dieses ganzen Treibens, der sogenannten »Civilisation«, immer leichter wird, daß der Einzelne angesichts dieser ungeheuren Maschinerie verzagt und sich unterwirft.
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34.
Der moderne Pessimismus ist ein Ausdruck von der Nutzlosigkeit der modernen Welt, – nicht der Welt und des Daseins.
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35.
Das »Übergewicht von Leid über Lust« oder das Umgekehrte (der Hedonismus): diese beiden Lehren sind selbst schon Wegweiser zum Nihilismus …
Denn hier wird in beiden Fällen kein anderer letzter Sinn gesetzt, als die Lust- oder Unlust-Erscheinung.
Aber so redet eine Art Mensch, die es nicht mehr wagt, einen Willen, eine Absicht, einen Sinn zu setzen: – für jede gesündere Art Mensch mißt sich der Werth des Lebens schlechterdings nicht am Maaße dieser Nebensachen. Und ein Übergewicht von Leid wäre möglich und trotzdem ein mächtiger Wille, ein Ja-sagen zum Leben, ein Nöthig-Haben dieses Übergewichts. »Das Leben lohnt sich nicht«; »Resignation«; »warum sind die Thränen?« – eine schwächliche und sentimentale Denkweise. »Un monstre gai vaut mieux qu’un sentimental ennuyeux.«
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36.
Der philosophische Nihilist ist der Überzeugung, daß alles Geschehen sinnlos und umsonstig ist; und es sollte kein sinnloses und umsonstiges Sein geben. Aber woher dieses: Es sollte nicht? Wer woher nimmt man diesen »Sinn«, dieses Maaß? – Der Nihilist meint im Grunde, der Hinblick auf ein solches ödes, nutzloses Sein wirke auf einen Philosophen unbefriedigend, öde, verzweifelt. Eine solche Einsicht widerspricht unserer feineren Sensibilität als Philosophen. ES läuft auf die absurde Werthung hinaus: der Charakter des Daseins müßte dem Philosophen Vergnügen machen, wenn anders es zu Recht bestehen soll …
Nun ist leicht zu begreifen, daß Vergnügen und Unlust innerhalb des Geschehens nur den Sinn von Mitteln haben können: es bliebe übrig zu fragen, ob wir den »Sinn«, »Zweck« überhaupt sehen könnten, ob nicht die Frage der Sinnlosigkeit oder ihres Gegentheils für uns unlösbar ist. –
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37.
Entwicklung des Pessimismus zum Nihilismus. – Entnatürlichung der Werthe. Scholastik der Werthe. Die Werthe, losgelöst, idealistisch, statt das Thun zu beherrschen und zu führen, wenden sich verurtheilend gegen das Thun.
Gegensätze eingelegt an Stelle der natürlichen Grade und Ränge. Haß auf die Rangordnung. Die Gegensätze sind einem pöbelhaften Zeitalter gemäß, weil leichter faßlich.
Die verworfene Welt, angesichts einer künstlich erbauten »wahren, werthvollen«. – Endlich: man entdeckt, aus welchem Material man die »wahre Welt« gebaut hat: und nun hat man nur die verworfene übrig und rechnet jene höchste Enttäuschung mit ein auf das Conto ihrer Verwerflichkeit.
Damit ist der Nihilismus da: man hat die richtenden Werthe übrig behalten – und nichts weiter!
Hier entsteht das Problem der Stärke und der Schwäche:
1. die Schwachen zerbrechen daran;
2. die Stärkeren zerstören, was nicht zerbricht;
3. die Stärksten überwinden die richtenden Werthe.
Das zusammen macht das tragische Zeitalter aus.
3. Die nihilistische Bewegung als Ausdruck der décadance
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38
Man hat neuerdings mit einem zufälligen und in jedem Betracht unzutreffenden Wort viel Mißbrauch getrieben: man redet überall von »Pessimismus«, man kämpft um die Frage, auf die es Antworten geben müsse, wer Recht habe, der Pessimismus oder der Optimismus.
Man hat nicht begriffen, was doch mit Händen zu greifen: daß Pessimismus kein Problem, sondern ein Symptom ist, – daß der Name ersetzt werden müsse durch »Nihilismus«, – daß die Frage, ob Nichtsein besser ist als Sein, selbst schon eine Krankheit, ein Niedergangs-Unzeichen, eine Idiosynkrasie ist.
Die nihilistische Bewegung ist nur der Ausdruck einer physiologischen décadence.
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39
Zu begreifen: – Daß alle Art Verfall und Erkrankung fortwährend an den Gesammt-Werthurtheilen mitgearbeitet hat: daß in den herrschend gewordnen Werthurtheilen die décadence sogar zum Übergewicht gekommen ist: daß wir nicht nur gegen die Folgezustände alles gegenwärtigen Elends von Entartung zu kämpfen haben, sondern alle bisherige décadence rückständig, das heißt lebendig geblieben ist. Eine solche Gesammt-Abirrung der Menschheit von ihren Grundinstinkten, eine solche Gesammt-décadence des Werthurtheils ist das Fragezeichen par excellence, das eigentliche Räthsel, das das Thier »Mensch« dem Philosophen aufgiebt.
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Begriff »décadence«. – Der Abfall, verfall, Ausschuß ist Nichts, was an sich zu verurtheilen wäre: er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens, des Wachsthums an Leben. Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand, sie abzuschaffenen. Die Vernunft will umgekehrt, daß ihr ihr Recht wird.
Es ist eine Schmach für alle socialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Combinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Noth nicht mehr wüchse… Aber das heißt das Leben verurtheilen … Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben. Und noch in ihrer besten Kraft muß sie Unrath und Abfallsstoffe bilden. Je energischer und kühner sie vorgeht, umso reicher wird sie an Mißglückten, an Mißgebilden sein, umso näher dem Niedergang sein… Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. Das Laster auch nicht.
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Grundeinsicht über das Wesen der décadence: was man bisher als deren Ursachen angesehen hat, sind deren Folgen.
Damit