sich eine ganze Weile Zeit, bis er sich meldete. Ich rief ihm nur hinunter, dass ich mein Frühstück haben wollte. Er brachte es sehr rasch, seine zage, sonst fast schafsmäßig sanfte Miene konnte dieses Mal doch ein Gefühl lebhafter Beunruhigung über mein völliges Verändertsein nicht verbergen. Ich tat, als sähe ich nichts, und machte mich zum ersten Mal mit einigem Appetit ans Essen. Der Kaffee war überraschend gut, die Semmeln knusprig und die Butter frisch und kühl – dieser Schurke von Polakowski verstand es entschieden, zu leben.
Während ich aß, brachte Polakowski den Waschtisch und mein Bett in Ordnung, wobei er es nicht lassen konnte, immer wieder heimliche Seitenblicke auf mich abzuschießen. Dazu hüstelte er immer häufiger. Die Kornflasche, die er im Stubenwinkel stehen fand, gab ihm endlich den ersehnten Anlass, ein Gespräch anzuknüpfen. »Sie haben ja fast gar nichts getrunken, Herr!«, sagte er und hielt die Flasche beweisend gegen das Licht.
»Ja, mein lieber Herr Polakowski«, sagte ich spöttisch, aber in bester Laune und bestrich dabei eine Semmel dick mit Butter, »wenn du mir weiter solchen Fusel bringst, werde ich mir das Trinken noch ganz abgewöhnen.«
Er nahm mein »du« ohne zu zucken an. »Es war ein Irrtum, Herr«, knurrte er, »ein Irrtum vom Kaufmann. So wahr ich hier stehe, ich selbst habe vier Mark fünfzig für die Flasche bezahlt, der Kaufmann hat sich vergriffen. Aber ich habe Ihnen natürlich nur den wirklichen Preis berechnet, ich selbst legte die zwei Mark drauf, obgleich ich nur ein armer Mann bin. Ich bin ehrlich, Herr …«
»Rede keinen Blödsinn, Polakowski«, antwortete ich grob. »Du bist so wenig ehrlich, wie du arm bist. Ein alter Gauner bist du, oder vielmehr ein junger, aber gerissen genug für einen alten. Vielleicht mag ich dich darum gerade gerne. – Nimm die Flasche mit«, schrie ich in plötzlich gespieltem Zorn, »und sauf sie selber aus. Und sorge dafür, dass in fünf Minuten eine anständige Sorte hier ist. Da hast du Geld!« Und ich warf ihm einen Schein auf den Tisch.
Er griff eilig nach ihm. »Sofort, wenn die Läden offen sind«, versicherte er.
»Nein, nicht, wenn die Läden offen sind!«, schrie ich noch lauter, »sondern jetzt, jetzt auf der Stelle! Denkst du Idiot, ich will den ganzen Tag hier wach sitzen, nach dieser Nacht? Ich will endlich schlafen können.«
Ich war aufgesprungen in gespielter Erregung, hatte schon das Jackett ausgezogen und knöpfte an meiner Weste. Ich musste ihn jetzt überzeugen, sonst ging die Sache doch noch schief. So griff ich nach dem Wasserglas mit Korn, das noch immer fast voll auf dem Tisch stand, goss es hinunter und schrie: »Da, gieß noch einmal voll! Mit deinem verdammten Fusel! Und nun mach, dass in fünf Minuten ein anderes Getränk hier ist; der Kaufmann wird dich schon hintenherum reinlassen, einen so guten Kunden wie dich!« Ich hatte mir die Weste vom Leibe gerissen und knöpfte schon an den Hosenträgern.
»In fünf Minuten!«, beteuerte Polakowski und eilte aus der Stube. Unschwer waren aus seinen Worten Erleichterung und Befriedigung herauszuhören. Er hatte Angst um seine Melkkuh gehabt, aber jetzt soff ich wieder. Gott sei’s getrommelt und gepfiffen!
Kaum hatte ich die Haustür klappen hören, war ich schon wieder in meinen Kleidern, schloss den Koffer, nahm ihn und lief die Treppe hinab. Es mochte eine Frau Polakowski geben, auch Kinder Polakowski, von der gleichen sanften, einschmeichelnden, flüsternden, verflucht schurkischen Art, wie es ihr Vater war: Ich hatte sie nie zu Gesicht bekommen. Ich sah sie auch an diesem Morgen nicht. Unangefochten kam ich auf die Gasse. Hier, schon fast frei von meinem Peiniger, hätte mir der Alkohol fast noch einen Streich gespielt.
Plötzlich erinnerte ich mich daran, dass ich seit Wochen zum ersten Mal ohne »Proviant« unterwegs war, und noch dazu auf einer so gefahrvollen, alles entscheidenden Reise, und dass oben in meiner Stube noch ein soeben vollgeschenktes Glas mit Korn stand. Beinahe wäre ich umgekehrt und damit wohl ziemlich sicher in die langfingrigen Erpresserhände Polakowskis zurückgelaufen, dann aber siegte die in dieser Nacht neu erwachte Energie. Ich schüttelte den Kopf und machte mich auf meinen Weg.
19
Ich hatte natürlich keine Ahnung davon, in welche Richtung Polakowski gegangen war, und zu Anfang sah ich ziemlich besorgt um mich. Als ich aber erst, aus »Klein-Russland« heraus, durch die sauberen Straßen meiner Heimatstadt ging, fühlte ich mich sicherer. Ich ging, ohne zu zögern, direkt zum Bahnhof und setzte mich dort in den Wartesaal zweiter Klasse. Ich wusste, ich wagte viel; war schon etwas von meiner Geschichte durchgesickert, so war ich verloren. Aber ich musste an diesem Morgen noch viel mehr wagen, dieses Sitzen im Wartesaal war eine Vorprobe für kommende andere wichtige Unternehmungen.
Natürlich hätte ich mich auch mit weniger Risiko ein paar Stunden in den Anlagen der Stadt verbergen können, aber in meiner verwandelten Stimmung liebte ich es nun einmal, der Gefahr zu trotzen, muss aber auch gestehen, dass der Alkohol mich ein wenig dazu verführte. So ganz ohne ihn wollte ich nun doch nicht sein, und so bestellte ich beim Kellner außer einem ergiebigen Frühstück mit Setzeiern, Wurst und Käse auch eine Karaffe Kognak, den ich, zum zweiten Mal behaglich und nicht ohne Appetit frühstückend, meinem Kaffee zusetzte.
Ich vertiefte mich bei diesem lange dauernden Essen in die Zeitungen meiner Vaterstadt, die ich lange nicht studiert, las sämtliche Heimatnachrichten einschließlich der Familienanzeigen und hatte nun die Gewissheit, dass über mich auch noch nicht der geringste Hinweis ins Blättel gelangt war. Es wäre doch immerhin möglich gewesen, dass Magda in ihrer »Besorgnis um mein Wohlergehen« eine Notiz ins Blatt hätte setzen lassen, etwa des Inhalts: Der Geschäftsmann E. S. sei so und so lange nicht gesehen worden und irre vermutlich in einem Zustand geistiger Verwirrung in der Gegend umher. Wer Nachricht von ihm geben könne usw. usw. Aber nichts von alledem.
Bei meinem Frühstück wurde ich wirklich zehn Minuten lang von dem Bäckermeister Stretz gestört, von dem ich eben in der Zeitung gelesen, dass er sein fünfundzwanzigjähriges Geschäftsjubiläum begangen habe. Er ist unser Semmel-, ich bin dann und wann sein Weizenmehllieferant, wir kennen uns seit vielen Jahren. So setzte er sich zu mir an den Tisch, und er verwunderte sich darüber, dass wir uns so lange nicht gesehen, auch, dass ich hier auf dem Bahnhof die Semmeln der Konkurrenz und nicht friedlich daheim seine eigenen frühstückte. Es war das alles aber ganz arglos gesagt, wie ich sofort merkte. Mit dem Hinweis auf eine Reise erklärte ich alles und war nun sicher, dass über den engsten Kreis der Beteiligten noch kein Gerücht von meiner veränderten Lebensweise gedrungen war.
Später kamen noch entferntere Bekannte durch den Wartesaal, ich grüßte sie, sicher geworden,