man haben – geht es ihm durch den Kopf – während er das kühne, ernste Gesicht Rombergs lange und eingehend betrachtet.
»Sie haben in Doktor Sanders einen Fürsprecher zu mir gesandt. Einen besseren konnten Sie nicht finden. Ich bin mit mir zu Rate gegangen und schließe mich der Meinung Doktor Sanders’ an. Was in meiner Macht steht, werde ich tun, um die Sache zum Guten hinzubiegen.« Er unterbricht einen Augenblick seine kleine Ansprache, bemerkt, wie ein Schein der Erlösung über Rombergs wie über Müllers Züge geht und fährt fort. Zunächst wendet er sich an Doktor Müller: »Sie werden sich der Oberschwester annehmen, damit sie recht bald wieder auf die Beine kommt und die düstere Vergangenheit vergißt. Und Sie, Romberg«, sagt er zu diesem, ein kleines Lächeln in den Mundwinkeln, »Ihr Chef bittet Sie wegen seines – hm – ich gebe zu – Mißtrauens um Verzeihung. Irren ist menschlich. Ich habe mich stark geirrt. Hoffentlich tragen Sie mir nichts nach, Herr Oberarzt Doktor Romberg.«
Romberg nimmt ordentlich Haltung an bei des Professors Worten. Heiß und freudig quillt es ihm zum Herzen.
»Daß Sie über alles schweigen, was sich hier abgespielt hat, ist wohl selbstverständlich. Wir wollen nicht noch mehr Staub aufwirbeln.«
»Gewiß, Herr Professor, unser Ehrenwort darauf.« Sie sagen es fast wie aus einem Munde, Romberg und Müller.
Wieder liegt der Schein eines Lächelns um Beckers Mund. Diesmal richtet er das Wort direkt an Romberg: »Ihnen wollte ich noch einen kleinen Wink geben, Romberg. Laufen Sie nicht mit Scheuklappen durch Ihre Tage. Mancher ist schon an seinem Glück vorbeigegangen, ohne es wahrgenommen zu haben. Sehen Sie mich alten Narren an, ich habe so ziemlich alles falsch gemacht. Für mich galt nur der Beruf etwas. Nun ja, ich habe allerhand erreicht, aber das Glück hat mich vergessen. Heute bin ich ein einsamer Mann, der sich langsam bereitmacht, auf seinen Lorbeeren auszuruhen.« Er erhebt sich, blickt auf die Uhr und wird sachlich und unpersönlich. »Vielleicht können wir jetzt unsere Visite antreten.«
Lange grübelt Romberg, der eigentlich seinen Dienst beendet hat, sich aber doch der Morgenvisite anschließt, über des Professors Worte nach.
Er harrt neben dem Professor aus, geht mit ihm und dem folgenden Ärztestab von Bett zu Bett, und seine Gedanken suchen Doktor Sanders.
Sybilla – denkt er – und eine nie gekannte Weichheit, eine wohltuende Zärtlichkeit durchströmt ihn.
Als sich der Professor von seinem Stab verabschiedet, eilt Romberg mit großen Schritten ins Ärztezimmer, findet es leer und läuft hinüber zu Sybillas Wohnung.
Die Tür ist unverschlossen. Sachte tritt er ein. Noch nie ist er in Sybillas Wohnung gewesen, aber er findet sofort das Wohnzimmer.
Vom Fenster löst sich eine zarte Frauengestalt. Das schöne Haar liegt in weichen, natürlichen Wellen um den Kopf, fällt etwas über die Wange. Ein langfließendes Morgenkleid umhüllt die schmalen Glieder.
Wie gebannt blickt er auf diese verwandelte Frau, an der weder Abwehr noch künstliche Gelassenheit zu spüren ist.
Er geht langsam auf sie zu. »Sybilla!« Seine Stimme klingt frisch, unbekümmert, fast jungenhaft. »Wie schön, daß es dich gibt. Gerade jetzt, da mein Herz übervoll ist, brauche ich dich. Ich – ich liebe dich.«
Sybilla schließt die Augen vor dem großen, berauschenden Glück. In der nächsten Sekunde liegt sie in Doktor Rombergs Arm, fühlt seine Küsse auf Augen und Mund. Dort bleiben seine Lippen ruhen. Es ist ein langer, leidenschaftlicher Kuß, unter dem die scheue Sybilla erzittert. Das Glück raubt ihr fast den Atem. Romberg spürt, wie sich ihr Mund öffnet, wie er den Druck seines Kusses erwidert und ist irrsinnig glücklich.
Lange halten sie sich umschlungen.
»Weißt du was, Sybilla?« bricht Romberg endlich die Stille und drängt sie ein wenig von sich ab. »Wir werden gemeinsam die Praxis deines Vaters übernehmen. Mich ekelt plötzlich der Betrieb hier an. Warum soll ich nicht als Landarzt tätig sein – mit dir an meiner Seite?«
Ihre Augen schimmern feucht. »Ist das – ist das dein Ernst?« Und als er nickt, wirft sie die Arme um seinen Hals. »Oh, Wolfram, das wäre wunderbar und Vaters ganze Freude. Ich danke dir.«
Alles, was sich in der letzten Zeit an Zweifel, an Unausgesprochenem, an unsicheren Hoffnungen in ihr aufgespeichert hat, löst sich in einem Tränenstrom, der ihrem Herzen Erleichterung bringt.
Behutsam und erschüttert zugleich trocknet Romberg das schöne, blühende Frauenantlitz. Noch nie hat er in den klaren Augen auch nur eine Träne gesehen.
»Warum weinst du, Sybilla?« Fester legt er den Arm um die weiche Gestalt.
»Ich weiß es auch nicht, Wolfram. Vielleicht überwältigt mich das Glück? Noch kann ich es nicht richtig fassen, daß du mich liebst.«
Da nimmt er sie abermals in seine Arme und küßt ihr die letzten Zweifel von den sich willig öffnenden Lippen.
*
»Magda!« Doktor Müllers Stimme klingt weich und zärtlich.
Sie hat einen schweren Traum gehabt, schwer und bedrückend, und sie kann sich nicht gleich in der Wirklichkeit zurechtfinden.
»Magda«, spricht die bekannte Stimme auf sie ein, und sie lauscht ihr mit einem plötzlichen Hämmern des Herzens. »Alles ist vorbei, hörst du mich? Professor Becker weiß – alles – und er verzeiht alles. Du darfst dich wieder deines Lebens freuen. Ich werde dir dabei helfen. Willst du?«
Ihre Augen bleiben an seinem Mund haften. Alles hat sie verstanden. Sie kann es kaum begreifen. Aber merkwürdig, ihm glaubt sie jedes Wort.
»Es gibt keinen bösen Alpdruck mehr, Magda.« Er nimmt ihre kalte Hand auf, haucht warm darüber hin und hält sie dann fest. »Ich habe dir schon einmal gesagt, ich bin dir ein treuer Freund. Ich möchte dir aber viel mehr sein. Ich liebe dich, Magda.«
Magda, das gehetzte Menschenkind, das den einzigen Ausweg darin suchte, seinem Leben ein Ende zu setzen, ist bis tief ins Herz aufgewühlt.
»Sag doch ein Wort, Magda«, bettelt der Mann neben ihr förmlich.
Der Schatten eines Lächelns überzieht ihr Gesicht. »Professor Becker weiß alles? Und Freytag? Was ist mit ihm?« ringt sie sich die Fragen ab, die sie noch quälen.
»Alles ist gut, Magda. Martin Freytag wird gesund werden, dafür sorgt der Professor. Schwester Anita wird ihm treulich zur Seite stehen. Ist nun alles geklärt?«
Sie versucht, sich aufzurichten, und liebevoll unterstützt er sie dabei.
»Ich verdiene gar nicht ein so treues Herz, wie das deine«, klagt sie sich an, ängstlich seinen Blick suchend. Aber daraus liest sie keinen Vorwurf, nur Liebe, selbstlose Liebe. Da schmiegt sie sich an ihn. »Wenn du mich haben willst.«
Weiter kommt sie nicht. Er drückt sie fest an sich, als wolle er sie nie wieder freigeben, und zum ersten Male empfindet sie bei dem aufsteigenden Glücksgefühl auch Geborgenheit und Zuverlässigkeit.
*
»Was machen Sie denn hier?«
Anita reißt es beinahe herum.
Eine schlanke, blonde Frau steht in der Tür und kommt langsam näher.
Anita schlägt das Schreibtischfach zu und verbirgt den Gegenstand ihres Suchens hinter ihrem Rücken. »Ich – ich habe im Auftrag Ihres Bruders etwas gesucht«, stößt sie trotzig hervor.
Die Frau sieht mit einem höhnischen Lächeln auf sie hinab, daß sie in wilde Wut gerät. Sie ist ja die Frau, die mitgeholfen hat, daß Martin in diese furchtbare Lage geriet.
»Lassen Sie mich ungehindert gehen. Was ich hier gesucht habe, geht nur mich und ihren Bruder etwas an.«
»Aber mich geht es etwas an«, mischt sich von der Tür her eine Stimme ein, bei deren Klang Anita alle Kräfte verlassen. Aufstöhnend sinkt sie in den Sessel vor dem Schreibtisch.
»Mit dir rede ich später«,