Uhr seinen Dienst anzutreten.
Aber er kommt zu spät. Als ein verschlafenes Hausmädchen ihm die Tür öffnet, erfährt er, daß der junge Herr schon vor einer halben Stunde ins Krankenhaus gefahren sei. Die Gnädige sei spät ins Bett gekommen.
»Danke!«
Becker klettert wieder in seinen Wagen. Er wird diese unumgänglich notwendige Unterredung auf später verschieben. Er fühlt sich todmüde. Langsam erkennt er, daß er nicht mehr der vitale Mann von einst ist. Die Jugend überspielt ihn, und er ist gewillt, dem Nachwuchs die Bahn freizumachen.
*
Als Doktor Freytag, übermüdet, mißgestimmt und von Angst getrieben, durch die Halle des Krankenhauses geht, zeigt die elektrische Uhr die fünfte Morgenstunde an. Noch eine Stunde Zeit. Sie dürfte genügen, mit Magda ins reine zu kommen.
Er ist völlig durcheinandergeraten. Seine Gedanken streifen mehr Anitas Fortlaufen, als Magdas verstörtes, jammervolles Aussehen.
Wenn er es sich recht überlegt, dann hat noch keine Frau ihm so ungeschminkt die Wahrheit gesagt wie diese kleine, dunkelhaarige Person mit den funkelnden Kirschenaugen. Er hat geglaubt, über alle Frauen Macht zu gewinnen. Bei Anita sieht er sich schwer enttäuscht.
Sie ist ihm ein Rätsel. Einmal weich und anschmiegend, dann wieder kalt und abweisend und wütend auf ihn. Sie ist voller Widersprüche.
Sicher ist es das, was ihn an ihr so reizt. Noch nie hat er sich so intensiv mit einer Frau befaßt wie mit diesem jungen Ding. Woher es wohl diese Sicherheit ihrer Urteile hat? Mit einer Treffsicherheit hat sie ihm auf den Kopf zugesagt, was er anderen monatelang verheimlichen konnte.
Sie muß ihn scharf beobachtet haben. Aber das tut man doch nur mit einem Menschen, an dem man besonderes Interesse hat.
Natürlich! Sie hat ja zugegeben, daß sie ihn liebt! Aber sie hat diese Liebe sofort verleugnet oder vergessen, als er sich in ihren Augen nicht ehrlich benommen hat. Das muß er richtigstellen. Er will nicht als ein Mensch mit labilem Charakter in ihren Augen erscheinen.
Diese Gedanken beherrschen ihn, als er fast lautlos die Stufen zu der Chirurgischen Abteilung nimmt. Schritt vor Schritt setzt er. Ihm graust vor der nächsten Stunde. Nur jetzt nicht Romberg oder dieser Ärztin Sanders in die Arme laufen. Er muß mit Magda sprechen. – Anita hat lange grübelnd am Bett der ruhig schlafenden Magda gesessen. Doktor Müller meinte, sie würde einige Stunden tief ruhen. Sie möchte das kleine Abendkleid, das sie mit soviel Freude angelegt hat, nicht mehr sehen. Sie hat wonnige Stunden darin verlebt, in einer für sie völlig neuen Welt. Es war nur ein Hauch der eleganten Welt, aber er hat sie gestreift und wie betäubt. Aber was hinterher gekommen ist, das möchte sie gern aus ihrem Gedächtnis streichen.
Sie eilt in das Schwesternzimmer, wo sie auch ihren Schrank besitzt, reißt sich die blumige Seide fast vom Körper und schlüpft in das blauweiß gestreifte Schwesternkleid.
So, jetzt ist sie fertig für den Dienst. Sie fühlt keine Müdigkeit. Im Gegenteil, sie ist erregt bis in die Fingerspitzen, und sie ist sich ganz der Schwere ihres Auftrages bewußt. Vielleicht hängt sogar ein Menschenleben dar-
an?
Magda ist vorzeitig aus ihrem Schlaf erwacht. Aber auf ihre Lider drückt es wie Blei, so daß sie kaum die Augen öffnen kann. Sie will es auch gar nicht. Sie hört eine leise geführte Unterhaltung und strengt sich an, jedes Wort zu vernehmen.
Auch die Stimmen hat sie erkannt. Es ist Doktor Müller und Schwester Anita. Merkwürdig, alles läßt sie kalt und gefühllos, nicht einmal das Gefühl der Rache arbeitet mehr in ihr. Alles ist gleichgültig geworden.
Doktor Freytag hat ihre Liebe verraten, jedenfalls das, was sie törichterweise für Liebe hielt. Sie hat so fest an das späte Glück geglaubt, wenn es auch kein reines Glück war.
Allmählich nimmt sie Anteil an dem, was sie hören muß. Doktor Müllers warme Stimme dringt tief in ihr Bewußtsein ein und auch Anitas anfänglich benommene, dann immer sicher werdende.
Alles hört sie, was die beiden ihretwegen verhandeln.
Seit langer, langer Zeit zieht Ruhe in ihr Herz. Hier kann ihr nichts geschehen. Doktor Müller wacht über sie, und Schwester Anita ist mit im Bun-
de.
Es stört sie auch nicht, daß sie die Tür öffnen und schließen hört. Schwester Anita ist ja bei ihr. Sie muß ihr ein paar liebe Worte sagen, denn sie hat ihr bitter unrecht getan.
Einen kleinen Spalt nur öffnet sie die Augen, bemerkt, daß sie allein ist und schließt sie beruhigt wieder. Gleich wird Anita an ihr Bett zurückkehren. Da knarrt der Fußboden.
Sie gibt sich den Anschein, als schliefe sie noch. – Sie spürt einen heißen Atem, fühlt sich an den Schultern gepackt und geschüttelt.
»Magda! Hörst du mich nicht?« dringt eine Stimme auf sie ein, die sie einst betört hat, vor der sie heute Abscheu empfindet und merkwürdigerweise keine Angst.
Sie liegt reglos, als sei jedes Leben aus ihr geflohen, nachdem er sie unsanft in die Kissen zurückgleiten ließ.
Nein! Heute kann er ihr keine Angst mehr einflößen. Heute fürchtet sie ihn nicht mehr. Aber sie hängt auch nicht mehr von ihm ab. Sie sehnt sich nicht mehr nach seinen Zärtlichkeiten. Die leiseste Berührung von seiner Seite verursacht ihr körperliches Unbehagen.
»Magda!« ruft er ihren Namen in beschwörendem Ton. Sie hört, wie er sich auf den Stuhl neben ihrem Bett setzt. Nur um eine weitere Berührung seinerseits zu verhüten, öffnet sie die Lider.
Sie sieht ihn kühl aus großen, dunkelumrandeten Augen an.
»Gott sei Dank«, hört sie ihn erleichtert sagen. »Ich wollte dich um Entschuldigung bitten, Magda. Natürlich bleibt alles zwischen uns, wie es war. Du wirst doch nicht auf die kleine Schwester Anita eifersüchtig sein?«
Groß hängen ihre Augen an seinem Mund. Sie spürt die ungeheure Spannung hinter seinen Worten und gleichzeitig die immer mehr um sich greifende Müdigkeit, die ihr beinahe die Augen zudrückt.
Und doch arbeitet ihr Gehirn klar wie immer.
»Eifersüchtig?« Es kommt zwar wie ein Hauch aus ihrem Munde, doch er versteht sie gut, da er sich tief zu ihr hinunterneigt.
»Dann war es wohl auch nur Eifersucht, mit der du mich aus deinem Zimmer jagtest?«
»Magda«, versucht er sie umzustimmen. Er fühlt, daß er eine völlig veränderte Frau vor sich hat. »Vergiß doch die kleine Szene bei mir. Mein Gott! Du kennst mich doch. Manchmal weiß ich selbst nicht, was ich tue.«
»Was willst du eigentlich von mir?« fragt sie, alle Kraft zusammenreißend.
»Dich um Verzeihung bitten, ich sagte es bereits«, wiederholt er leicht ungeduldig.
»Ich habe dir nichts zu verzeihen. Du kannst zukünftig tun und lassen, was du willst.« Jetzt hebt sie den Kopf ein wenig, so schwer es ihr auch fällt. Mitten hinein in seine blauen Augen spricht sie, die sie einmal bezaubernd schön, für einen Mann viel zu schön fand. »Aber laß mich in Zukunft auch zufrieden, wenn es sich um Befriedigung deiner Gier handelt. Ich will damit nichts mehr zu tun haben. Hoffentlich hast du mich richtig verstanden. Und nun bitte ich dich, geh! Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
Er lächelt nur ungläubig. Aber es ist nicht echt. Es kostet ihn einigermaßen Überwindung, harmlos auszusehen. Innerlich spürt er, daß sie ihm völlig entglitten ist.
Wer steckt wohl dahinter? Im selben Augenblick taucht Anita auf, sieht Freytag am Bett sitzen und kämpft mit Unbehagen und leisem Grauen.
»Du hier?« fragt er auch sofort, als sie neben ihm steht.
Sie lächelt ihn an, als sei nichts zwischen ihnen geschehen, was ihr Verhältnis zueinander getrübt hätte. »Oberschwester Magda fühlt sich nicht wohl, und da ich etwas Zeit habe, kümmere ich mich ein bißchen um sie. Wie kommt es«, lenkt sie geschickt ab, »daß du so früh schon im Krankenhaus