Robert Musil

Gesammelte Werke


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– Ich würde gerne wissen, wer diese Anrede «Schöne Leserin» erfunden hat u. wann sie in Gebrauch gekommen ist. Ich erinnere mich, daß sie in Büchern oft vorkommt, die so recht ungefähr zwischen den 30er u. den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben worden sein müssen. Besser glaube ich zu fühlen, was diese Anrede bedeutet. Da ist wohl einmal etwas darin von der Schönen Literatur oder der Schönen Wissenschaft, wie man auch früher sagte. Und sodann etwas von jener personifizierenden Romantik (nicht der großen des Novalis), wo die Dichter ihren Novellen u Aufsätzen die Form von Briefen an fingierte schöne Leserinnen gaben u. sich mit dieser schmachtenden Vorstellung ankurbelten. Troubadour Heine, als er über den Brenner reiste, schaute himmelhohe Berge, die ihn ernsthaft ansahen u ihm mit den ungeheuern Häuptern u. langen Wolkenbärten eine glückliche Reise zunickten. Hie u da bemerkte er auch ein fernblaues Berglein, daß sich auf die Fußzehen zu stellen schien u. den anderen Bergen recht neugierig über die Schulter blickte, wahrscheinlich – wie er meint – um ihn zu sehen. So etwas sagt H. nur halb-ironisch. Haben doch Sonne, Nachtigall u Blumen für ihn keinen anderen Zweck, als in seinem Herzen aufzugehen, zu singen u zu blühen. Gerade wenn man das im klugen, im Wesentlichen heutigen H. liest, merkt man, was Zeitmode ist. Er war ein besonderer Geck in dieser Mode. Er beschreibt Landschaftliches nach unseren Begriffen gut, nur wenn er schlecht aufgelegt ist. «Brixen war die zweite größere Stadt Tirols, wo ich einkehrte. Sie liegt in einem Thal, u. als ich ankam, war sie mit Dampf u. Abendschatten übergossen. Dämmernde Stille, melancholisches Glockengebimmel, die Schafe trippelten nach ihren Ställen, die Menschen nach den Kirchen; überall beklemmender Geruch von häßlichen Heiligenbildern u. getrocknetem Heu.» – Da sitzt jeder Strich voll Schärfe u dennoch weicher Sphäre. – Ich besitze die Laubesche Prachtausgabe seiner Werke, die von Wiener Künstlern illustriert ist. Da fallen den fliegenden Amoretten die Pfeile aus dem Köcher, nackte Büblein tanzen mit Schellenkappe u Spiegel, Paletten, Masken, Leiern, Fackeln u. Kielfedern ranken sich um Lorbeer-u Rosenbüsche. Das ist so sinnig, wie es heute kein Mensch aushält. Aber es liegt in der geradlinigen Vergrößerung der Schwächen eines großen Dichters. Laßt uns unserer Sterblichkeit gedenken! – Im übrigen wollte ich damit nur erklären, welches Laster ich mit dem Wort personifizierende Romantik meine. Zu ihr gehört die schöne Leserin, ob sie von ihr erfunden wurde oder nicht. Und außerdem hat sie etwas von der Lieblichkeit des Wanderzirkus, des Balletts u der großen Oper, als in den Pausen der schweren Arbeit die schönen Aktricen Kußhände ins Publikum warfen. Der Dichter tritt an die Rampe, über seinem behaarten Bein wippt das Kelchröcklein aus Gaze, er wirft ein Kußhändchen ins Publikum u sagt Schöne Leserin! – Heute würde er sagen: Oh, Mensch (d. h. natürlich nicht etwa im despektierlichen Sinn, sondern mit dem Augenaufschlag der Liebe.)

      Für das volle Freisein von dieser Romantik (die man nur Romantizismus nennen sollte) liefert ein halbes Menschenalter früher Stendhal das große Gegenbeispiel, der morgens den Code Napoléon las, ehe er die herrlichsten Sätze männlicher Leidenschaft niederschrieb. Das ist zu bekannt, um darüber zu sprechen. Aber ich kenne den an der Strecke Berlin-Bremerhaven liegenden Ort Stendal – so ein wenig Heine-isch habe ich ihn kennengelernt –, der ihn offenbar zu seinem Pseudonym angeregt hat, und ich ärgere mich jedesmal, wenn man den deutschen Namen französisch ausspricht. Vermutlich hat ihn aber auch St. französisch ausgesprochen. Ich besitze aus der Zeit meiner Eltern eine große Ausgabe des Brockhaus u. benutzte die Gelegenheit dieser … um diese Frage endlich aus der Welt zu schaffen. Was las ich? «Stendhal (spr. stangdall) Pseudonym für Beyle (spr. bähl), tiefsinniger franz. Schriftsteller usw.», die ganze Notiz ist sehr kurz, von seinen epischen Leistungen werden die Abbesse de Castro … überhaupt nicht erwähnt, sondern nur Le Rouge et le Noir u La chartreuse de Parme, «in denen sich seine Vorzüge: scharfe Charakteristik, pikanter Stil u Witz, aber auch seine Fehler: Haschen nach Originalität u. Fehlen jeder höheren sittlichen Idee, bezeichnend aussprechen. Sein bedeutendster Schüler Mérimée, der ihn stilistisch überragt –» Also geschrieben 1889

      Wenn 1989 von unserer Zeit nur das Buch … übrig geblieben sein wird, wird man wieder so urteilen. <– Schöner Leser!

      Nachsatz: Ich bin etwas abgekommen. Ich wollte den Roman …

      Das Zeitalter der Dichter (D. Gold. Z.)

[1927 oder später]

      Es gibt die Sage, daß es das Zeitalter der Künste einmal gegeben hat. Oder ist das nur ein Bild aus der Makartzeit? Vielleicht erinnern sich andere besser daran: ich sehe bloß jemand Nackten auf Muscheln blasen: zwischen zwei Ochsenhörner eine Saite gespannt, das ist die Leier; Löwen u Panther gehen über den Rasen u geben acht, daß sie ja nicht eine der eigroßen Blumen knicken, die dort ihre Augen zu den Menschen auf schlagen; als Gesamteindruck hat man etwas entschieden Vortextiles.

      Wunderbare Ironie die den Namen das Goldene Zeitalter für diese goldlose Zeit in Gebrauch gesetzt hat, welche noch nichts von Währung wußte. /.. für die Sehnsucht nach einem goldlosen Zeitalter in Gebrauch gesetzt hat./ Wahrscheinlich schenkte schon in vorgeschichtlichen Zeiten der König, wenn es hoch herging, dem Sänger der genau so wie unsere Dichter heute auf Vortragsreisen ging einen goldenen Becher oder eine Spange von seinem Gewand, u. der Sänger bedankte sich, indem er ein vor-vorgeschichtliches Zeitalter erfand, worin alle Könige u Götter selbst Sänger waren. Denn wenn man sich das Goldene Zeitalter der Künste genau vorstellt, kommt man zu dem Schluß, daß alle Menschen u Tiere damals Geld gehabt haben müssen. Sie tragen etwas ausgesprochen Unbesorgtes um Nahrung u Erwerb zur Schau; sie besitzen zweifellos alles, was sie wünschen, u. haben keine andere Aufgabe mehr als ihre schöne Saturiertheit in künstlichen Gebilden auszuströmen. Das goldene Zeitalter war ein Zeitalter des Amateurismus ohne Professionals; wenn der Dichter gefordert hätte, daß er der Herr der Welt sei – u. sollte dies auch nur eine sagenhafte, vergangene sein – so hätte man ihm Gift zu trinken gegeben, er konnte sich nur so helfen, um seinen Wunschtraum auszusprechen. Und wenn heute, einige tausend Jahre später, die großen Dichter unseres bürgerlichen Zeitalters Bilanz machen wollten, so würde sich erweisen, daß sie noch immer an ein mögliches GZ. glauben u genau in der gleichen Weise, daß die Besitzenden Dichter werden, niemals aber die Dichter Besitzende; sie nennen es indem sie die Forderung bloß etwas mildern /aus dem Sagenhaften zum Möglichen mildern/ Kultur od. Nation od. Humanität, der Textilindustrielle soll ihrer Ansicht nach nicht nur Kammgarn machen, sondern auch ein Liebhaber, Förderer u Schüler der Künste sein.

      F. F. Bl. / Frauenlob

[1927 oder später]

      Don Juan u Quichote, Blaubart, Simson, der Misogyn … unter diesen immer wiederkehrenden Mannesgestalten, welche in Haupt-oder Nebenamt Ausdruck des Verhältnisses der Geschlechter zueinander sind, fehlt seit etlichen Menschenaltern eine: der Frauenlob. Der letzte war Stendhal; nicht weil er über die Physiologie der Liebe schrieb, sondern weil in seiner Poesie die Frau durch unendliche Hindernisse vom Mann getrennt wird und, durch das Feuer des Hungers gesehen, den bezaubernden Glanz der Vision gewinnt. Seither sind wir zwar von Liebesliteratur überschwemmt worden, aber je breiter, desto seichter und nicht anders als wenn ein leergelaufenes großes Behältnis auf den Kopf gestellt u. ganz ausgegossen wird. Wahrhaftig hatte auch inzwischen die menschliche Natur das pompöse Illusionsexperiment, durch das sie seit Jahrtausenden die Liebes-u Schaulustigen anlockte, eingestellt u. arbeitet als Desillusionskünstler, der, in Frack, ohne Hokuspokus vorerst den ganzen Schwindel erklärt u. sich danach doch unterfängt, ihn zustande zu bringen.

      Ob das nun bloß eine Ruhepause ist, welche der Illusionsmüdigkeit gegönnt wird, oder bleiben wird, weiß natürlich kein Mensch; jedenfalls bedeutet aber, was sich 100 Jahre lang vorbereitete und in den letzten Jahren breit etablierte, einen der originellsten Abschnitte in den Beziehungen zwischen Frau u Mann. Sein wichtigstes äußeres Zeichen ist nicht die Annäherung der weiblichen Tracht an den Mann, sondern die Entkleidung der Frau durch den Sport. In ihr drückt sich eine Bewegung aus, welche die ganze weiße Menschheit umfaßt, u. das erotische Element verschwindet neben der Vielfalt dauerhafterer u würdevollerer Motive die von Gleichberechtigung bis zu Volksgesundheit u gesunder Unbefangenheit gegenüber der Natur reichen.

      Man kann sich den reizvollsten sittengeschichtlichen Anschauungsunterricht sogleich bereiten, wenn man neben eine heute gedruckte illustr. Zeitung einen Jahrgang jener alten Familienblätter legt, die sich auf den Dachböden aller Haushalte finden, deren Bestand in die 70er