Ludwig Ganghofer

Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer


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Stand der Sonne. »In einer Stunde müssen sie kommen!«

      Das Malgerät an einem Riemen tragend, eilte sie zwischen Wald und Wasser das kleine Tal hinunter und folgte einem Fußpfad, bis sie die von Leutasch nach Seefeld führende Landstraße erreichte. Einen Fuhrmann, der ihr mit leerem Wagen entgegenkam, bat sie, ihr Malgerät mit ins Dorf zu nehmen – und sie brauchte den Mann nicht viel zu bitten, man sah es ihm an, daß es ihm Freude machte, ihr eine Gefälligkeit erweisen zu können.

      In sachter Steigung klomm die Straße durch den Wald hinauf, und Lolo folgte ihr mit so erregter Hast, daß ihr die Wangen zu brennen begannen. Als sie die Höhe erreichte, öffnete sich vor ihr eine Waldwiese. An einem Quellbach, der sich an die Straße heranschlängelte, waren die Ufer reich mit Blumen bewachsen. Lolo begann zu pflücken, und während sie am Saum der Wiese hinging, sammelte sie zu ihrem Strauß noch immer neue Blumen. Sie erreichte wieder den Wald und ließ sich im Schatten der Bäume nieder, um die Blüten zu ordnen. Nur ihre Hände waren bei dieser Arbeit, nicht die Gedanken. Bald spielte ein träumendes Lächeln um ihren Mund, bald wieder blickte sie ernst in den blauen Schatten des Waldes. Nun ließ sie den Strauß, den sie gebunden hatte, in den Schoß fallen. »Vater! Vater!« Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Schluchzen aus. Das war kein Weinen in Schmerz – es war ein Weinen in heißer Freude.

      Jetzt fuhr sie lauschend auf, sprang zurück auf die Straße und jauchzte. Aus dem Tal, in das sich der Wald hinuntersenkte, antwortete eine Knabenstimme, hoch und schrill wie der Ton einer Weidenpfeife.

      »Ja! Ja! Sie sind es!« stammelte Lo und begann zu laufen. Eine kleine, mit einem Pferd bespannte Kutsche kam. Der Knecht ging neben dem Wagen her, um dem Rößlein die Last über den Berg hinauf zu erleichtern. In der Kutsche saßen eine Frau und ein Knabe, der mit beiden Armen winkte.

      Mit klingender Stimme rief Lo den Namen des Bruders. Und da ließ sich der kleine Bursch nicht länger im Wagen halten, sprang auf die Straße, noch ehe der Knecht das Pferd zum Stehen brachte, warf das Hütl in die Kutsche zurück und begann den Berg hinaufzurennen, daß ihm die Mutter in Sorge nachrief: »Gustl! Gustl! Nur langsam! Ich bitte dich! Sie wartet ja, bis du kommst!«Der Junge hörte nicht, rannte und rannte, und schon auf hundert Schritt vor der Schwester breitete er die Arme aus und jubelte: »Lo! Lo! Meine liebe, gute, gute Lo!« Mit so wilder Freude flog er an ihre Brust, daß sie wankte unter dem Ansturm dieses schmächtigen Knabenkörpers. Wortlos hielt sie ihn umschlungen. Als sie sich aufrichtete, hing er mit erloschenem Atem an ihrem Hals, hielt die Wange an ihre Brust gedrückt und brachte nur mühsam die Worte heraus: »Ach, Lo, ich kann dir's gar nicht sagen, wie ich mich freue! Weil ich dich wiederhabe! Lo! Dich! Weißt du, es ist so nett vom lieben Gott, daß er die Ferien erschaffen hat!«

      Lächelnd kühlte sie ihm mit ihrem Tuch die Wangen und hielt ihn umschlungen, bis er ruhiger wurde. Dann gab sie ihm die Blumen.

      »Lo? Für mich?«

      »Für dich und für die Mutter.«

      »Ich danke, danke dir, Lo!«

      Da nahm sie sein Gesicht zwischen die Hände und sah ihm lang in die Augen. Wie zwei klare Sterne blickten die leuchtenden Knabenaugen zu ihr empor. Sie atmete auf und sagte leis: »Ja! Du bist es! Du kommst wieder heim, wie du gegangen bist!« Lächelnd schob sie ihn ein wenig von sich und betrachtete sein hager aufgeschossenes Figürchen in dem sauber gehaltenen schwarzen Anzug und in den engen Höschen, die ihm zu kurz geworden. »Und wie du gewachsen bist!«

      »Ja!« sagte er stolz und reckte sich. »Jetzt reich ich dir schon fast an die Schulter.«

      Die Kutsche kam, und jubelnd schwenkte der Junge seine Blumen. »Muttl! Sieh doch! Sieh! Die hat uns Lo gebracht!«

      Das Mädchen eilte dem Wagen entgegen und faßte die Hand der Mutter.

      Frau Petri hatte schon graue Haare, die glatt gescheitelt unter dem schwarzen, altmodischen Kapotthut hervorsahen. In weißem Oval, wie aus Wachs gebildet, hob sich aus den schwarzen Bändern das schmale Faltengesicht, das von Kummer und Schmerzen erzählte, die nur zur Ruhe kamen, doch nicht überwunden sind. Aber so welk und müde dieses Gesicht auch war, es zeigte noch Spuren einstiger Schönheit und glich mit seinen feinen, vornehmen Zügen dem Antlitz der Tochter. Nur andere Augen hatte die Mutter, von mattem Blau – Augen, die nicht anders blicken konnten als in Sorge. Und sie hatte ihrer Tochter kaum ins Gesicht gesehen, als sie schon beklommen fragte: »Kind? Was ist dir? Du bist anders als sonst! Ich bitte dich, sag mir, ist etwas geschehen? Was hast du?«

      »Mutter!« Lo umklammerte die Hand der alten Frau, während sie neben der Kutsche herging; sie war so erregt, daß sie nicht zu sprechen vermochte.

      »Aber Hans!« schmollte Frau Petri mit dem Kutscher. »So halten Sie doch den Wagen an. Lo kann doch nicht immer so nebenherlaufen!«

      Der Knecht hielt das Pferd an und suchte auf der kahlen Straße nach einem Stein, den er unter das Rad legen könnte.

      »Was hast du, Kind? Aber so sprich doch!«

      »Mutter! Denke nur, wer heute bis uns war! In unserem Hause! Er, Mutter! Er!«

      »Er? Wie soll ich denn wissen, wer das ist?«

      »Aber Mutter! Ich habe dir doch heute früh erzählt von ihm. Daß ich ihn draußen am Sebensee kennenlernte. Und daß ich so viel vom Vater mit ihm gesprochen habe.«

      »Der Fürst?« fragte Frau Petri betroffen.

      »Heute kam er zu uns, um Vaters Bild zu sehen.«

      »Und du warst bei ihm?«

      »Nein! Aber ich traf ihn. Bei den Weihern. Ach, Mutter! Wärst du doch bei mir gewesen! Hättest du nur gehört, wie er vom Vater gesprochen hat! Das wäre für dich eine Freude gewesen. Eine Freude! Weißt du, was er sagte? Ein großer Künstler, den die Welt hätte bewundern und lieben müssen! Und vielleicht war der Mensch und Dichter in ihm noch größer als der Maler! Das sagte er. Wort für Wort. Wir, Mutter, wir wissen es ja! Aber daß es nun auch die anderen erkennen und sagen! Ach, Mutter, dieses Wort war ein Geschenk für mich, so schön, ich kann es dir gar nicht sagen!«

      Frau Petri schwieg, und während sie zitternd die Hand ihres Kindes umklammert hielt, fielen ihre glitzernden Zähren auf das Hutband.

      Da sagte der Kutscher: »Liebe Frau, jetzt muß ich aber weiterfahren, 's Rößl kann den Wagen auf der steilen Straßen nimmer derhalten!«

      Frau Petri seufzte. »Ach, Lo! Warum kommt das so spät? Zu spät für ihn!« Sie trocknete die Augen und sagte begütigend zum Kutscher: »Ja, Hans, fahren Sie nur weiter! Aber du, Lo?«

      »Fahre nur voraus, Mutter! Ich gehe mit Gustl.«

      »Wo ist er denn?«

      »Dort, im Wald. Einem Schmetterling läuft er nach oder einem Eichhörnchen.«

      »Ach, wie sich der Bub wieder erhitzen wird!« Frau Petri reichte dem Mädchen den Hut des Jungen und ein seidenes Tuch. »Er soll den Hut gleich aufsetzen, wenn er auf die Straße kommt. Hier zieht es. Und bind ihm das Tuch um! Tust du es aber auch wirklich?«

      Lolo lächelte. »Ja, Mutter!«

      Als der Wagen davonfuhr, kam Gustl aus dem Wald gerannt, rief der Mutter einen jauchzenden Gruß nach und warf sich wieder mit stürmischer Zärtlichkeit in die Arme der Schwester. Sie drückte ihm das Hütl aufs Haar und band ihm das Tuch lose um den Rockkragen, daß es den Hals nicht berührte. Dann wanderten sie Arm in Arm neben der Straße hin, und während Gustl mit sprudelndem Eifer die lange Geschichte seiner kurzen Reise erzählte, schmiegte er sich eng an die Schwester an, als gäbe es für ihn keine süßere Freude, als so mit ihr zu wandern, ihre Hand zu streicheln und mit leuchtenden Augen immer wieder zu ihr aufzublicken. Doch plötzlich, mitten in seiner plaudernden Freude, verstummte er.

      Sie beugte sich zu ihm nieder, sah ihm ins Gesicht und sagte leis: »Ich weiß, an was du denkst!«

      »Ach, Lo!« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Die ersten Sommerferien – ohne Vater!« In Schluchzen ausbrechend, umklammerte er die Schwester.

      Während