Robert Musil

Gesammelte Werke


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dem Muster dieser Erfahrung ist nun die Vorstellung der «Distanz» gebildet, die uns die gesetztere Urteilsreife der Nachwelt erklären soll. Hier ist jedoch, bei der Übertragung aus dem persönlichen Erleben ins Allgemeine, ein kleiner Unterschied zu beachten. Denn es ist nicht sowohl ein Geist, worin dieses Urteil reift, als es vielmehr die geistigen Menschen sind, die es bewirken; und historische Distanz bedeutet, daß sie sich bei uns gewöhnlich erst an den Tisch setzen dürfen, nachdem die Lebendigen gegessen haben. Die historische Gerechtigkeit kommt also hauptsächlich davon, daß sich die gesunden, lebendigen Menschen nicht über die Toten und deren Angelegenheiten aufregen. Dem verdanken wir das, was es an freier Sachlichkeit der Kunstbildung gibt; ja beinahe ließe sich überhaupt sagen, daß überzeitliche Kulturleistungen nicht der Ausdruck ihrer Zeit sind, sondern das, wohin deren Begehrlichkeit nicht gereicht hat, der Inhalt ihrer Vergeßlichkeit und Zerstreutheit.

      Der Eklektizismus wäre dann als ein Mittleres und ein Vermittler zwischen Geist und Begehren zu bestimmen.

      Aus einem Rapial [Nachlass]

      Der Wunsch ist der Vater des Gedankens! Eine Linie der Entwicklung

      Die Entwicklung der psychologischen Anschauungen die in den letzten 50 Jahren, u. schon etwas länger, stattgefunden hat, ist gut zu kennzeichnen als eine Entthronung der Vernunft u. des Verstandes in ihrer Bedeutung für das Seelenleben Menschenleben durch den Affekt. Freud hat das meiste davon bewirkt, trotzdem beherrscht er nur eine Strecke in der Entwicklungslinie, die vor ihm beginnt u. nach ihm enden wird. Vergleicht man die Zeiten vor u nach der Entdeckung des «Unbewußten», so findet sich in beiden, bloß mit entgegengesetztem Vorzeichen, dieselbe Überschätzung des «Bewußten». Heute sieht man es fast bloß als ein schattenhaftes Flämmchen an, das aus dem Talg und Öl eines Nachtlichts erwächst; ehedem spielte es in der Gefühlspsychologie die Rolle einer Bogenlampe, die in einem leeren Zimmer hängt u. nichts als seine Kahlheit sichtbar macht. (Das Zimmer war psychologisch leer u. logisch-moralisch möbliert)

      Die gleiche Entwicklung macht sich bemerklich, wenn der an sich selbst zweifelnde heutige Mensch mit der etwas in ihrem Fett versteiften Privatperson verglichen wird, mit dem Bürger, Hausvater, u. auch noch als Hausvater obrigkeitlichem Vertreter, dessen Gesicht uns durch die Bildnisse erinnerlich wird, aus denen es eingerahmt durch einen hohen Stehkragen blickt, u. durch eine würdevolle Halsbinde. Diese einst scheinbar auf sich selbst beruhende Privatperson ist ein Ergebnis der bürgerlichen Emanzipation, u. man findet u. a. auch ihre Vorbilder in den Romanen Goethes.

      Es ist der Mensch mit dem Stehkragen.

      Führt auch auf Selbstbewußtsein als Persönlichkeit. Ev. auf das frühere Waffentragen.

      Aber diese Entwicklung von der Herrschaft der Vernunft zur Selbstbefragung als ein Wesen, dem die Triebpsychologie als die Lösung seiner selbst erscheint, hat eine wichtige Parallele auch an dem Vertrauensverlust, den das Denken im ganzen erlitten hat u. der sich in seiner denkerischen Behandlung selbst ausdrückt. Es genügt, auf die Entwertung der Objektivität hinzuweisen, um die sich seit einem Menschenalter unzählige Bücher mit höchstem Mißmut u. mehr oder weniger lächerlichen Ersatzangeboten bemüht haben; u. man wird finden, daß schließlich die Verächtlichmachung der Objektivität durch die Politik die dogmatischen u affektiven Exzesse der europ. Politik nur die äußere Entscheidung gemäß einer reifen Entwicklung oder Fehlentwicklung bedeutet.

      u. ihr objektiver Sieg! Macht!

      /Später: Verdrängung der Obj. durch Dogmatik u. >Blut</

      Gegen die Versuchung, diese Entwicklung falsch zu beurteilen, die fast geheimnisvoll-kollektiv aussieht, ist es ein nützliches, u. zugleich das einfachste, Mittel (wie auch nicht wohl ein Allheilmittel) u. läßt viel davon verstehen, daß man sich die schlichte Weisheit vor Augen führt, die irgendmal in den Satz gefaßt worden ist, daß der Wunsch der Vater des Gedankens sei. Dieser Satz ist richtiger als alle zeitgenössischen Theorien /polit.-philosoph. Lehrgebäude/

      –>Folgt eigentlich: Idee – Affekt.

      Ist ja alles nur ausgedacht Ein kleines Anzeichen

      Im Volk kann man hören: Sich etwas ausdenken, sich etwas ausdenken können, als ein Lob, gleichbedeutend mit Erfindungsgabe haben und einfallreich sein. Noch sagt man da mit Stolz: Ist ja alles nur ausgedacht; wie denn auch ein Kind zum andern, nachdem es ihm etwas erzählt hat, mit ehrlicher Freude bekennt: Ist ja alles erlogen! Welch unvolkstümlichen, ja, das Denken widernatürlich entehrenden Ursprungs ist es also, darin eine Auszeichnung zu sehen, daß etwas «nicht nur» ausgedacht sei. Beispiele (sind): Die beliebte Redensart, etwas sei bloß Literatur. Der jedesmal mit Ressentiment (Geringschätzung für) gegen die Literatur vermischte Stolz, mit dem ein Gerichtssaalberichterstatter von seinem Kriminalfall schreibt, daß die Romane des Lebens die tiefsten seien. Eine viel gefährlichere Verwechslung der geistigen Arbeit mit ihrem Stoff liegt aber in der Beliebtheit der biographischen Romane und der romanhaft zugeschnittenen Biographien. [Notiz: In Mpe Germ., Bl. Roman, steht noch: Erst der Gebildete trennt zwischen Denken u Leben, u. der Halbgebildete hat die Diskriminierung des Denkens aufgebracht]

      Diese Gründe verloren gegangen: Wir wissen nicht mehr, wozu das Ausgedachte da ist.

      Überschätzung der Wirkl.

      Seit einem Menschenalter ist das zu hören. Meine Erinnerung daran beginnt mit dem Realismus. Suchte an der Realität Schutz vor der im Leerlauf klappernden Idealität des Eklektizismus jener Zeit. Als Naturalismus in Drama u. Erzählung, Impressionismus in der Malerei. War manchmal etwas übertrieben

      Der Anschluß an die Realität ist (aber) immer ein gutes Prinzip. Von Antäus bis zur Experimentalwissenschaft gewesen. Auch wenn Übertreibungen unterlaufen.

      Wie jeder menschliche Weg wird aber auch dies ein Irrweg Wie in allen menschl. Wahrheiten liegt aber auch in dieser eine Fehlerquelle Die Wirklichkeit enthält neben dem, was an ihr Erde ist, auch Elemente des menschl. Geistes. Sie füllt den Geist, aber sie erscheint schon vom Geist geformt. Eine lange, nicht abgeschlossene Frage; Philosophie. Die eklektische Idealität entspricht nicht bloß nicht der Wirklichkeit, sondern auch der Wahrheit nicht. Sie ist nicht allein durch Naturalismus zu heilen. Dieser hat ihr Substanz zugeführt u. Geist entzogen. (Beau par la vérité ist ein richtigeres Prinzip als beau par la nature, müßte es eigentlich heißen)

      Anderes kommt natürlich hinzu. Wir sehen dann späte Glieder dieser Entwicklung in

      Wirkliche Menschen schildern heißt die Erfindung belehren. Diese muß aber dagewesen sein u. mit aller vorhandenen Erfindung muß dieser Mensch nicht zu verstehen sein. Man muß sehr viel verstehen, u. die Biographie doch wegen dessen schreiben, was man nicht versteht. Anstatt daß man den Menschen mit einer Soße zudeckt.

      Warum schreibt man dann aber einen Roman?

      ? Paradoxon: den Roman schreiben, den man nicht schreiben kann. Schwache Dichter, statt starker, ihrer letzten Schwächen bewußter.

      Idee – Affekt … /Überschrift vorderhand unbestimmt/

      Material: 88 • 24 mit Hinweisen, (sc. Sch. z. Korr. III …)

      I. Das Verhältnis der Idee zur Wirklichkeit – u. nicht nur das persönlicher Ideen, also nicht nur die Frage nach deren Richtigkeit, sondern die Infragestellung der Idee überhaupt – ist ein Problem, auf das der Mensch, der die Nase hochträgt, immer mit der Nase gestoßen wird, mag er ein Erzähler sein, philosophieren oder schlechthin ein unbefriedigtes Gewissen haben.

      II 1. Daß Ideen ohnmächtig seien –: Die Verbreitung dieses Glaubens gehört zu den Verfallserscheinungen des Vernunftideals – Wenn man will: zur Reaktion auf eine gewisse Verballhornung durch den politischen Liberalismus um die Mitte des vorigen Jahrhunderts – So prägt es sich kräftig in der Erscheinung des jungen Bismarck aus (?) u. in seiner Abneigung gegen das Professorenparlament. Die Fortsetzung bis in die jüngste Zeit ist nicht zu verkennen Die Verbreitung dieses Glaubens (oder der Verfall des Vernunftideals) ist (wenn man dem Geist selbst an den Geist rückt) begünstigt durch die Schwierigkeiten, in die sich das freie Denken verwickelt hat: Die moderne Physik. Die Prinzipienfragen der Mathematik. Die Entwicklung der Psychologie, die nichts