent­lich die Göt­ter an! hole sie der Teu­fel!" – In an­de­ren Fäl­len, na­ment­lich wenn eine halb phy­si­sche, halb mo­ra­li­sche Hy­po­the­se das Ge­müt ver­düs­tert hat­te, wi­der­leg­te er nicht die­se Hy­po­the­se, son­dern ge­stand ein, daß es wohl so sein kön­ne: aber es gebe noch eine zwei­te Hy­po­the­se, um die­sel­be Er­schei­nung zu er­klä­ren; viel­leicht kön­ne es sich auch noch an­ders ver­hal­ten. Die Mehr­heit der Hy­po­the­sen ge­nügt auch in un­se­rer Zeit noch, zum Bei­spiel über die Her­kunft der Ge­wis­sens­bis­se, um je­nen Schat­ten von der See­le zu neh­men, der aus dem Nach­grü­beln über eine ein­zi­ge, al­lein sicht­ba­re und da­durch hun­dert­fach über­schätz­te Hy­po­the­se so leicht ent­steht. – Wer also Trost zu spen­den wünscht, an Un­glück­li­che, Übel­tä­ter, Hy­po­chon­der, Ster­ben­de, möge sich der bei­den be­ru­hi­gen­den Wen­dun­gen Epi­kurs er­in­nern, wel­che auf sehr vie­le Fra­gen sich an­wen­den las­sen. In der ein­fachs­ten Form wür­den sie etwa lau­ten: ers­tens, ge­setzt es ver­hält sich so, so geht es uns nichts an; zwei­tens: es kann so sein, es kann aber auch an­ders sein.

      In der Nacht. – So­bald die Nacht her­ein­bricht, ver­än­dert sich un­se­re Emp­fin­dung über die nächs­ten Din­ge. Da ist der Wind, der wie auf ver­bo­te­nen We­gen um­geht, flüs­ternd, wie et­was su­chend, ver­dros­sen, weil er’s nicht fin­det. Da ist das Lam­pen­licht, mit trü­bem röt­li­chem Schei­ne, er­mü­det bli­ckend, der Nacht un­gern wi­der­stre­bend, ein un­ge­dul­di­ger Skla­ve des wa­chen Men­schen. Da sind die Atem­zü­ge des Schla­fen­den, ihr schau­er­li­cher Takt, zu der eine im­mer wie­der­keh­ren­de Sor­ge die Me­lo­die zu bla­sen scheint, – wir hö­ren sie nicht, aber wenn die Brust des Schla­fen­den sich hebt, so füh­len wir uns ge­schnür­ten Her­zens, und wenn der Atem sinkt und fast ins To­ten­stil­le erstirbt, sa­gen wir uns "ruhe ein we­nig, du ar­mer ge­quäl­ter Geist!" – wir wün­schen al­lem Le­ben­den, weil es so ge­drückt lebt, eine ewi­ge Ruhe; die Nacht über­re­det zum Tode. – Wenn die Men­schen der Son­ne ent­behr­ten und mit Mond­licht und Öl den Kampf ge­gen die Nacht führ­ten, wel­che Phi­lo­so­phie wür­de um sie ih­ren Schlei­er hül­len! Man merkt es ja dem geis­ti­gen und see­li­schen We­sen des Men­schen schon zu sehr an, wie es durch die Hälf­te Dun­kel­heit und Son­nen-Ent­beh­rung, von der das Le­ben um­flort wird, im gan­zen ver­düs­tert ist.

      Wo die Leh­re von der Frei­heit des Wil­lens ent­stan­den ist. – Über dem einen steht die Not­wen­dig­keit in der Ge­stalt sei­ner Lei­den­schaf­ten, über dem an­dern als Ge­wohn­heit zu hö­ren und zu ge­hor­chen, über dem drit­ten als lo­gi­sches Ge­wis­sen, über dem vier­ten als Lau­ne und mut­wil­li­ges Be­ha­gen an Sei­ten­sprün­gen. Von die­sen vie­ren wird aber ge­ra­de da die Frei­heit ih­res Wil­lens ge­sucht, wo je­der von ih­nen am fes­tes­ten ge­bun­den ist: es ist, als ob der Sei­den­wurm die Frei­heit sei­nes wil­lens ge­ra­de im Spin­nen such­te. Wo­her kommt dies? Er­sicht­lich da­her, daß je­der sich dort am meis­ten für frei hält, wo sein Le­bens­ge­fühl am größ­ten ist, also, wie ge­sagt, bald in der Lei­den­schaft, bald in der Pf­licht, bald in der Er­kennt­nis, bald im Mut­wil­len. Das, wo­durch der ein­zel­ne Mensch stark ist, worin er sich be­lebt fühlt, meint er un­will­kür­lich, müs­se auch im­mer das Ele­ment sei­ner Frei­heit sein: er rech­net Ab­hän­gig­keit und Stumpf­sinn, Un­ab­hän­gig­keit und Le­bens­ge­fühl als not­wen­di­ge Paa­re zu­sam­men. – Hier wird eine Er­fah­rung, die der Mensch im ge­sell­schaft­lich-po­li­ti­schen Ge­bie­te ge­macht hat, fälsch­lich auf das al­ler­letz­te me­ta­phy­si­sche Ge­biet über­tra­gen: dort ist der star­ke Mann auch der freie Mann, dort ist le­ben­di­ges Ge­fühl von Freu­de und Leid, Höhe des Hof­fens, Kühn­heit des Be­geh­rens, Mäch­tig­keit des Has­sens das Zu­be­hör der Herr­schen­den und Un­ab­hän­gi­gen, wäh­rend der Un­ter­wor­fe­ne, der Skla­ve, ge­drückt und stumpf lebt. – Die Leh­re von der Frei­heit des Wil­lens ist eine Er­fin­dung herr­schen­der Stän­de.

      Kei­ne neu­en Ket­ten füh­len. – So lan­ge wir nicht füh­len, daß wir ir­gend wo­von ab­hän­gen, hal­ten wir uns für un­ab­hän­gig: ein Fehl­schluß, wel­cher zeigt, wie stolz und herrsch­süch­tig der Mensch ist. Denn er nimmt hier an, daß er un­ter al­len Um­stän­den die Ab­hän­gig­keit, so­bald er sie er­lei­de, mer­ken und er­ken­nen müs­se, un­ter der Voraus­set­zung, daß er in der Un­ab­hän­gig­keit für ge­wöhn­lich lebe und so­fort,