Wortlos macht Christiana kehrt. Sie ist ganz benommen und sucht grübelnd ihr Wohnzimmer auf, wo sie auf Becker wartet.
»Und nun zeigen Sie mir einmal, was Sie hier gesucht haben«, beginnt der Professor das Verhör mit Anita, die vor Angst und Schreck todblaß und steif in dem Sessel sitzt.
Sie läßt sich willig aus der Hand nehmen, was sie vor Christiana verborgen halten wollte.
»Das Röntgenbild«, kommt es verblüfft nach wenigen Minuten von Bekkers Lippen. Über den Rand seiner Brille blickt er auf das Häufchen Elend, so kommt ihm die kleine Person in ihrem augenblicklichen Zustand vor.
»Ich – ich wollte es vernichten«, preßt Anita mit Kraftanstrengung hervor. »Martin wird auch so genug zu leiden haben. Und dem Mann war ja sowieso nicht mehr zu helfen.«
Anita gegenüber läßt der Professor sich nieder. Das Bild hält er auf seinem Schoß. »So, Martin wird genug leiden, und dem Mann, ich nehme an, daß Sie Stücker meinen, war nicht mehr zu helfen? Eine eigenartige Auffassung haben Sie, Schwester Anita.«
»Herr Professor«, leidenschaftlich kommt es über Anitas Lippen. »Martin ist doch ein kranker Mensch und für sein Handeln nicht voll verantwort-lich. Kranken muß man aber helfen, Herr Professor. Sie selbst sind ein leuchtendes Beispiel für diese Auffassung.«
Er schüttelt den Kopf. »Merkwürdig ist das.« Beinahe sagt er es zu sich selbst. »Da lassen sich die Frauen quälen, schweigen aus Liebe und begehen Dinge.«
»… aus Liebe, Herr Professor«, unterbricht sie ihn leise, fest entschlossen, für ihre Liebe zu kämpfen.
Wie ein Wunder schaut er sie an. »Und Sie verlangen allen Ernstes, ich soll aus Liebe zu allem still schweigen?« Er drängt sie in die Enge, denn er ist längst entschlossen, ihr und Martin zu verzeihen.
»Dann – dann wären Sie auch als Mensch ganz groß«, kommt es ohne Besinnen von ihr.
»Hm! Hm!« macht er und dann zwingt er sich zur Strenge. »Nehmen Sie es an sich, das Bild, und lassen Sie es verschwinden. Und dann machen Sie, daß Sie so schnell wie möglich ins Krankenhaus kommen. Dort wartet ein Patient auf Sie. Ich glaube«, und jetzt zwinkert er ihr sogar ein wenig zu, »aus Liebe!«
»Herr Professor!« In ihrer übergroßen Freude wäre sie ihm am liebsten temperamentvoll um den Hals gefallen. »Ich danke Ihnen. Oh, wie sehr ich Ihnen danke!«
Sie stürmt zur Tür, überlegt kurz und kehrt wieder zurück.
Freimütig reicht sie dem Professor das Röntgenbild. »Vernichten Sie es selbst, Herr Professor, bitte.«
Er nimmt es lächelnd entgegen, drückt ihre kleine Hand und sagt: »Mit Ihnen und Martin habe ich später noch ein Wörtchen zu reden.«
Sofort tritt der angstvolle Ausdruck wieder in ihre Augen.
»Keine Bange, ich fresse weder Sie noch Martin auf. Daß ich so milde gestimmt bin, haben Sie lediglich Doktor Sybilla Sanders zu verdanken. Und nun, marsch ins Krankenhaus.«
Anita fliegt förmlich davon. Lächelnd sieht er hinter der zierlichen Person her. Komisch, in den zartesten Frauen scheint meistens ein ungeheurer Wille zu leben.
Nun geht er hinüber in das Wohnzimmer zu Christiana Stücker.
»Nimm Platz, Onkel Becker«, sagt sie, nachdem sie sich mit leichtem Händedruck begrüßt haben.
»Kannst du ein Röntgenbild lesen?« beginnt er, sofort auf sein Ziel lossteuernd.
Sie schüttelt den Kopf.
»Nicht?« Sachlich spricht er weiter, beinahe so, als gehe ihn die ganze Angelegenheit nichts an. Aber er fühlt ihren mit Spannung geladenen Blick voll auf sich ruhen.
»Du brauchst Doktor Romberg nicht mehr zu erpressen –«
»Onkel Becker«, unterbricht sie ihn empört.
Ungeachtet ihres Einwurfes redet er weiter. »Das Röntgenbild hat Martin entwendet. Doktor Romberg hätte übrigens mit und auch ohne dieses Bild deinen Mann nicht mehr retten können. Ich auch nicht. Das wollte ich dir nur sagen. Ich würde dir dringend raten, eine Zeitlang zu verreisen. Ich glaube, du bist mit deinen Nerven am Ende und ein Doktor Romberg ist sowieso nicht erreichbar für dich. Hast du mich verstanden, Christiana?«
Sie kommt sich gemaßregelt vor wie ein Schulkind. »Bisher habe ich noch immer getan, was ich wollte. Warum soll das auf einmal anders sein?« Sie bebt vor mühsam zurückgedrängter Wut.
»Dann wäre es an der Zeit, den Rat eines Menschen anzunehmen, der es jederzeit gut mit dir, mit deinem Bruder und auch mit deiner Mutter gemeint hat. Oder willst du, daß Martin, der allerlei auf demm Kerbholz hat, unmöglich wird?«
»Was ist mit Martin los?«
»Nichts, ein kleiner Unfall. Du kannst dich unbesorgt auf Reisen begeben. Deine Liebe zu Martin war ohnehin nicht sehr groß. Ich glaube, du liebst dich selbst am meisten. Und nun guten Tag und gute Erholung.«
»Onkel Becker!« murmelt sie, aber da hat der Professor schon das Zimmer verlassen. Wenig später hört sie einen Wagen wegfahren.
*
Die Monate gingen dahin. Der Herbst hat seinen Einzug gehalten mit Regenschauern und Stürmen.
Martin Freytag sitzt in Decken gehüllt in seinem Zimmer. Anita hantiert hinter ihm. Er kann es noch nicht fassen: Onkel Becker weiß alles, er hat ihm verziehen. Er hat sich erboten, ihn zu einer Entziehungskur zu schicken, und Anita darf ihn begleiten.
»Anita!« Im Nu ist sie an seiner Seite und legt ihre Hand auf seine Schulter. Er fängt diese Hand ein und bedeckt sie mit Küssen. »Ich habe dir so unendlich viel zu danken. Darf ich dich heute noch einmal fragen, ob du meine Frau werden willst, wenn ich wieder richtig gesund werde?«
Sein schmalgewordenes Gesicht mit den noch getrübten Augen blickt voll Bangnis zu ihr auf.
Sie rettet sich vor Rührung hinter ihre Burschikosität. »Natürlich will ich deine Frau werden. Denkst du, ich habe das alles für umsonst getan? Wir Frauen sind nun einmal so berechnend.«
Er lacht hell auf. »Ach, Anita, du bist herzerfrischend, wenn du dich so angriffslustig gibst. Dabei behaupte ich, du hast das weichste Herz auf der Welt.«
»So?« sagt sie, bückt sich schnell und küßt ihn auf den Mund. »Und ich behaupte, daß du viel zu lange auf den Beinen bist. Ins Bett mit dir«, kommandiert sie. »Über Liebe reden wir später.«
Gehorsam läßt er sich aus dem Sessel helfen. Als er in den Kissen ruht, zieht er sie zu sich herab und küßt sie lange und innig.
»Mein Gott, Anita«, stöhnt er leise auf, »daß man so unvernünftig glücklich sein kann!«
»Kann man«, erwidert sie kurz angebunden. »Jetzt schlaf aber. Wenn der Professor kommt, mußt du frisch und ausgeruht sein. Ich glaube, dann wirst du die Kopfwäsche besser überstehen.«
Er legt sich mit geschlossenen Augen zurück.
»Doktor Romberg und Sybilla Sanders muß ich noch besonders danken, Anita. Du darfst sie auf keinen Fall fortschicken, wenn sie mich besuchen kommen.«
»Ganz bestimmt nicht«, versichert sie ihm, zupft noch ein bißchen an dem Kopfkissen herum, wartet bis er eingeschlafen ist und setzt sich mit einem glücklichen Seufzer neben sein Bett.
*
Ein Jahr ist vergangen.
Im Robert-Koch-Krankenhaus gibt es keine geflüsterten Gerüchte mehr, keine unsauberen Machenschaften.
Doktor Müller ist Oberarzt geworden und äußerst tüchtig. Er hat Magda geheiratet, und sie besitzen ein nettes eigenes Haus.
Doktor Freytag ist wieder gesund. Er steht an Doktor Müllers Seite, wieder der lernbegierige, aufgeschlossene und übermütige junge Arzt, der die Patienten bezaubert.
Am