Alexander von Ungern-Sternberg: Historische Romane, Seesagen, Märchen & Biografien
1.
Die Jugend der Prinzessin
Der Sommer des Jahres 1655 war ein besonders heißer; es standen bald nacheinander zwei Kometen am Himmel, die die Astronomen wie die Astrologen stark beschäftigten und aus denen die letzten allerlei prophezeiten, was auf die folgenden Jahre Bezug hatte. Dann herrschte im südlichen Deutschland eine Teuerung, die sich in der Gegend von Schwaben und Franken zu einer Hungersnot steigerte und in ihrem Gefolge Seuchen und Krankheiten brachte.
Um Heidelberg herum war die Atmosphäre rein und erquickend; sei es nun, daß das Neckartal diese Eigenschaft besonders an sich hatte, oder daß es eine besondere Gunst klimatischer Einflüsse war, die Milde und Klarheit der Luft, die Gesichertheit der Sonnenwärme, unangetastet von den mephitischen Dünsten, die sich überall anderswo entwickelten, herrschten hier ungestört und machten, daß die Reisenden besonders diese Gegend aufsuchten und, einmal hier angelangt, auch gern verweilten. Wir sehen zwei Wanderer besonderer Art vor uns, die die Straße des Neckartals hinaufwanderten und sich der Heidelberger Brücke näherten. Die Sonne hatte sich von dem Gipfelpunkt ihrer Macht bereits gesenkt, und die Schatten verlängerten sich; ein warmes Lüftchen bewegte die Baumgruppen und führte den Reisenden die Gerüche frisch duftender Blumen zu, die in der Umfriedung der Gärten standen, die zu beiden Seiten des Weges ihren Reichtum entwickelten. Diese Blumenwelt, im Verein mit den Bäumen der schönen Straße, die ebenfalls unter einer kostbaren Fülle reicher Blüten standen, bildeten eine entzückende und anmutige Umgebung, doppelt erquicklich für die Wanderer, da diese offenbar zum erstenmal diese Gegend betraten und ihren wundersamen Flor anstaunten. Es waren zwei Männer in reicher Kleidung; der eine, der ältere, war vom Kopf bis zu den Füßen in Schwarz gehüllt, mit einer schweren, goldenen Kette um den Hals. Er hielt den kleinen, mit Federn gezierten Hut in der Hand, wodurch das ausdrucksvolle Gesicht mit einem vollen, schwarzen Bart, mit kurzem Haar und schwarzen Augen ungehindert und keck aus den Spitzen der Halskrause hervorleuchtete. Der zweite war ein junger Mann von noch nicht vollen zwanzig Jahren, dessen Kleidung ebenfalls höhere Abkunft zeigte, dessen Manieren aber nicht die Eleganz und die vornehme Leichtigkeit seines Gefährten hatten.
Als sie die Brücke überschritten hatten, näherten sie sich einem kleinen Grasplatze, der innerhalb der Festungsmauern angelegt war und dazu bestimmt schien, für die Bewohner der Burg eine willkommene Stelle abzugeben, wo sie sich, unbelauscht und unangefochten von der übrigen Bewohnerschaft der Umgegend, ergehen konnten. Man sah von dieser kleinen, mit Laub und Blumen geschmückten Ebene, wenn das Tor der Brücke offen stand, auf das nahe Ufer und auf das, was daselbst sich ereignete, ohne doch wiedergesehen zu werden. Als die Fremden die wenigen Stufen hinaufstiegen, die sich hier, um in das Innere der Burg zu gelangen, zeigten, gewahrten sie, an das Gitter gelehnt, das hier den kleinen Garten umzäunte, ein Kind stehen und aufmerksam eine Gruppe spielender Kleinen betrachten, die sich am Ufer des Flusses tummelten. Der Ausdruck des Kindes, seine gespannte Aufmerksamkeit auf seine kleinen Gefährten dort unten, hatte so etwas Eigentümliches, daß die beiden Wanderer nicht umhin konnten stehenzubleiben, um die Kleine zu betrachten. Es war ein gesundes, frisches Mädchen von nicht voll vier Jahren, in einem Röckchen von rotem Stoffe, auf dem blonden Kinderkopfe eine hohe, mißgestaltete Mütze, von der ein schwarzer, kleiner Florschleier herabfiel. Die Kleine wandte, als sie merkte, daß sie Gegenstand der Neugierde war, ihre hellen, kleinen Augen mit dem Ausdruck besonderen Mutwillens zu den Fremden und tat ihr Verlangen kund, über die Umzäunung des Gärtchens gehoben zu werden.
»Willst du hinüber zu deiner Freundin, Kleine?« fragte der ältere der Herren das Mädchen, indem er an den Gartenzaun herantrat.
Das Mädchen sah den Mann fragend an; offenbar hatte sie die Sprache des Herrn nicht verstanden; erst als der zweite auf deutsch hinzusetzte: »Sollen wir dich hinüberheben?« nickte sie mit dem Kopfe, indem sie den Fuß auf eine der Sprossen der Umzäunung setzte.
Sie wurde hinübergehoben, und hier, nachdem sie einen flüchtigen Blick umhergeworfen und sich unbeobachtet sah, war sie mit wenigen Sprüngen hinunter an das Ufer und stand jetzt unter den Kindern, die sich neugierig um sie scharten. Sie ließ sich von vorn und vom Rücken betrachten, dann ergriff sie eines der Mädchen an den Händen und fing an sich mit ihm herumzuschwingen, so daß der schwarze Schleier an ihrer Mütze im Winde flog. Dann rief sie aus: »Nun singt euer Lied nochmals! Ich kenne es und will das Spiel mit euch spielen.«
Alsobald ordnete sich ein kleiner Zug; das kleine Mädchen ging voran, und die andern sangen. »Du bist der Sommer!« sagte ein hübscher Bube, indem er vor der fremden Kleinen einen Kratzfuß machte; »oder willst du lieber die Fürstin sein?«
»Ich bin die Fürstin!« erwiderte das Mädchen stolz.
Und der ganze Kreis sang:
»Nun sind wir in den Fasten,
da leeren die Bauern die Kasten.
Wenn die Bauern die Kasten leeren,
wolle uns Gott ein gut Jahr bescheren.
Strü, strü, stra! Der Sommer der ist da!«
Und sich zu ihrer Umgebung umwendend, wiederholte die Kleine: »Strü, strü, stra! Der Sommer der ist da!« –
Es war ein liebliches Bild, am Ufer des Stroms die lustige Kinderwelt spielen zu sehn. Die beiden Fremden ergötzten sich daran, und der ältere sagte, indem er auf das Mädchen wies: »Die kleine Dicke möcht' ich mit mir nehmen, sie wäre ein guter Spielkamerad für meinen trübseligen Philipp!« –
»Ach!« rief der andere, »was fällt Ihnen ein, bester Oheim! Gibt es denn im schönen Frankreich nicht der lustigen Kinder genug; müssen wir nach Deutschland gehen, um da zu plündern?«
»Ich liebe dieses Land, das eigentlich uns gehört und das uns auch noch einmal zufallen wird!« rief der ernste Mann mit einem lächelnden Ausdruck, indem er über die Schulter herüber seinen jungen Gefährten anblickte. »Gefallen dir denn diese schönen Ufer nicht, Gaston? Das ganze ist ein Garten, und dazu das schöne Schloß dort oben. Wie prachtvoll muß es sich hier leben lassen!«
Der junge Mann schien von dem Enthusiasmus seines Gefährten nichts zu begreifen. Er neigte bejahend das Haupt, war aber mit seinen Gedanken bei der Kleinen unten am Flusse.
Plötzlich ließ sich ein ängstlicher Schrei hören. Die beiden sahen sich um und bemerkten jetzt eine ältliche Frau, die ängstlich im Gärtchen hin und her irrte und jemand zu suchen schien. Es zeigte sich alsbald, daß sie das Kind vermißte, das sie hier spielend verlassen hatte.
»Madame suchen die Kleine!« hob der ältere Herr an, »sie ist dort unten.«
»Ich danke Ihnen, mein Herr,« erwiderte die Frau französisch, »aber wie ist sie dort hingekommen?«
»Ich habe sie herübergehoben,« erwiderte die ruhige und feste Stimme des Mannes.
Die Frau blickte erstaunt den kühnen Befreier ihres Schützlings an und sagte dann: »So eilen Sie, sie wiederzuschaffen. Es ist die Tochter des Kurfürsten. Es ist uns nicht erlaubt, diesen Garten zu verlassen.«
»Beruhigen Sie sich, Madame!« hub der jüngere an. »Sogleich soll sie wieder da sein!«
Er eilte die Stufen hinab und kam mit dem Kinde auf dem Arme bald wieder. Er hob es von neuem über den Zaun und legte es in den Arm der Frau, die es mit sanften Worten schalt.
»Nicht böse sein, Mutter Joli!« rief die Kleine. »Sie spielten unten und sangen das bekannte Liedchen; da mußte ich dabei sein! Du siehst ein, es ging nicht anders, ich mußte dabei sein.«
»Das war durchaus nicht nötig!« rief die Frau. »Ich sehe, ich kann dich nicht eine Minute allein lassen. Papa hat recht, wenn er sagte: ›Es ist uns eine ungehorsame Tochter geboren worden.‹«
»Schon wieder sagst du das!« rief das Kind, halb weinend und mit dem Fuße stampfend, »der Vater sagt das nicht; er kann es nicht sagen, aber du, du sagst es, nur um mich zu ärgern, böse Mutter Joli!«
Die