Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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durch die große Ironie des Schicksals, auf dem Kirchhof zu Töplitz, und das hysterische, lendenlahme Gesindel schleicht und trippelt um sein Grab und flüstert sich diplomatisch Geheimnisse in das Ohr und fürchtet gar nicht, daß der Schläfer erwachen, lauschen und aus dem Grabe sich heben könne.«

      »So ist es, Kollaborator,« sagte der Leutnant. »Ich wundere mich oft genug über Gottes Langmut. Was hilft es auch, daß er von Zeit zu Zeit seine großen Stürme schickt, die Bäume in seinem Völkergarten zu rütteln und das Gewürm und Ungeziefer herabzuschütteln? Kaum hat sich der Sturm gesänftigt, so steigt all’ das verderbliche, nagende Getier wieder am Stamm herauf, und das alte Wesen beginnt von neuem. Ich begreif’ es nicht, Kollaborator und Kriegskamerad! Ich will auch nur meine Geschichte zu Ende bringen, ohne mir darüber den Kopf zu zerbrechen; ich ärgere mich doch zu sehr. – Als man uns in Amerika nicht mehr brauchen konnte, schickte man uns heim. Da bin ich in das hannoversche Heer eingetreten, hab’ anfangs harte Friedensjahre durchgemacht als Unteroffizier, bis die Revolution das große Wasser gekreuzt hatte und in Frankreich angekommen war. Da zogen wir unter dem Feldmarschall von Freitag nach Holland; da war ich bei Famars, vor Valenciennes und bei Hondschoten und bei allen Victorien und Niederlagen bis zur Konvention von Sulingen, deren Urhebern man aufs Grab speien wird, solange noch ein Tropfen niedersächsisch Blut dem Volke von Norddeutschland durch die Adern rinnt. Da schickte der erste Konsul den General Mortier mit einem Haufen Lumpengesindel und dem Billet: ›Ich befehle Ihnen, das Land Hannover zu erobern.‹ Die adelige Regierung des Landes aber befahl dem Feldmarschall von Wallmoden-Gimborn ›alles zu vermeiden, was Ombrage und Aufsehen erregen könne‹ und ›den Truppen nicht zu gestatten zu feuern und nur im dringendsten Notfall das Bayonett mit Moderation zu gebrauchen.‹ Fluch, dreidoppelten Fluch den schamlosen Gesellen, die diese Worte dem deutschen Volke als Brandmal aufgedrückt haben! …. Da ward das tapferste Heer aufgelöst, und der Landschaftsdirektor von Lenthe und der Generalmajor von Wangenheim mußten vor unsrer Fronte erscheinen und ablesen: wenn die Truppen sich nicht verteidigten, sondern die Waffen niederlegten, Pferde und Kanonen abgäben, so wolle die Landschaft für ihren Unterhalt sorgen, wenn sie sich aber verteidigten und dadurch Unglück über das Land brächten oder unterlägen, so würden sie auch nichts vom Lande zu erwarten haben! Da zertrümmerten die Gemeinen ihre Gewehre, da zerbrachen die Offiziere ihre Degen. Mit Urlaubspässen auf ein Jahr ging ein jeder in seine Heimat zurück, und ich nach Sachsenhagen, wo ich von dem Martin, der Hedwig und der Kinderschaar in Liebe empfangen ward. Aber ich hielt’s nicht lange in der Stille aus; im Anfange des Monats August war ich bereits auf dem Wege nach England, schlich mich mit großer Gefahr des Lebens und der Freiheit durch die französischen Gensdarmen und Küstenwächter und stieß zu der Legion, wo ich fast die ganze Armee, die bei Sulingen verraten und verkauft worden war, wieder beisammen antraf. So sind wir also, der hochadeligen Niederträchtigkeit zum Trotz, doch noch dazu gekommen, Feuer zu geben gegen den Feind, und das Bayonett haben wir gebraucht, aber nicht mit Moderation; – manche französische Mutter hat darum weinen müssen! – Nun ist alles vorüber; alles dient aus, der Erdball und Mensch und Vieh und Baum und Stein; Sonnen, Monde und Sterne dienen aus. Die Legion hat ihre Pflicht gethan, und weil es fern vom Vaterlande geschah, so soll das Vaterland darum doch nicht ihrer vergessen!«

      »Das soll es nicht und wird es nicht!« rief ich. »Hoch lebe in alle Ewigkeit die deutsche Legion!«

      Ein Schatten verdunkelte die Thür, das Ännchen, der Findling vom Schlachtfelde bei Talavera de la Reyna, stand darin und hielt einen Blumenstrauß in der Hand, welchen sie dem Leutnant überreichte, indem sie ihre Stirn zu seinem Munde niederbeugte. Dann wurde ein zerbrochenes Rad herangerollt, und der Besitzer kam in seinen niedergetretenen Pantoffeln, schwitzend, hinterher. Unsere Plauderstunde war zu Ende.

      Nun habe ich Dir wieder Stoff genug gegeben, mir eine lange Rede in kurzen Worten nach Deiner Gewohnheit zu halten. Thue also und thue es bald.

      Dein

       Fritz.

      Siebenter Brief.

       Inhaltsverzeichnis

       Sachsenhagen, am 10. August 1816

      Ueber meinen Schulmeistersorgen schlagen die goldenen Kornwogen zusammen; – im Grase liege ich ausgestreckt, im Schatten, welchen der Wald über mich wirft. Vor mir schwanken und neigen sich die segenschweren Ähren; ein Papierdrache schwebt in der blauen Luft; – – – Ferien! Welche Wonne schöpft das im Schulstaub begrabene Herz aus diesem Wort! Ihr anderen glücklichen Leute habt doch gar keinen Begriff davon.

      Im kühlen Schatten liegend, will ich Dir, Sever, das Bild einer Schulstunde in den Hundstagen mit Bleistift auf das Papier kritzeln, und da man das Ännchen heute morgen in die Einsamkeit fortgeführt hat, so darf ich Dir auch von ihr reden; denn notwendig gehört des Mädchens Gestalt mit zu meinem Bilde. –

      Vor seiner Quinta steht der Kollaborator, die Grammatik in der Hand, und sieht die fünfzig Bubengesichter vor sich wie durch einen Nebel. Schläfrig schleichen die Minuten voll schläfriger Fragen und noch schläfrigerer Antworten dahin. Die Jungen haben selbst die Lust zu dummen Streichen verloren, höchstens zerkauen sie einen Apfel hinter einem Atlas oder unter dem Tische, – sie schwitzen, schwitzen fürchterlich, stützen gegen allen Anstand die Köpfe auf beide Fäuste, und der Herr Kollaborator drückt darob ein Auge zu und möchte gern alle beide zumachen; an Rockausziehen, an sein Sofa denkt der Herr Kollaborator – o, o, o!

      Was hilft’s, daß Thür und Fenster weit geöffnet sind? Kein kühlendes Lüftchen wagt sich in solch eine volle Schulstube, nachmittags von drei bis vier Uhr.

      Welch ein Atemholen! Einen Schwindsüchtigen soll der Aufenthalt in solch einer Atmosphäre gesund machen können; wenn er aber einen Gesunden nicht schwindsüchtig macht, so ist das für eins von den unbegreiflichen Wundern zu achten, von denen es in der Welt wimmelt.

      Aber mit allen meinen Schulstubenstimmungen hängt die Aussicht auf die vor dem Fenster, neben meinem Pult und meinem Bakel liegende Welt auf das engste zusammen; so laß Dir nun beschreiben, Sever, was ich erblicke, wenn ich von meiner Grammatik einen Blick rechts über die Schulter werfe.

      Unter allen Schulzimmern unseres alten Gymnasiums, welche natürlich im untern Gestock liegen, zieht sich ein kleines, schmales, verwildertes Gärtchen hin, voll Himbeergebüsche, Papierfetzen und dem Allerlei, was die Jungen sonst aus dem Fenster werfen. Die Befriedigung dieses Gärtchens bildet die verwitterte Mauerbrüstung der Stadtmauer, welche letztere von dem Schulgärtchen wohl dreißig Fuß tief sich herabsenkt in ein grünes Wiesenthal, durch welches ein stiller Bach langsam zwischen dem fetten hohen Grase, den Wasserdolden, Weiden und Vergißmeinnicht dahin schleicht. Ein Fußsteig führt an dem Wässerlein entlang.

      Jenseits des Baches steigt das Land allmählich wieder empor in sanftgeschwungenen, glänzend grünen Hügeln, auf deren Gipfeln die Kornfelder der Stadtmarkung von Sachsenhagen beginnen, um bis zu dem Walde das wogende goldene Meer zu bilden, von welchem ich zu Anfang dieses Briefes gesprochen habe. Über die Grammatik und den Cornelius Nepos fort umfaßt ein Blick des Kollaborators Gärtchen, Bach, Wiese, Ackerfeld, Wald und die ganze blaue Gebirgskette, die hinter dem Walde den Horizont begrenzt. Auf der anderen entgegengesetzten Seite der Stadt treten die Berge freilich bis dicht an das Thor heran.

      Geht man auf dem Fußsteige dem Laufe des Wiesenwassers entgegen, so umkreist man ein gut Drittel des Städtleins bis zum Osterthor, von wo an die Stadtmauer abgetragen ist und das Wiesenthal sanft ansteigend das Plateau erreicht, auf welchem Sachsenhagen liegt. Nun führt aber, ehe man zum Osterthor kommt, ein Seitenweg vom Fußpfade ab und leitet durch allerlei Gebüsch zu einer kleinen Ausfallspforte im verwitternden Gemäuer. Das ist die »Totenpforte«, welche ihren unheimlichen Namen davon ableitet, daß in einem langvergangenen Jahrhundert vier Fünftel der Bevölkerung von Sachsenhagen durch sie hindurch getragen wurden von dem letzten Fünftel, um in einer großen Grube, die man heute noch zeigt, ihre letzte Ruhestätte zu finden. Die Pest, der »schwarze Tod« hatte wieder einmal aufgeräumt in der Welt.

      Man tritt ein in den kaltfeuchten, dunkeln, gewölbten Gang