Robert Musil

Gesammelte Werke


Скачать книгу

ein Paar, das aus dem Kino kommt und sich fragt: «Was fangen wir noch mit diesem Abend an?»: hat es nicht Anspruch wie das Urpaar der Menschheit geehrt zu werden?

      Der Erfolg eines Mannes bei einer Frau beginnt dann, wenn sie ihn bewundert, weil er drei große Stücke Torte zu essen vermag, oder wenn sie dazu lacht, daß er, während sich andere Männer erhitzen, bloß erklärt: «Ich habe dazu nichts zu sagen.»

      Aus der Gesellschaft. Was läßt sich antworten, wenn eine Frau erzählt: «Früher wollte ich immer nach Asien, jetzt gefällt mir Afrika besser!»?

      Aus einem Rapial

[1937]Unschuld der Kreatur

      Wo hört die Unschuld der Kreatur auf? Dort, wo das einer ganzen Tiergattung eingeborene Handeln persönliche Abwandlungen zuläßt und zu zeigen beginnt; also eigentlich mit den ersten Andeutungen von Freiheit, Verantwortung und Intelligenz!

Anfang und Ende

      Daß im Verlauf von Jahrzehnten das klug Begonnene dumm wird, wie es in jedem Volke geschieht, hat dem deutschen Geist weniger geschadet, als daß durch seinen Fleiß das dumm Begonnene allemal nach langer Zeit leidlich klug geworden ist. Wir sind zu fest überzeugt, es müsse immer so zugehn.

Literatur

      Die Wesenlosigkeit der Literatur, ihre Unfruchtbarkeit und die Wurzel dieses Übels finden sich schon, wenngleich ohne Absicht, bei Thomas a Kempis gekennzeichnet, im Kapitel von der Vermeidung überflüssiger Worte, das in der Imitatio Christi steht: «Aber warum sprechen wir so gern und erzählen einander, da wir doch selten zum Schweigen zurückkehren, ohne unser Gewissen verletzt zu haben? Darum sprechen wir so gern, weil wir durch wechselseitige Reden einander zu trösten trachten und unser von verschiedenen Gedanken ermüdetes Herz zu befreien wünschen. Und sehr gern möchten wir von diesen Dingen reden und denken, die wir sehr lieben und begehren oder die uns zuwider sind. Aber ach! oft umsonst und vergeblich. Denn diese äußere Tröstung ist ein nicht geringer Schaden der inneren und göttlichen Tröstung.» So steht es dort und könnte auch von der wahren und falschen Dichtung gesagt sein, obwohl nicht mit einem Wort von ihr die Rede ist.

Grausamkeit

      Lehrt uns nicht unser Leben, daß die Grausamkeit der Menschheit in dem Maße zunimmt, als die Grausamkeit des einzelnen Menschen abgenommen hat? Man hat die Grausamkeit wilder Völker lange mißverstanden; jetzt weiß man, daß sie den stärkeren Teil ihrer Wurzeln in gläubigen oder abergläubischen Vorstellungen hat. Aber nur umso unerklärter ist dann die weitaus gefährlicher gewordene Grausamkeit in der Zivilisation. Sollte am Ende die wirkliche Grausamkeit erst durch die Domestikation und Zivilisation entstehen? Das wilde Tier ist nicht grausam, es handelt zweckmäßig, es tötet, wenn es Hunger hat oder sich bedroht fühlt, und geht in der Kampfhandlung höchstens so weit über das Nötige hinaus, als die Erregung es verständlich sein läßt. Erst wenn ein Trieb nicht mehr der Not dient, schlägt er nach allen Seiten aus und steigert sich unermeßlich. Am grausamsten sind satte Katzen und am wildesten Hunde hinter einem Zaun.

Sonniger Schriftsteller

      Er lobt nicht sich selbst, aber er lobt die Güte des Herrn, die ihn geschaffen hat. Das ist seine Form der Eitelkeit.

Angewandte Dichtung

      Es gibt «angewandte» Wissenschaften, die sich von den ihnen zugrunde liegenden «reinen» in vielem unterscheiden, aber auch Wissenschaft sind: so eine Angewandte Mathematik, eine Angewandte Psychologie und die technischen Wissenschaften. Nicht mit gleichem Recht gibt es auch eine Angewandte Dichtung. Zu ihr gehören alle die Dichter, die sich als Verkünder und Verbreiter einer Weltanschauung und Weltgestaltung fühlen, die nicht von ihnen selbst herrührt. Ferner, um viele Stufen tiefer, alle die, die wirken, das Publikum finden, sich dem Theater anpassen oder ähnliches wollen und sich darauf berufen, daß der Dichter für seine Zeitgenossen schreibe und sich also nach ihnen richten müsse. Sie hat es immer gegeben, und sie sind in der Mehrzahl. Eine völlige Trennung ihrer auf Anwendung bedachten Anschauungen von denen der reinen Dichtung ist nun freilich weder wünschenswert noch hat sie je bestanden; aber wenn sie den Ton angeben und der zugrunde liegende Unterschied nicht beachtet oder gar mißachtet wird, wie es seit langem wieder der Fall ist, verfällt eine Literatur unaufhaltsam.

Gibt es dumme Musik?

      Erst wenn von dem, was an ihr erlernbar und ablernbar ist, abgesehen wird, zeigt sich die Frage, ob Musik dumm sein könne, als kitzlich. Dem einen erscheint es natürlich, weil es doch auch tiefe, ja gedankentiefe Musik gebe; dem andern aber unmöglich, weil es sinnlos sei, das Urteil «dumm» auf Form und Gefühl anzuwenden. Ein unschuldiger kleiner Kunstgriff sei beiden empfohlen, man drehe einmal die Frage um: Ist vielleicht die Dummheit musikalisch? Dauernde Wiederholungen, eigensinniges Beharren auf einem Motiv, Breittreten ihrer Einfälle, Bewegung im Kreis, beschränkte Abwandlung des einmal Erfaßten, Pathos und Heftigkeit statt geistiger Erleuchtung: ohne unbescheiden zu sein, könnte sich die Dummheit darauf berufen, daß dies auch ihre Lieblingseigenheiten sind! Aber, um versöhnlicher zu schließen: die Frage, ob eine große Göttin unter dem Arm kitzlich sei, ist keine für Neugierige, sondern eine für Liebhaber.

Metaphysik der Musik

      In der Metaphysik der Musik sagt Schopenhauer, daß es in der Musik die ganze Welt noch einmal gebe. Alles lasse sich durch Musik sagen … «eine allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft». Nur in dieser Sprache gebe es eine völlige Verständigung unter den Menschen. – Hätte dieser große, ausnahmsweise optimistische Pessimist doch noch das Kino erlebt!

Die Jugend

      Die Jugend überschätzt das Neueste, weil sie sich mit ihm gleichaltrig fühlt. Darum ist es ein zweifaches Unglück, wenn das Neueste zu ihrer Zeit schlecht ist.

Publikumserfolg

      Man sollte meinen, daß es schwerer sei, das Bedeutende zu erkennen, als, wenn es einmal erkannt ist, das Unbedeutende von ihm zu unterscheiden. Die Kunsterfahrung, und wohl auch die allgemeine, lehrt aber immer wieder das Gegenteil; nämlich daß es bei weitem leichter ist, eine Anzahl Menschen auf das Bedeutende zu einen, als sie davon abzuhalten, bei erstbester Gelegenheit das Unbedeutende mit ihm zu verwechseln.

Eklektizismus und historische Gerechtigkeit

      Daß Eklektizismus, der nachfahrende Geschmack, in der Kunst eine so große Rolle spielt, gibt fast ein Scherzrätsel auf, wenn man die Frage so stellt: Wie kommt es, daß sich die schlechten Künstler einer jeden Zeit die guten der Vorzeit zum Muster nehmen, und nicht deren schlechte? Das Rätsel scheint sich zu lösen, wenn man bemerkt, daß an der Stelle von «guten» auch die «anerkannten» stehen müßte. Denn der Eklektiker ist von der allgemeinen Anerkennung abhängig, er ist sogar ihr Ausdruck. Trotzdem hat sich damit die ursprüngliche Frage nur gewandelt, da doch Eklektizismus neben Abhängigkeit zweifellos auch noch den Beibegriff der Gewähltheit enthält. Was er nachmacht, muß nicht nur anerkannt, sondern auch gut sein. Auf diese Weise führt aber die Frage nach dem Eklektizismus auf eine andere. Denn wie kommt es, daß der nachlebende Erfolg den bedeutenden Künstlern gehört?

      Wie kommt es, daß die überschätzten falschen Meister mit der Erneuerung der Zeit ihre Anziehungskraft verlieren und daß die natürliche Lockung, die das Mittelmäßige auf den Mittelmäßigen ausübt, von irgend etwas anderem überwunden wird? Es setzt geradezu voraus, daß sich der schlechte Geschmack früher ändere als der gute. Ja, es setzt sogar voraus, daß er das von selbst tue, so etwa, wie das Sternenlicht nach dem Untergang der grellen Tagessonne hervortritt, und es ist nicht selten eine frohgläubige Rechtfertigung der Menschheit daraus gemacht worden. Kurz gesagt: es ist die sogenannte historische Gerechtigkeit, die sich einstellen soll, wenn die Dinge vorbei sind.

      Gibt es die also? Zum Teil ist sie natürlich bloß eine Erfindung der Historiker, die einstens ihre Tyrannen damit geschreckt haben, daß die Weltgeschichte das Weltgericht sei; zu einer Zeit, wo die Tyrannen noch nicht selbst Schriftsteller waren. In dieser guten alten Zeit standen Politik und Kultur noch zueinander im Gegensatz. Zum andern Teil gibt es aber, woran nicht zu zweifeln ist, wirklich auch einen Klärungsvorgang durch die Zeit, der beständig am Werk ist und in eingeschränktem Maße eine historische Gerechtigkeit und Klugheit genannt werden darf.

      Auch an der üblichen Erklärung dieses Vorgangs, daß seine Ursache in der «Distanz von den Ereignissen» zu suchen sei, ist nichts auszusetzen. Jeder weiß, was es heißt, ein und dieselbe Sache von verschiedenen