Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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Klaus Eckenbrecher, der gestern noch ein so kleiner Knabe war, heute so viel gesehen, so viel erlebt hatte, in der schrecklichen Schlacht bei Sankt Quintin mitgekämpft und dem König von Hispanien den Sieg mit gewonnen hatte? War es nicht ein schier noch viel größeres, viel unbegreiflicheres Wunder, daß da im Stübchen im Schein der kleinen Lampe die wunderschöne Jungfrau mit den blonden Locken saß und im tiefen Sehnen an den lauschenden Klaus dachte? War diese wunderholde Jungfrau die Monika, welche gestern noch mit dem Klaus kindisch die zerbrochene Puppe beweinte?

      Wie hing der Blick des jungen Hauptmanns an der Braut, welche in der Mitte ihres Stübchens auf niedrigem Schemel hinter dem Spinnrade saß gleich der Prinzessin inmitten des Zaubermärchens!

      Fort und fort drehte sich surrend das Rad, und mit halbgeschlossenen Augen saß die liebliche Spinnerin und nickte mit dem müden Köpfchen und sang mit leiser Stimme:

      »Ich träumte so holden,

       So seligen Traum;

       Drin baut ich ein Schloß

       In den Himmelsraum.

      Drin baut ich ein Schloß

       Aus Edelgestein

       Und setzte den Liebsten

       Als König darein.

      Doch als die Sonne

       Zur Höhe sich hob,

       Der schöne Traum

       Im Lichte zerstob.

      Mein Liebster ist fern,

       Er ist nicht allhier;

       O Sonne, o Sonne,

       Was leuchtest du mir?

      Gott grüße dich, Abend,

       Gott grüße dich, Nacht;

       Ihr habt mir den Traum

       Und das Glück gebracht!«

      Mit einem hellen Schrei fuhr die Sängerin in die Höhe; vor dem Fenster klang es jubelnd:

      »Gott grüße dich, Abend,

       Gott grüße dich, Nacht,

       Die Liebe zu Liebe

       Zurück ihr gebracht!«

      Zu dem Fenster stürzte die Monika und riß es auf: »Klaus, Klaus – um Gottes willen, Klaus, lieber Klaus, bist du es? Bist du es wirklich?«

      »Wirklich und wahrhaftig!« jauchzte der junge Hauptmann, und Lippe an Lippe, Brust an Brust, durcheinander schluchzend und lachend, hielten sich die beiden Verlobten umschlungen. Hundert heiße Küsse wechselten sie, ehe eins von beiden ein irgend verständliches Wort hervorbrachte. Erst als ein Windstoß die Lampe auf dem Tische ausblies und alles um sie her in die tiefste Nacht versank, wand sich die Monika aus den Armen des Klaus und eilte aus dem Zimmer, um die Tür, die aus dem Hause in den Garten führte, dem heimgekehrten Herzliebsten zu öffnen. Auf der Flur trat ihr der Vater entgegen, welcher mit seiner Studierlampe aus seinem Studierzimmer herabgestiegen war, um dem Lärm in den untern Räumen des Hauses nachzuforschen.

      »Der Klaus, mein Klaus ist da!« rief die Monika, an dem Vater vorübereilend und den Riegel der Tür, welche den Schatz ausschloß in die dunkle Nacht, zurückschiebend. Herein stürzte der Klaus, und mit ihm kam ein neuer Windstoß, welcher auch die Lampe Ehrn Valentins auspustete.

      »Eh!« rief der Alte. »O über den Windbeutel – ist das ein bös Omen!«

      »Monika, Monika, wo bist du?« jubelte der Klaus, und abermals lagen die Liebenden einander in den Armen, während der Pastor in der Küche ärgerlich mit Stahl, Feuerstein und Schwefelfaden sich abquälte.

      »O, wie hab ich dich lieb, mein herzig Reiterlein! O, wie hab ich geweint, als ich vom Vater herausgebracht hatt’, daß dein armes Aug verlorengangen sei in der greulichen Schlacht!« schluchzte die Monika.

      »Du weißt es schon?« rief der Eckenbrecher. »Ich dacht –«

      »O gräm dich nicht, gräm dich nicht, noch viel lieber hab ich dich, Herzlieb –«

      »Ich hab mich also den ganzen Weg von Flandern her vergeblich um das gequält, was du dazu sagen würdest? Himmeldonnerwetter – morbieu, ich möchte mich zu Tode heulen!«

      »Man lasse solches greuliche Fluchen!« sprach Ehrn Valentin, der endlich über die mangelhaften Feuerzeugseinrichtungen des sechzehnten Jahrhunderts Meister geworden war und nun mit seiner Lampe vom Kopf bis zu Füßen den einstigen Zögling beleuchtete.

      Er seufzte mehrmals bedenklich, über das schwarze Pflaster schüttelte er das Haupt, sprach aber während dieser Untersuchung kein Wort. Nach Beendigung derselben befahl er der Monika, für Speise und Trank zu sorgen, er selbst führte, nachdem der Klaus sein Roß in den Stall neben dem blinden Gaul des Pfarrhauses untergebracht hatte, den Reitersmann in seine Studierstube hinauf, deren Tür er hinter sich verriegelte, um weder durch das Töchterlein noch sonst Magd, Knecht oder Nachbar gestört zu werden. Eine böse halbe Stunde verlebte der unglückliche Klaus nun unter einem Kreuzfeuer der verfänglichsten Fragen. Aber als ein mutiger Kriegsmann hielt der jetzige Lippesche Hauptmann diesem Feuer stand, holte jedoch tief und freudig Atem, als der Alte den Riegel der Tür wieder zurückschob und das Examen dadurch für beendigt erklärte.

      »Kann ich jetzt hinuntergehen?« fragte der Kriegsheld demütig, schüchtern, bittend.

      »Meinetwegen«, brummte der Alte. »Kann ich was dargegen tun? Packe dich!«

      Mit einem Satz war Klaus aus der Tür und die Treppe hinunter. Ehrn Valentin Fichtner stand recht nachdenklich da; dann saß er nieder vor seinem Schreibtisch und fing ein neues Kapitel an in seinem Traktat wieder des Babsts Abgötterey:

      »Was es mit dem Cölibat für eine Bewandtnis hat, und was dagegen zu sagen ist.«

      Er kam aber an diesem Abend über diese Überschrift nicht hinaus. Nach einer halben Stunde schon saß er in der einstigen Kinderstube des Pfarrhauses zwischen dem Klaus und der Monika und ließ sich von dem Klaus Eckenbrecher die Schlacht von Saint Quentin und den Tod des Grafen zu Pyrmont und des Ritters Don Cesare Campolani berichten, wahrend der Herbststurm draußen immer wüster forttobte. Nach der Schlacht von Saint Quentin erzählte der Klaus von der Erscheinung des Bruders Festus, und dichter drängte sich die Monika zusammenschauernd an den Geliebten und warf einen scheuen Blick in die Dunkelheit hinter den Fenstern. Der alte Pastor Fichtner aber nahm das Käpplein ab und stimmte aus den Liedern des teuern Mannes Gottes Martin Luther den Vers an:

      »Von allem Übel uns erlös,

       Es sind die Zeit und Tage bös;

       Erlös uns von dem ewgen Tod

       Und trost uns in der letzten Not,

       Bescher uns all’n ein selges End,

       Nimm unsre Seel in deine Händ!«

      Beide Kinder stimmten in den Gesang ein – o hätte der Sturmwind doch die feierlichen, holden Töne über die Weser zum Kirchhof von Stahle, zu den »Gräbern der Fremden« tragen können! Auf dem Grabhügel Simone Spadas kauerte eine Gestalt und starrte in die Nacht hinein hinüber nach den Lichtern des Städtleins Holzminden. Auf dem Grabhügel Simone Spadas fanden am andern Morgen die Bauern von Stahle den leblosen Leib des Bruders Festus.

      Dreihundert Jahre sind vergangen! Weiß schimmert in der Nacht nach Christi Himmelfahrt 1860 die Apfelblüte vor den Fenstern des Erzählers; es ist Frühling, schönster Frühling geworden. In der Mitternachtsstunde durchzieht ein warmes Lüftchen säuselnd die Bäume – am Himmel funkeln Millionen Sterne – es schneiet Blüten! Anno 1640 ist der Glaubenskrieg mit allen seinen Greueln über das Wesertal fortgezogen; in Flammen ist die lutherische Stadt Holzminden, in Flammen ist das katholische Dorf Stahle aufgegangen. Dorf und Stadt sind wieder aufgebaut worden, aber wer kennt noch zu Stahle und Holzminden die »Gräber der Fremden«? Noch leuchten Berg und Tal und Fluß im jugendlichen Glanz, aber wer weiß noch in Holzminden und Stahle ein Wörtlein von dem Klaus und der Monika Eckenbrecher? Wer weiß noch Bericht zu geben von dem unseligen Vikarius Festus? Es schneiet Blüten!

      Noch