…?!«
»Kein Mensch in der Stadt hat noch ein Stück Brot. Sie fressen Erde – es gibt nichts weiter.«
Andri starrte düster ins Leere.
Das Weib fuhr fort: »Das Fräulein hat dich vom Wall aus unter den Kosaken gesehen. Sie sagte zu mir: ›Geh hin zum Ritter: wenn er meiner gedenkt, soll er kommen; und hat er mich schon vergessen, dann soll er dir doch ein Stück Brot geben für meine alte Mutter – ich kann es nicht mit ansehen, wie sie vor meinen Augen langsam dahinstirbt. Lieber will ich zuerst verhungern – wenn sie nur lebt, bis ich tot bin. Wirf dich ihm vor die Füße und leg die Arme um seine Knie: er hat selbst eine Mutter – bei ihrem Leben beschwör ihn um ein Stück Brot!‹«
Ein Sturm von Gefühlen erschütterte den jungen Kosaken. »Aber wie kommst du her?« forschte er.
»Durch den geheimen Gang.«
»Gibt es da einen geheimen Gang?«
»Unter der Erde, ja.«
»Wo?«
»Wirst du uns auch gewiß nicht verraten, Herr Ritter?«
»Ich schwör es dir beim heiligen Kreuz!«
»Von hier zum Bach hinunter, über dem Wasser, dort wo das hohe Schilf ist …«
»Und kommt man durch diesen Gang in die Stadt?«
»Geradeswegs ins städtische Kloster.«
»Also … Was warten wir noch!«
»Aber um Christi und der heiligen Jungfrau willen, ein Stück Brot!«
»Schon recht, ich hol was! Bleib hier beim Wagen, oder kriech besser hinauf! Keiner sieht dich, sie schlafen alle; ich bin gleich wieder da.«
Er machte sich auf den Weg. Sein Herz klopfte heftig. Die Vergangenheit, die durch das Lagerleben, durch die bunten Kriegsabenteuer in den Hintergrund getreten war, drängte sich wieder vor und schob nun die Gegenwart in den Schatten. Wie aus dunkler Meerestiefe tauchte das stolze Weib ans Licht; von neuem letzte sich sein Gedächtnis an ihren weißen Armen, ihren Augen, ihren lachenden Lippen, an dem üppigen, dunkel nußbraunen Haar, das sich in Locken auf ihre Brüste ringelte, an dem vollendeten Ebenmaß ihrer biegsamen Mädchengestalt. Nicht erloschen war dies Bild, nicht entschwunden aus seinem Herzen – für eine Weile nur war es vor der Gewalt der neuen Bilder vom Schauplatz getreten, gar oft hatte es durch die nächtigen Träume des Jünglings gegeistert, gar oft war Andri emporgefahren und hatte schlaflos auf seinem Lager gelegen und nicht gewußt, warum ihm solches geschah.
Er setzte langsam Fuß vor Fuß und spürte beinah eine Lähmung in den Knien, fühlte sein Herz wilder und wilder pochen bei dem Gedanken, daß er sie wiedersehen sollte. Als er vor dem Packwagen stand, hatte er völlig vergessen, was er hier suchte; er rieb sich mit dem Handrücken die Stirn und überlegte, weshalb er gekommen sei. Endlich traf es ihn wie ein Schlag: ihn überfiel die Angst, sie könne Hungers sterben. Er lud sich eilend ein paar Laibe Brot auf. Doch konnte solche derbe Kosakenkost dem zarten Wesen willkommne Nahrung sein? Nun, es mußte wohl noch etwas andres geben. Erst heute abend hatte der Hetman die Köche hart angelassen, weil sie das Buchweizenmehl, das drei Tage reichen sollte, für eine einzige Mahlzeit verbraucht hatten! Fest überzeugt, daß er noch Brei zur Genüge finden würde, kramte Andri seines Vaters Feldkessel hervor und suchte den Gemeindekoch auf. Der lag schlafend neben den beiden großen Kupferkesseln, deren jeder zehn Eimer faßte, und unter denen die Asche noch glühte. Andri mußte zu seiner Verblüffung feststellen, daß die Riesengefäße sauber ausgekratzt waren. Solche Mengen zu vertilgen – dazu gehörten wirklich übermenschliche Kräfte, zumal da Andris Gemeinde weniger Köpfe zählte als die andern. Er untersuchte die Kessel der Nachbargemeinden – nirgends ein Restchen zu finden. Er mußte an den Spruch denken: »Der Kosak ist ein Kind: koch wenig, koch viel – er frißt, was da ist, mit Stumpf und Stiel.« – Was tun? Ihm kam in den Sinn, daß es auf dem Regimentspackwagen seines Vaters noch einen Sack Weißbrot geben müßte, den sie bei der Plünderung der Klosterbäckerei erbeutet hatten. Er fand das Gesuchte aber nicht auf dem Wagen: Ostap hatte sich den Sack unter das Genick geschoben und lag und schnarchte, daß es weit durch die Nacht klang. Andri packte den Sack und riß so hastig daran, daß seines Bruders Kopf hart gegen die Erde knallte.
Halb noch im Schlaf, setzte sich Ostap auf und schrie, ohne die Augen zu öffnen, aus vollem Halse: »Haltet ihn fest, haltet den Satanspolacken, fangt seinen Gaul, den Gaul müßt ihr fangen!«
»Sei still, oder du bist ein Kind des Todes!« rief Andri erschrocken und holte mit dem Sack gegen ihn aus.
Aber Ostap sagte ohnehin kein Wort mehr: er hatte sich schon wieder beruhigt und schnarchte, daß sich von seinem Hauch die Gräser bogen.
Andri spähte besorgt in die Runde, ob von Ostaps schlaftrunknem Gebrüll niemand aufgewacht wäre. Und wirklich hob sich in der Nachbarschaft ein beschopfter Kopf und ließ die Augen wandern. Doch sank er gleich wieder ins Gras. Der junge Kosak wartete noch eine Weile und ging dann weiter mit seiner Last.
Die Tatarin lag auf dem Wagen und wagte kaum zu atmen.
Andri flüsterte: »Hopp, komm herunter! Alles schläft, hab keine Angst! Kannst du nachher ein paar von den Broten nehmen, wenn mir der Kram zu schwer wird?« Sprachs, lud sich die Säcke auf den Rücken und holte im Vorbeigehn noch einen Sack Hirse von einem Wagen. Unter die Arme nahm er die Brote, die er der Tatarin zum Tragen hatte geben wollen, und schritt, etwas gebückt unter der Bürde, keck durch die Reihen der schlafenden Kosaken.
»Andri!« rief, als sie an ihm vorbeikamen, plötzlich der alte Bulba.
Dem Sohn stand das Herz still; er machte halt und stammelte, zitternd am ganzen Leibe: »Was ist denn?«
»Du läufst mit einem Weibsbild herum! Wart nur, mein Sohn, wenn ich aufsteh – den Hintern verhau ich dir! Von den Weibern lernst du nichts Gutes!«
Bulba stützte das Kinn in die Hand und musterte scharf die in ihr Tuch gehüllte Tatarin.
Andri war nicht lebendig und nicht tot, er hatte den Mut nicht, dem Blick des Vaters zu begegnen. Als er endlich die Augen hob und ihn ansah, merkte er, daß der alte Bulba schon wieder schlief, noch in der gleichen Haltung, das Kinn in die Hand gestützt.
Andri bekreuzigte sich. Der Schreck verebbte schneller, als er ihm vorhin zu Herzen geströmt war. Als er sich nach der Tatarin umschaute, sah er sie stehen gleich einer Bildsäule aus dunkelm Granit, fest in ihr Tuch gewickelt; nur ihre Augen glänzten im Schein der fernen Feuersbrünste – er fühlte sich an die gebrochnen Augen einer Leiche erinnert. Aufmunternd zog er sie am Ärmel; sie schritten zusammen rüstig aus und wendeten viele Male besorgt die Köpfe, bis sie endlich über den Hang in die Schlucht abgestiegen waren, auf deren Grunde der Bach zwischen Moostümpeln träg durch das Riedgras plätscherte. Hier waren sie vor jedem Blick vom Lager her gedeckt. Als Andri sich umschaute, sah er die Böschung als senkrechte Wand von mehr als Mannshöhe hinter sich aufsteigen; oben nickten vereinzelte Grashalme, und darüber hing schief im Himmel der Mond, gleich einer Sichel aus blankem Dukatengold. Ein leichter Wind, der das Gras erschauern ließ, kündete, daß der Tag nicht mehr fern sei.
Jedoch kein Hahnenschrei klang in der Runde. Hähne gab es hier längst nicht mehr, nicht in der Stadt, nicht bei den Bauern. Auf einem schmalen Brett überquerten sie den Bach, dessen andres Ufer noch höher und steiler anstieg als das verlassene. Dies schien ein von Natur fester und sichrer Punkt des städtischen Weichbildes zu sein – dafür sprach schon, daß der Wall hier niedrig und nicht von Posten besetzt war. Weiterhin schloß sich die feste Klostermauer an. Der Hang war mit Steppengras bewachsen; auf dem schmalen Rain zwischen ihm und dem Bach wucherte mannshohes Röhricht. Oben auf der Höhe sah man die Trümmer eines Flechtwerkzaunes, der einst einen Küchengarten umfriedet haben mochte. Außen säumten den Zaun breitblättrige Kletten, über ihn hervor lugte ein Gewirr von Melden und stachligen Disteln, dahinter hoben Sonnenblumen stolz die Köpfe. Nun schlüpfte die Tatarin aus den Stöckelschuhen und ging barfuß weiter, behutsam schürzte sie ihr Gewand, denn der Boden war sumpfig und wasserreich.