Grundfrage die bisherigen obersten Werthe? Die Philosophie, die Religion, die Moral, die Kunst u.s.w.
(Die Cur: z.B. Militarismus, von Napoleon an, der in der Civilisation seine natürliche Feindin sah.)
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Was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen.
Aber auch, was man als Heilmittel gegen die Entartung betrachtet, sind nur Palliative gegen gewisse Wirkungen derselben: die »Geheilten« sind nur ein Typus der Degenerirten.
Folgen der décadence: das Laster – die Lasterhaftigkeit; die Krankheit – die Krankhaftigkeit; das Verbrechen – die Criminalität; das Cölibat – die Sterilität; der Hysterismus – die Willensschwäche; der Alkoholismus; der Pessimismus; der Anarchismus; die Libertinage (auch die geistige). Die Verleumder, Untergraber, Anzweifler, Zerstörer.
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43.
Zum Begriff »décadence«.
1) Die Skepsis ist eine Folge der décadence: ebenso wie die Libertinage des Geistes.
2) Die Corruption der Sitten ist eine Folge der décadence (Schwäche des Willens, Bedürfniß starker Reizmittel –).
3) Die Curmethoden, die psychologischen und moralischen, verändern nicht den Gang der décadence, sie halten nicht auf, sie sind physiologisch null –:
Einsicht in die große Nullität dieser anmaßlichen »Reaktionen«; es sind Formen der Narkotisirung gegen gewisse fatale Folge-Erscheinungen; sie bringen das morbide Element nicht heraus; sie sind oft heroische Versuche, den Menschen der décadence zu annulliren, ein Minimum seiner Schädlichkeit durchzusetzen.
4) Der Nihilismus ist keine Ursache, sondern nur die Logik der décadence.
5) Der »Gute« und der »Schlechte« sind nur zwei Typen der décadence: sie halten zu einander in allen Grundphänomenen.
6) Die sociale Frage ist eine Folge der décadence.
?) Die Krankheiten, vor allen die Nerven- und Kopfkrankheiten, sind Anzeichen, daß die Defensiv-Kraft der starken Natur fehlt; ebendafür spricht die Irritabilität, sodaß Lust und Unlust die Vordergrunds-Probleme werden.
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Allgemeinste Typen der décadence
1) man wählt, im Glauben, Heilmittel zu wählen, Das, was die Erschöpfung beschleunigt; – dahin gehört das Christenthum (um den größten Fall des fehlgreifenden Instinkts zu nennen); – dahin gehört der »Fortschritt« –
2) man verliert die Widerstands-Kraft gegen die Reize, – man wird bedingt durch die Zufälle: man vergröbert und vergrößert die Erlebnisse in’s Ungeheure… eine »Entpersönlichung«, eine Disgregation des Willens; – dahin gehört eine ganze Art Moral, die altruistische, die, welche das Mitleiden im Munde führt: an der das Wesentliche die Schwäche der Persönlichkeit ist, sodaß sie mitklingt und wie eine überreizte Saite beständig zittert … eine extreme Irritabilität …
3) man verwechselt Ursache und Wirkung: man versteht die décadence nicht als physiologisch und sieht in ihren Folgen die eigentliche Ursache des Sich-schlecht-befindens; – dahin gehört die ganze religiöse Moral …
4) man ersehnt einen Zustand, wo man nicht mehr leidet: das Leben wird thatsächlich als Grund zu Übeln empfunden, – man taxirt die bewußtlosen, gefühllosen Zustände (Schlaf, Ohnmacht) unvergleichlich werthvoller, als die bewußten; daraus eine Methodik …
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Zur Hygiene der »Schwachen«. – Alles, was in der Schwäche gethan wird, mißräth. Moral: Nichts thun. Nur ist das Schlimme, daß gerade die Kraft, das Thun auszuhängen, nicht zu reagiren, am stärksten krank ist unter dem Einfluß der Schwäche: daß man nie schneller, nie blinder reagirt als dann, wenn man gar nicht reagiren sollte …
Die Stärke einer Natur zeigt sich im Abwarten und Aufschieben der Reaktion: eine gewisse άδιαφορία ist ihr so zu eigen, wie der Schwäche die Unfreiheit der Gegenbewegung, die Plötzlichkeit, Unhemmbarkeit der »Handlung« … Der Wille ist schwach: und das Recept, um dumme Sachen zu verhüten, wäre, starken Willen zu haben und Nichts zu thun – Contradictio. Eine Art Selbstzerstörung, der Instinkt der Erhaltung ist compromittirt … Der Schwache schadet sich selber … Das ist der Typus der décadence…
Tatsächlich finden wir ein ungeheures Nachdenken über Praktiken, die Impassibilität zu provociren. Der Instinkt ist insofern auf richtiger Spur, als Nichts thun nützlicher ist, als Etwas thun …
Alle Praktiken der Orden, der solitären Philosophen, der Fakirs sind von dem richtigen Werthmaaße eingegeben, daß eine gewisse Art Mensch sich noch am meisten nützt, wenn sie sich so viel wie möglich hindert, zu handeln –
Erleichterungsmittel: der absolute Gehorsam, die machinale Thätigkeit, die Separation von Menschen und Dingen, welche ein sofortiges Entschließen und Handeln fordern würden.
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Schwäche des Willens: das ist ein Gleichniß, das irreführen kann. Denn es giebt keinen Willen, und folglich weder einen starken, noch schwachen Willen. Die Vielheit und Disgregation der Antriebe, der Mangel an System unter ihnen resultirt als »schwacher Wille«; die Koordination derselben unter der Vorherrschaft eines einzelnen resultirt als »starker Wille«; – im erstern Falle ist es das Oscilliren und der Mangel an Schwergewicht; im letztern die Präcision und Klarheit der Richtung.
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Was sich vererbt, das ist nicht die Krankheit, sondern die Krankhaftigkeit: die Unkraft im Widerstande gegen die Gefahr schädlicher Einwanderungen u. s. w., die gebrochene Widerstandskraft; moralisch ausgedrückt: die Resignation und Demuth vor dem Feinde.
Ich habe mich gefragt, ob man nicht alle diese obersten Werthe der bisherigen Philosophie, Moral