Pünktlich am nächsten Morgen tritt Marina ihre Stelle an. Barbara Markwart ist bereits da, und Marina sieht sie ganz erschrocken an.
»Komme ich etwa zu spät?«
»Aber nein, Fräulein Braun«, beruhigt sie die Chefsekretärin. »Eigentlich hätte ich diesen Vertrag gestern noch fertig machen müssen. So habe ich es heute morgen getan. Der Generaldirektor kann sehr unangenehm werden, wenn etwas nicht klappt.«
»Unangenehm?« Marina kann es sich nicht vorstellen.
»Nun ja, nicht so, wie Sie denken. Er brüllt und tobt nicht, aber wenn er einen so ansieht, dann kommt man sich wie ein gescholtenes Kind vor. Ich glaube, es gibt keinen in dem riesigen Bau, der ihn nicht anhimmelt. Ist er nicht ein sehr interessanter Mann? Und noch dazu Junggeselle.«
»Mich interessiert nur meine Arbeit, Fräulein Markwart«, erwidert Marina schroff, und Barbara zuckt die Schultern. Ehrlich, wie sie ist, setzt sie hinzu:
»Das ist richtig, Fräulein Braun. Uns hat nur unsere Arbeit zu interessieren. Etwas anderes würde uns beiden nur schaden. Der Generaldirektor behandelt uns ausnahmslos gut, aber er hält Distanz. Ich habe noch nie gehört, daß er irgendeine Liebelei gehabt hätte. Dagegen sein Sohn –«
Sie bricht schnell ab und tippt weiter. Marina kann sich denken, was sie sagen wollte. Sie hat bereits eine Kostprobe von der Einstellung dieses Sohnes hinter sich.
Taktvoll übergeht sie es.
»Was können Sie mir für Arbeit geben?« erkundigt sie sich.
»Herr Generaldirektor wird Sie gleich zu sich rufen. Dann gibt es Arbeit genug für Sie. Wir sind etwas in Rückstand geraten. Ihre Vorgängerin heiratete ganz plötzlich. Allein konnte ich es nicht schaffen, und da wir viel Vertrauliches zu bearbeiten haben, konnten wir niemand aus dem Betrieb als Aushilfe nehmen.«
»Ich verstehe.«
Es schellt.
»Das gilt Ihnen«, erklärt Barbara. Marina nimmt ihren Block und einen von den vielen Stiften und verschwindet.
Albert Gellert hat eine schlaflose Nacht hinter sich. Immer wieder sah er das schöne, bescheidene Mädchen vor sich, das ihm das Schicksal ins Haus geschickt hat. Er hat den neuen Arbeitstag nicht erwarten können.
Als er durch den zweiten Eingang sein Zimmer betreten hat, scheut er sich, zu klingeln. Er glaubt sich nicht genügend in der Gewalt zu haben. Seit dem Tod seiner Gattin hat keine Frau einen so tiefen Eindruck auf ihn gemacht wie Marina Braun.
Endlich überwindet er sich und klingelt.
»Herr Generaldirektor«, sagt Marina, um sich dem ganz versunkenen Mann in Erinnerung zu bringen.
Er hebt den Kopf und sieht mitten hinein in die klaren Blauaugen. Er gibt sich einen Ruck.
»Bitte schreiben Sie!«
Marina setzt sich und wartet auf sein Diktat.
Zuerst findet er keine rechten Worte, doch dann spricht er fließend, und Marina schreibt eifrig.
Eine Stunde lang nimmt sie das Stenogramm auf, dann entläßt er sie. Sie ist schon an der Tür, als er sie noch einmal zurückruft.
Er reicht ihr die Hand. »Ich habe Sie noch gar nicht in Ihrem neuen Wirkungskreis willkommen geheißen, Fräulein Braun. Ich glaube, wir werden gut zusammenarbeiten.«
Als sie seine Hand berührt, rinnt es ihr heiß über den Rücken. Sie ist glücklich wie selten, und etwas von diesem Glück scheint in ihren Augen zu liegen, so daß er schnell ihre Hand freigibt.
Ich bin ein Narr – denkt er erbittert. Ich werde doch nicht mein Herz an ein so junges Mädchen hängen.
Die Unruhe sitzt ihm im Blut, und er wird sie auch nicht los, so sehr er sich auch zwingt. Er sieht sie immer vor sich, schön wie ein junger Frühlingstag.
Und tüchtig ist sie auch. Es gibt keinen Grund, sie aus dem Vorzimmer zu verbannen.
Mißtrauisch beobachtet er seinen Sohn Günther. Der aber meidet Marina. Jetzt ist er überzeugt, daß sie ihn nicht angeschwärzt hat.
Eines Tages begegnen sie sich in dem breiten Flur, auf den viele Türen münden.
»Auf ein Wort, Fräulein Braun.«
Marina verhält den Schritt. Ihr Gesicht ist abweisend.
»Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen.« Er sagt das in einem reumütigen Ton, und Marina wäre nicht sie selbst, wenn sie davon nicht beeindruckt wäre. Hastig setzt er hinzu: »Und danken möchte ich Ihnen auch.«
»Sie sind mir keinen Dank schuldig. Ich wüßte nicht wofür.« Marina ist kühl und reserviert.
»Sie haben meinem Vater nichts von meiner Entgleisung erzählt. Dafür bin ich Ihnen dankbar. Mein Vater hätte mir ordentlich den Kopf gewaschen.«
»Das war eine Selbstverständlichkeit für mich.« Marina sieht den jungen, hübschen Mann mit dem leichtsinnigen Zug um den Mund ernst an. »Schließlich war das doch eine Sache zwischen uns und hat mit Ihrem Vater nichts zu tun.«
»Ich weiß nicht.« Er zögert und spricht nach einer Weile weiter. »Jede andere hätte Nutzen aus dem Zwischenfall gezogen. Sie haben es nicht getan.«
Marina lächelt. »Ich bin eben nicht jede.«
»Das glaube ich auch«, lächelt Günther Gellert jetzt auch. »Aber kann man das wissen? Jedenfalls werde ich in Zukunft vorsichtiger sein.«
Mit einem Kopfnicken geht sie an ihm vorüber. Er sieht ihr nach, bis sie um die Ecke verschwunden ist.
Sie ist verteufelt hübsch, sagt er sich. Beinahe hätte er sie für den Abend eingeladen. Aber er ist überzeugt, daß sie ihn abgewiesen hätte, und darauf möchte er es nicht ankommen lassen.
Noch nie ist ihm eine Eroberung so schwer gemacht worden, und gerade Marina möchte er gern für sich erobern.
Marina ahnt nichts von seinen Ge danken. Sie freut sich, daß er sich bezwungen und sein Unrecht eingesehen hat. Beschwingt geht sie ihrer Arbeit nach.
Generaldirektor Gellert ist mit seiner neuen Kraft sehr zufrieden. Er verlangt mehr von ihr als von Barbara. Es ist, als wolle er damit seine stetig wachsende Zuneigung zu Marina unterdrücken, sie bei einem Fehler zu ertappen, um Grund zur Klage zu haben.
Marina ist eine erstklassige Kraft. Nichts läßt sie sich zuschulden kommen. Er ist von seinen Gefühlen hin und her gerissen. Und Marina spürt es. Anfangs war er anders zu ihr. Jetzt ist er zurückhaltender, knapper in seinen Anweisungen, ja, manchmal sogar unfreundlich.
Marina leidet darunter, da sie sich große Mühe gibt, ihm alles recht zu machen. Mit tiefem Erschrecken erkennt sie, daß sie mit immer größerer Innigkeit an ihm hängt. Sie ist aber weit davon entfernt, dieses neue Gefühl, das sie nur elend macht, für Liebe zu halten.
Sie, das kleine unbedeutende Mädel, und er, der erfolgreiche, angesehene Mann?
Sie hat keine Ahnung, wie sehr Albert Gellert sich gegen die Liebe zu Marina wehrt. Daß er allein aus diesem Grunde mitunter verletzend kühl ist. Der Altersunterschied ist es, der sich wie eine Mauer zwischen ihm und ihr aufrichtet. Er weiß selbst, daß er sogar oft ungerecht wird, er, der sonst von gleichbleibender Freundlichkeit ist.
Marina verliert ihr blühendes Aussehen, so daß es Annemarie auffällt und sie die Freundin an einem schönen Sommertag – so schnell ist die Zeit vergangen – zur Rede stellt.
»Bist du krank, Marina? Oder arbeitest du zuviel?« fragt sie besorgt.
Marina ist blaß und hat dunkle Schatten unter den Augen.
»Nein, Mie, wie kommst du darauf?« stellt sie die Gegenfrage und sieht in die Ferne. Sie sitzen auf dem Balkon, Blumen blühen vor ihnen in grüngestrichenen Kästen. Unter ihnen brodelt der Verkehr. Über ihnen ist der Himmel blutrot gefärbt von den letzten Strahlen