wenn alles andere versagte. Eine Minute später liege ich wieder im Bett. Nicht viel zu früh, gar nicht viel zu früh! Denn da steht schon der Oberpfleger an meinem Bett und legt die Hand auf meine Schulter. »Wachen Sie auf, Sommer!«
Ich erwache, ich hoffe, gerade richtig, nicht zu leicht, nicht zu schwer.
»Stehen Sie auf, Sommer!«
Ich tue es und stehe nun im Hemd vor ihm.
»Sommer, haben Sie noch etwas Verbotenes in Ihren Taschen?«
»Nein, Herr Oberpfleger!«
»Sie wissen doch, dass alles Schneidende in diesem Hause streng verboten ist, zum Beispiel Taschenmesser, Rasierklingen, auch Nagelfeilen! Das wissen Sie doch?«
»Jawohl, Herr Oberpfleger, das hat mir einer gesagt.«
»Und Sie haben nichts Verbotenes in den Taschen?«
»Nein, Herr Oberpfleger.«
Eine kurze Pause. Dann: »Sommer, ich warne Sie noch im Guten! Gestehen Sie, und ich will ein Auge zudrücken. Sonst stecke ich Sie nach diesem ersten Tag für vier Wochen in Arrest!«
»Ich habe nichts zu gestehen, Herr Oberpfleger!«
»Schön. Dann drehen Sie mal Ihre Taschen um.«
Ich tue es, fange mit der Jacke an, die bewusste Hosentasche spare ich mir bis zuletzt auf.
»Machen Sie die Zeitung auseinander, Sommer!«
Ich tue es. Nichts, wirklich nichts.
Der Oberpfleger steht einen Augenblick nachdenkend, dann nimmt er meine Kleidungsstücke, eines nach dem anderen, selbst unter Kontrolle, aber wieder nichts. »Ziehen Sie sich an, Sommer.«
Ich tue es.
»So, und nun schicken Sie mir den Lexer her, Sie selbst bleiben bis zur Freistunde im Tagesraum.«
»Jawohl, Herr Oberpfleger!«
Ich habe ihnen eine bildschöne Arbeit gemacht; unter der Aufsicht des Oberpflegers haben sämtliche Kalfaktoren die ganze Zelle Stück für Stück umgedreht und durchsucht. Mancherlei fanden sie, aber keine Rasierklinge. Zum Schluss beschimpften sie den Lexer, sie vermuteten irgendeinen idiotischen, sinnlosen Schelmenstreich von ihm. Aber Lexer zumindest hat’s gewusst, dass ich tatsächlich eine Rasierklinge gehabt hatte. Ich hatte ihn reingelegt. Und seltsam, obgleich ihn alle, vom Oberpfleger an, beschimpften, hatte er jetzt keine Wut auf mich. Ich hatte ihn reingelegt, das imponierte ihm. Von da an band er nie wieder direkt mit mir an, wenn er auch das Stänkern nie ganz lassen konnte.
41
Der Nachmittag war endlos. Die einzige kleine Abwechslung war, dass wir zur »Freistunde« nach draußen geführt wurden, für zwei Stunden, von zwei Uhr bis vier Uhr nachmittags. »Draußen« war ein kleiner Grasgarten innerhalb der hohen Gefängnismauern, vielleicht vierhundert Quadratmeter groß, wo ein einziger schmaler Weg, gerade für zwei Menschen breit genug, um einen Grasfleck lief. Die Sonne schien, es war ein schöner Sommertag. Aber was die Sonne beschien, war nicht schön.
Ich rede jetzt nicht von der Umgebung, rote, nackte oder mit totem, grauem Zement bekleidete, stachelbewehrte, hohe Mauern, die Gitter an den Fenstern, die blinden Scheiben – all das kann schon allein für sich den schönsten Sommersonnentag seines Glanzes berauben. Der blaue Himmel ist nicht für dich, Gefangener, so blau; die Sonne, Gefangener, die doch deine Haut wärmt, scheint nicht für dich. Dir fehlt die Weite der Landschaft, nur zu Gaste bist du bei Himmel, frischer Luft und Sonne, deine Minuten sind gezählt, Gefangener. Deine Welt ist das trübe, düster hallende, tote Haus, in dem nie ein befreites Lachen klingt, fremd wurdest du der Sonne, Gefangener.
Aber das alles meine ich hier nicht. Ich meine die Kameraden, die Leidensgefährten, die nun, der Dämmernis entrissen, in ihren entfärbten Lumpen an der Wand lehnen, auf einer Bank hocken, und in Holzpantoffeln oder barfuß den Sandweg entlangschurren. Wie das unbarmherzige Sonnenlicht diese Gesichter entschleiert, die nur noch wie ferne, versunkene Erinnerungen anmuten, Wehe und Trauer, Tier und irre Verzweiflung!
Ich schließe die Augen, und ich sehe sie da wieder stehen, hocken, schlurren, wie ich sie hundertmal gesehen habe und vielleicht noch tausendmal sehen werde.
Da ist ein langer, schlottriger Mann, sein kurz geschorener, eisengrauer Kopf ist dicht mit blutigroten oder eiternden Schweinsbeulen, wie man in diesem Hause die Furunkel nennt, bedeckt, sein stoppliges Gesicht ist hart und kantig, und seine dunklen, tief liegenden Augen sind völlig ohne Licht.
Ununterbrochen murmelt dieser Rheinländer, der wohl einst ein Straßenhändler war, vor sich hin: »Zwei Zentner Kanalstraße 20, einen Zentner Meier, Triftstraße 10, Gewerbepolizei, Gewerbepolizei …« Er hebt die Stimme, er sieht zu den blinden Gitterfenstern empor, auf Bestellungen wartend: »Pflanzkartoffeln, Pflanzkartoffeln, kauft Pflanzkartoffeln!« Keine Bestellungen kommen, er schüttelt verzweifelt den hässlichen Kopf und beginnt von Neuem: »Zwei Zentner Kanalstraße 20, einen Zentner …«
Fragt man ihn aber, wie viel wohl die Uhr ist, so sieht er nach dem Sonnenstand und gibt dir ganz vernünftig und annähernd richtig Auskunft, beginnt aber mit dem letzten Wort der Auskunft seine ewige Litanei von vorne. »Pflanzkartoffeln, Pflanzkartoffeln, kauft Pflanzkartoffeln!« Wie mir das noch in den Ohren klingt!
Und da ist jener andere, den ich schon kurz erwähnt habe, der Stimmen hörende Schizophrene, dessen armen, traurigen Kopf der Bluthund Lexer so unbarmherzig gegen das Eisengitter schlug – er schlurft auf Pantoffeln, deren ganzes hinteres Ende fehlt, rundum, rundum. Plötzlich aber bleibt er stehen, er hebt den Arm, er droht gegen Himmel, Mauern und Gitter, aber er sieht Himmel, Mauern und Gitter nicht, er sieht einen unsichtbaren Feind, den er nun in der unflätigsten Weise beschimpft.
Er ist der einzige Sachse unter uns, und seine Schimpfereien erfolgen in einem so unverfälschten Sächsisch, dass die paar, die noch ein Fünkchen Verstand haben, lächeln. Aber es ist eigentlich gar nichts zu lächeln, wenn dieser verlorene Sohn aus gutem Hause den unsichtbaren Feind beschimpft, dass er ihn hindert, den Eltern selbst alles zu erklären. Warum schiebt er sich immer dazwischen, was soll diese »ewje Menkenke«? Kann der Sohn den Eltern nicht selbst alles am besten erklären?
Ich habe es doch gesagt, oder man hat es doch verstanden, falls ich es nicht gesagt haben sollte, dass in diesem dunklen Haus nur Kranke untergebracht sind, die sich einmal kriminell vergangen haben? Hier gibt es Mörder, Diebe, Sittlichkeitsverbrecher, Urkundenfälscher, religiös Wahnsinnige. Die meisten von ihnen