Wird heiß das Herze mancher Maid…«
Manchmal erschien der Unglückliche ohne Hut ganz plötzlich hinter Emmas Sitz. Sie wandte sich mit einem Aufschrei weg.
Hivert pflegte den Bettler zu verhöhnen. Er riet ihm, sich auf dem nächsten Jahrmarkt in einer Bude sehen zu lassen, oder er fragte ihn, wie es seiner Liebsten ginge.
Einmal streckte der Bettler seinen Hut während der Fahrt durch das Wagenfenster herein. Er war draußen auf das kotbespritzte Trittbrett gesprungen und hielt sich mit einer Hand fest. Sein erst schwacher und kläglicher Gesang ward schrill. Er heulte durch die Nacht, ein Klagelied von namenlosem Elend. Das Schellengeläut der Pferde, das Rauschen der Bäume und das Rasseln des Wagens tönten in diese Jammerlaute hinein, so daß sie wie aus der Ferne zu kommen schienen. Emma war tieferschüttert. Empfindungen brausten ihr durch die Seele wie wilder Wirbelsturm durch eine Schlucht. Grenzenlose Melancholie ergriff sie.
Inzwischen hatte Hivert bemerkt, daß eine fremde Last seinen Wagen beschwerte. Er schlug mit seiner Peitsche mehrere Male auf den Blinden ein. Die Schnur traf seine Wunden; er fiel in den Straßenkot und stieß ein Schmerzensgeheul aus.
Die Insassen des Wagens waren nach und nach eingenickt. Die einen schliefen mit offenem Munde; andern war das Kinn auf die Brust gesunken; der lag mit seinem Kopfe an der Schulter des Nachbars, und jener hatte den Arm in dem Hängeriemen, der je nach den Bewegungen des Wagens hin und her schaukelte. Der Schein der Laterne drang durch die schokoladenbraunen Kattunvorhänge und bedeckte die unbeweglichen Gestalten mit blutroten Lichtstreifen. Emma war wie krank vor Traurigkeit. Sie fror unter ihren Kleidern. Ihre Füße wurden ihr kälter und kälter. Sie fühlte sich sterbensunglücklich.
Zu Hause wartete Karl auf sie. Donnerstags hatte die Post immer Verspätung. Endlich kam sie. Das Essen war noch nicht fertig, aber was kümmerte sie das? Das Dienstmädchen konnte jetzt machen, was es wollte.
Es geschah oft, daß Karl, dem Emmas Blässe auffiel, sie fragte, ob ihr etwas fehle.
»Nein!« antwortete sie.
»Aber du bist so sonderbar heute abend?«
»Ach nein, nicht im geringsten!«
Manchmal ging sie sofort nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer. Oft war gerade Justin da und bediente sie stumm und behutsam, besser als eine Kammerzofe. Er stellte den Leuchter und die Streichhölzer zurecht, legte ihr ein Buch hin und das Nachthemd und deckte das Bett auf.
»Gut!« sagte sie. »Du kannst gehn.«
Er blieb nämlich immer noch eine Weile an der Türe stehen und blickte Emma mit starren Augen wie verzaubert an.
Der Morgen nach der Heimkehr war ihr immer gräßlich, und noch qualvoller wurden ihr die folgenden Tage durch die Ungeduld, mit der sie nach ihrem Glücke lechzte. Sie verging fast vor Lüsternheit, unter wollüstigen Erinnerungen, bis alle ihre Sehnsucht am siebenten Tage in Leos zärtlichen Armen befriedigt wurde. Seine eigne, heiße Sinnlichkeit verbarg sich unter leidenschaftlicher Bewunderung und inniger Dankbarkeit. Seine anbetungsvolle stille Liebe war Emmas Entzücken. Sie hegte und pflegte sie mit tausend Liebkosungen, immer in Angst, sein Herz zu verlieren.
Oft sagte sie ihm mit weicher, melancholischer Stimme:
»Ach du! Du wirst mich verlassen! Du wirst dich verheiraten! Wirst es machen wie alle andern!«
»Welche andern?«
»Wie alle Männer, meine ich.«
Ihn sanft zurückstoßend, fügte sie hinzu:
»Ihr seid alle gemein!«
Eines Tages führten sie ein philosophisches Gespräch über die menschlichen Enttäuschungen, als sie plötzlich, um seine Eifersucht auf die Probe zu stellen oder auch aus allzu starkem Mitteilungsbedürfnis, das Geständnis machte, daß sie vor ihm einen andern geliebt habe.
»Nicht wie dich!« fügte sie schnell hinzu und schwor beim Haupte ihres Kindes, daß es »zu nichts gekommen« sei.
Der junge Mann glaubte ihr, fragte sie aber doch, wo der Betreffende jetzt sei.
»Er war Schiffskapitän, mein Lieber!«
Log sie das, um jede Nachforschung zu vereiteln oder um sich ein gewisses Ansehen zu verleihen, dieweil ein kriegerischer und gewiß vielumworbener Mann zu ihren Füßen gelegen haben sollte?
In der Tat empfand der Adjunkt etwas wie das Bewußtsein der Inferiorität. Am liebsten hätte er gleichfalls Epauletten, Orden und Titel getragen. Alle diese Dinge mußten ihr gefallen, das sah er deutlich an ihrem Hang zum Luxus.
Dabei verschwieg ihm Emma noch einen großen Teil ihrer ins Großartige gehenden Wünsche; zum Beispiel, daß sie gern einen blauen Tilbury mit einem englischen Vollblüter und einem Groom in schicker Livree gehabt hätte, um in Rouen spazieren zu fahren. Diesen Einfall verdankte sie Justin, der sie einmal flehentlich gebeten hatte, ihn als Diener in ihren Dienst zu nehmen. Wenn die Nichterfüllung dieser Laune ihr auch die Seligkeit des Wiedersehns nicht weiter trübte, so verschärfte sie doch zweifellos die Bitterkeit der Trennung.
Oft, wenn sie zusammen von Paris plauderten, sagte sie leise:
»Ach, wenn wir dort leben könnten!«
»Sind wir denn nicht glücklich?« erwiderte Leo zärtlich und strich mit der Hand liebkosend über ihr Haar.
»Doch! Du hast recht! Ich bin töricht. Küsse mich!«
Gegen ihren Gatten war sie jetzt liebenswürdiger denn je. Sie bereitete ihm seine Lieblingsgerichte und spielte ihm nach Tisch Walzer vor. Er hielt sich für den glücklichsten Mann der Welt. Emma lebte in völliger Sorglosigkeit. Aber eines Abends sagte er plötzlich:
»Nicht wahr, du hast doch bei Fräulein Lempereur Stunden?«
»Ja!«
»Merkwürdig! Ich habe sie heute bei Frau Liégeard getroffen und sie nach dir gefragt. Sie kennt dich gar nicht.«
Das traf sie wie ein Blitzstrahl. Trotzdem erwiderte sie unbefangen:
»Mein Name wird ihr entfallen sein.«
»Oder es gibt mehrere Lehrerinnen dieses Namens in Rouen, die Klavierstunden geben«, meinte Karl.
»Das ist auch möglich!«
Plötzlich sagte Emma:
»Aber ich habe ja ihre Quittungen. Wart mal! Ich werde dir gleich eine bringen.«
Sie ging an ihren Schreibtisch, riß alle Schubfächer auf, wühlte in ihren Papieren herum und suchte so eifrig, daß Karl sie bat, sich wegen der dummen Quittungen doch nicht soviel Mühe zu machen.
»Ich werde sie schon finden!« beharrte sie.
In der Tat fühlte Karl am Freitag darauf, als er sich die Stiefel anzog, die bei seinen Kleidern in einem finsteren Gelaß zu stehen pflegten, zwischen Stiefelleder und Strumpf ein Stück Papier. Er zog es hervor und las:
»Quittung.
Honorar für drei Monate Klavierstunden, nebst Auslagen für verschiedene beschaffte Musikalien: 65, – Frkn.
Dankend erhalten
Friederike Lempereur,
Musiklehrerin.«
»Zum Kuckuck! Wie kommt denn das in meinen Stiefel?«
»Wahrscheinlich«, erwiderte Emma, »ist es aus dem Karton mit den alten Rechnungen gefallen, der auf dem obersten Regal steht.«
Von nun an war ihre ganze Existenz nichts als ein Netz von Lügen. Sie hüllte ihre Liebe darein wie in einen Schleier, damit niemand sie sähe. Aber auch sonst wurde ihr das Lügen geradezu zu einem Bedürfnis. Sie log zu ihrem Vergnügen. Wenn sie erzählte, daß sie auf der rechten Seite der Straße gegangen sei, konnte man wetten, daß es auf der linken gewesen war.
Eines Donnerstags war sie früh, wie gewöhnlich ziemlich leicht gekleidet, abgefahren, als es plötzlich