augenblicklich so trostlos, wie es trostloser wohl kaum sein konnte – und für Freude hatte sie keinen Sinn.
Wie gern wäre sie in ihrer jetzigen Verfassung zu Holger geeilt, hätte ihren Kopf müde an seine Schulter gelegt und gebeten: Hilf mir! Ich weiß nicht mehr aus noch ein in banger Sorge um mein Kind.
Allein, als er sie gegen Abend in Begleitung seiner Mutter besuchte, kam nichts davon über ihre Lippen, was ihr Herz so unsagbar schwer machte. Im Gegenteil, sie gab sich so unbekümmert wie am Tage vorher – und der Mann ließ sich von der vortrefflichen Maske täuschen.
Auf Frau Hadebrandts Frage, wo Ebba wäre, erzählte sie gleichmütig, daß diese nach dem Mittagessen zu Bett gegangen sei und auch jetzt noch wie ein Murmeltierchen schlafe. Wahrscheinlich wollte sie Kräfte sammeln für des Alltags Arbeit. Anschließend fragte sie: »Wie sind Sie mit Ebba zufrieden, Holger?«
»Das kann ich schlecht sagen, Mechthild. Erstens wäre es verfrüht, über ihre Leistungen zu urteilen, und dann war ich ja verreist. Doch soviel ich von dem Prokuristen hörte, läßt sich der Neuling, den er unter seiner Obhut hat, ganz gut an. Hat eine rasche Auffassungsgabe und auch den Willen zur Arbeit, was viel wert ist. Alles andere wird sich mit der Zeit finden.«
Obgleich das freundlich gesprochen war, vermißte Mechthild die Wärme in den Worten, was sie unsagbar erbitterte. Da sollte sie diesem Mann ihre Mutterangst offenbaren? Dafür hatte er bestimmt kein Verständnis. Für sie persönlich wohl ja – aber nicht für ihr Kind. Und das war ein Stachel, der sich immer tiefer in ihr Herz drückte.
»Wir sind hier, um Sie zu einem Theaterbesuch zu überreden«, riß Frau Hadebrandt sie aus ihren aufsässigen Gedanken. »Hätten Sie Lust dazu?«
»Danke, Tante Anne, ich fühle mich zu Hause am wohlsten.«
»Das ist gar nicht gut für Sie, liebes Kind. Sie dürfen sich hier nicht so vergraben. Müssen unter Menschen, um nicht einseitig und grüblerisch zu werden. Dazu sind Sie noch viel zu jung. Es ist ja gut und anerkennenswert, nur für sein Kind zu leben, aber ob das einen jungen Menschen restlos ausfüllen kann?«
»Mich ja. Ich bin in erster Linie Mutter.«
Das war so herb gesagt, daß die Dame verletzt war. Es wollte fortan kein rechtes Gespräch mehr in Fluß kommen. Daher erhoben sich die Besucher bald. Als Frau Hadebrandt Mechthild zum Abschied die Hand reichte, zwang sie sich zur Herzlichkeit um des Sohnes willen.
»Lassen Sie sich oft bei uns sehen, mein liebes Kind. Sie sind uns zu jeder Zeit willkommen.«
»Danke Tante Anne, ich will mir das merken.«
Als die Tür hinter ihnen zufiel, lachte Mechthild bitter auf. Sie selbst würde man mit offenen Armen gewiß aufnehmen aber ihr Kind nur notgedrungen.
Wo war Ebba überhaupt? Ob sie wieder weg war?
Doch nein, eben nieste sie – und da atmete die angstgequälte Mutter auf. So ein Böckchen! Verdarb sich den zweiten Feiertag durch Hunger und Langeweile.
Die Mutter ahnte allerdings nicht, daß ihre aufsässige Tochter nicht gerade Hunger litt. Dafür sorgten schon die Süßigkeiten, die sie von Egolf bekommen hatte. Die Langeweile vertrieb ein Buch, das nicht für ihr Alter bestimmt war.
Allmählich jedoch tat Ebba von dem süßen Zeug der Magen weh – aber sie hielt wacker aus. Unmöglich konnte sie nach dieser brutalen Behandlung zu Kreuze kriechen. Das sollte nur die Rabenmutter tun.
Allein Stunde um Stunde verging, ohne daß diese sich bemerkbar machte. Nicht einmal zum Essen wurde Ebba aufgefordert.
Einfach skandalös! Ob sie sich krank stellte? Nein, das ging nicht, dann könne sie morgen nicht ins Büro – und da war Egolf Dietsch, der augenblicklich ihr flatterhaftes Herz besaß.
Schon fing es an zu dunkeln, und die »Verhaßte« erschien immer noch nicht. Schließlich hielt es Ebba nicht mehr aus. Ganz übel war ihr geworden. Leise erhob sie sich, öffnete ebenso leise die Tür und horchte in den Korridor hinaus.
Alles dunkel, alles still. Auf bloßen Füßen huschte sie zur Küche, deren Tür zum Glück nur angelehnt war, tastete sich zur Speisekammer und schlang gierig hinunter, was sie im Dunkeln erwischte. Brot, Kuchen, Fleisch, Obst, Milch, sogar kalte Kartoffeln, alles nahm der Magen willig in sich auf. Und als er zufrieden war, war Ebba es auch. Also schlich sie sich wieder in ihr Zimmer zurück, legte sich ins Bett und schlief wie ein Murmeltier.
Ihre Muttter jedoch lag mit wachen Augen da. Die Tür des Zimmers hatte sie nur angelehnt, und so hörte sie wohl, wie Ebba in die Küche schlich. Eigentlich hätte sie folgen und sie hinausweisen müssen – aber das bekam sie denn doch nicht über ihr Mutterherz. Das Kind hatte ja schließlich den ganzen Tag über gehungert.
Ihrem angestrengt lauschenden Ohr entging es auch nicht, daß Ebba wieder in ihr Zimmer zurückschlich. Da legte sie sich auf die Seite und schloß die müden Augen, die noch von Tränen naß waren.
*
Am nächsten Morgen erhob Mechthild sich zur gewohnten Stunde und bereitete das Frühstück. Sie trat nicht, wie sie es sonst zu tun pflegte, an das Bett der Tochter, um diese mit einem zarten Kuß aus süßem Schlummer zu wecken, sondern klopfte unsanft an die Tür.
»Ebba? Es ist Zeit aufzustehen!«
Gleich darauf hörte sie das Mädchen ins Badezimmer gehen, wo sie die morgendliche Dusche nahm. Adrett gekleidet von Kopf bis Fuß, erschien sie dann am Frühstückstisch. Aß, ohne die Mutter eines Blickes zu würdigen, steckte ohne Dank den Imbiß ein, der für sie bereit lag, und ging ohne Gruß davon.
So bockte sie tagelang. Mechthild blieb dabei gleichmäßig freundlich, sorgte in gewohnter Weise für sie – kam ihr jedoch weiter mit keinem Schritt entgegen, wie sie es so gern getan. Sie mußte ihr Herz verhärten, sonst spielte die aufsässige Tochter ganz und gar Fangball damit.
Allmählich wurde Ebba dann wieder die alte – rücksichtslos, patzig, launenhaft, doch sich der Mutter direkt zu widersetzen, das wagte sie nicht mehr.
Wenn sie nach Büroschluß ausgehen wollte, fragte sie um Erlaubnis, die sie auch jedesmal bekam. Zum Abendessen fand sie sich pünktlich wieder ein.
Wenn die Mutter sie fragte, wo sie gewesen war, mußte immer eine Freundin herhalten, die sie auch tatsächlich auf einen Sprung besucht hatte, um sich vorsichtshalber ein Alibi zu verschaffen.
Doch dann eilte sie an die verschwiegene Stelle, wo Egolf sie im Auto erwartete. Sie tat jetzt eben heimlich, woraus sie früher der Mutter gegenüber kein Hehl gemacht hätte.
Es war auch nichts verwerfliches, was sie trieb. In Egolfs Auto fuhren sie ins Grüne hinaus, unterhielten sich, lachten und tauschten hie und da einen Kuß. Ebbas größte Freude war, wenn ihr der junge Mann auf wenig belebten Straßen das Steuer überließ. Er paßte scharf auf, daß sie vorsichtig fuhr, und so konnte nichts passieren. Daß sie zur rechten Zeit kehrtmachten, dafür sorgte Egolf schon, weil auch er pünktlich zum Abendessen zu Hause sein mußte; denn da herrschte eine straffe Zucht.
Kurz vor der Stadt stieg Ebba jedesmal aus.
Und so konnte es kommen, daß ihre Fahrten unbemerkt blieben. Niemand wäre darauf gekommen, daß die jungen Menschen ineinander verliebt waren. Im Büro gaben sie sich harmlos, neckten sich genau wie die anderen und zankten sich zum Schein sogar recht oft.
Übrigens kam Ebba ihrer Arbeit so gewissenhaft nach, daß der Prokurist mit ihr zufrieden war. Darauf tat sie sich denn auch mächtig viel zugute.
*
Die Erkenntnis, daß Egolf Dietsch nichts Besonderes war, kam Ebba Runard plötzlich, nämlich als er mit seinem Chef bei der Unterredung zusammenstand.
Ja, mit dem konnte allerdings nicht jeder konkurrieren! Eine Persönlichkeit war dazu angetan, ein Mädchenherz höher schlagen zu lassen.
Und schon saß ihr flatterhaftes Herz an dieser Stelle fest. Trotz ihrer Frühreife begann sie für ihn zu schwärmen wie ein sentimentaler Backfisch für einen Herrn mit