Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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      Inquisit verstand die Frage nicht im mindesten; starr und grollend blickte er den Rat an.

      »Ich frage, ob Ihr noch Geschwister habt, Wolf?«

      »Nein. Fritz ist ausgerissen, vielleicht nach Amerika.‘s war unser Ältester. Die andern vier sind tot.«

      »Hm, hm – sechs. Vier tot. Schon lange?«

      »Ja. Wir waren unser sechse; drei Jungen und drei Mädchen: Fritz und ich, Franz, Riekchen, Lieschen und Linchen. Wir schliefen alle in einer großen Bettstatt voll Eichenlaub, trocken und warm. Die Mädchen hatten auch noch eine Bettdecke, wir Jungen hatten aber nichts weiter als des Vaters Soldatenmantel. Die Mutter war tot, der Vater meistens im Wald, um auf die Wilddiebe zu passen. Deren hatte er einen erschossen, und so hatte er ein bös Leben mit den andern; sie schossen oft genug wieder auf ihn, haben ihn aber nicht getroffen. Fritz war der Älteste von uns; wir mußten ganz allein für uns sorgen; wir hatten die Hunde, einen zahmen Fuchs, einen Kolkraben und noch manche andere Tiere. Linchen war die Kleinste und die Klügste von uns; die war eigentlich unsere Mutter, obgleich sie noch ganz winzig war. Wir waren wie die jungen Füchse, hatten alle auch rote Haare, die kamen von meiner Mutter; meine sind jetzt dunkler geworden. Linchen hatt’ ich am liebsten von meinen Brüdern und Schwestern; es hatte Augen so klar und tief wie das grundlose Wasser, das unter dem Eulenkopf steht. Einmal, zur Jagdzeit, saß es ganz still und hielt den ganzen Tag über den Kopf mit den Händen, und als es in der Nacht unter seiner alten Decke an meiner Seite lag, da fühlte ich, daß seine Hände ganz heiß waren, und doch zitterte es am ganzen Körper vor Frost und wühlte sich immer tiefer in das Laub. Am andern Tage sprach es ganz tolle Worte und schrie: der Berggeist wolle es holen und in die Erde hinabziehen. Dann packte die Krankheit den Fritz und so eins nach dem andern, zuletzt mich. Die Hunde, die sonst wohl der Wärme wegen zu uns in unsere Hürde krochen, wollten nun nicht mehr mit uns darin bleiben, sie sprangen heraus und krochen im Winkel zusammen. Anfangs hörte ich noch, wie der Vater ärgerlich über uns war, und ich fühlte, wie er mehr Laub auf uns warf und alle seine Röcke und den Mantel unserer toten Mutter und alle unsere Kleider. Er hatte niemand, der ihm half in dieser großen Not; denn er war nicht sehr beliebt bei den Menschen in der Gegend, weil er so wild und hart gegen die Wilddiebe und die Holzfrevler war. Sie nannten uns nur die roten Wölfe und pfiffen, wenn wir uns zeigten im Dorfe. Manchmal kam wohl eine alte Frau, welche Reisig gelesen hatte, und gab Rat; aber das geschah nur nach Bequemlichkeit und selten. So waren wir jetzt im Eulenbruch so verlassen wie die jungen Füchse, denen die Mutter weggeschossen ist. Wie das Linchen und die ändern kam ich in einen Zustand, in welchem ich nichts mehr von mir wußte; aber einmal wachte ich auf und sah wie im Traum viele Herren mit Gewehren und Jagdtaschen vor mir. Sie starrten uns ganz merkwürdig in unserm Bette an, und einer hielt ein Paar Gläser vor die Augen. Sie flüsterten alle und schüttelten die Köpfe, und unser Vater stand auch dabei, hielt die Mütze in den Händen und drehte sie hin und her. Die Herren sprachen dann alle auf ihn ein; er sagte auch etwas, zuckte die Achseln und sah sehr wild und verzweifelt aus. Einige der Herren hatte ich wohl schon gesehen. Sie kamen öfters zur Jagd nach dem Eulenbruch. Bald wurde es aber wieder so dunkel vor meinen Augen wie zuvor, und als ich endlich von neuem aufwachte, da lag ich zwar noch in der Bettstatt, hatte auch ein ordentlich Kopfkissen, und eine alte Frau saß da mit der Brille auf der Nase und strickte und gab mir einen Löffel bitterer Medizin; aber meine Geschwister bis auf den Fritz waren nicht mehr da. Alle, alle – das Riekchen, das Lieschen, das Linchen und Franz – alle waren fort, waren tot. Wir hatten alle mitsammen die Röteln gehabt, und bis auf Fritz und mich waren die andern daran gestorben und verkommen. Zu Poppenhagen waren sie begraben, während ich bewußtlos lag; – eine ganze Reihe von kleinen Gräbern. Es war zu spät gewesen, als die Herren von der Jagd uns in unserm Laub im Fieber sahen, dem Vater Geld gaben und den Pastor Tanne aus Poppenhagen zu ihm schickten, daß er ein Einsehen tue und sich unserer mit dem Doktor Rust und der Frau Wurm aus dem Feldhüterhaus annähme. Es war ein guter Mann, der Pastor Tanne; er hat mich, nachdem mein Bruder und ich wieder gesund geworden waren, mit sich genommen nach Poppenhagen und hat mich, da er selbst keine Kinder hatte, erzogen wie seinen eigenen Sohn. Er wollte auch meinen Bruder mit sich nehmen, aber der konnte von dem wilden Leben im Forste nicht lassen. Doch in die Schule mußte er jetzt auch kommen. Jetzt ist er längst in die weite Welt gegangen; ich habe nie wieder von ihm gehört.«

      Mit vielen Hm’s und Ha’s hatte der Polizeirat dieser Er-zählung gehorcht. Mit seltsamem Ausdruck leuchteten die Augen des alten Schreibers über die Haufen von Akten und Registern auf seinem Pulte.

      Der Hauptmann Faber strich den vollen Bart und murmelte:

      »‘s ist wenigstens der Bericht eines klaren Kopfes. Armer Teufel!« Er nickte dem Inkulpaten ermunternd zu, und der Schreiber räusperte sich ebenfalls zur Ermunterung Robert Wolfs.

      Es trat in dem Bureau dreizehn eine Stille von einigen Augenblicken ein, in welchen man deutlich das Ticken der großen Uhr draußen in der Halle vernahm. Schon manche unbekannte Tragödie und Komödie war über den schmutziggrauen Fußboden des Bureaus Nummer dreizehn weggeschritten; eine rührendere Elegie hatte aber die langnäsige Büste des verdienstvollen früheren Polizeipräsidenten, welche zwischen den beiden Fenstern von einer Konsole herabblickte, selten vernommen. Der Mann schien sich jedoch durchaus nichts daraus zu machen. Er behielt jedenfalls die Nase oben. Dagegen hatte eine andere Büste auf einer ändern Konsole einen recht wehmütigen Ausdruck: sei es, daß der Künstler ihr denselben gab, sei es, daß die dämmerige Beleuchtung schuld daran war. Seine Majestät der König schien es auch in Gips in Nummer dreizehn im Zentralpolizeihause sehr ungemütlich zu finden.

      Seiner Stellung gemäß unterbrach der Rat Tröster zuerst wieder das Schweigen und fragte, das glattrasierte Kinn streichelnd:

      »Also der Pastor Tanne zu Poppenhagen hat Euch erzogen? Was habt Ihr gelernt, Wolf? Was seid Ihr eigentlich?«

      Robert Wolf zuckte die Achseln und sagte:

      »Als mein Pflegevater starb, mußte ich zurück in den Wald zu meinem eigentlichen Vater; denn damals war mein Bruder schon in die weite Welt gegangen, und mein Vater war immer krüppelhafter geworden; er hatte die Gicht in den Knochen vom Liegen im Walde und hatte meine Hilfe nötig. Ich kann schießen, die Geige spielen, ein wenig lateinische Grammatik. Ich gewöhnte mich recht gut wieder an den Wald; es kann einem schon drin gefallen, Winter und Sommer, und es gefiel mir die letzten zwei Jahre durch; wäre auch gern Forstwart geworden, – wenn – – wenn nicht –»

      »Nun, heraus damit! Wenn nicht?«

      Robert Wolf wandte sich ab, biß die Zähne aufeinander und antwortete nicht.

      »Ich frage, weshalb Ihr nicht in Eurer Stellung geblieben seid? Ich erwarte Antwort, junger Mann!« sagte der Polizeirat, so viel amtsmäßige Rauhigkeit als möglich in Ton und Gestus legend.

      Der Hauptmann auf der Armensünderbank stand auf, klopfte dem Knaben aus dem Walde auf die Schulter und sagte:

      »Sperren Sie sich nicht, Robert; geben Sie dem Herrn offen Nachricht von Ihrem Leben. Es sind Freunde hier.«

      Der Schreiber Friedrich Fiebiger aus Poppenhagen nickte über sein Pult weg höchst energisch. Es war gleich einem elektrischen Schlag durch diese Schreiberseele gegangen, als vor einigen Tagen die Namen Poppenhagen, Eulenbruch, Winzelwald zum erstenmal auf dem Zentralpolizeihause genannt wurden, in dem Vorgehen gegen Robert Wolf wegen Hausfriedensbruch. Hätte der Rat Tröster sich plötzlich auf den Kopf gestellt und seinen Untergebenen aufgefordert, dasselbe zu tun, so würde das nicht solchen überwältigenden Eindruck auf das Gemüt des letztern gemacht haben. Wäre auf dem langen unheimlichen Korridor plötzlich der Klang eines Waldhorns erschollen, so hätte dem alten Tintenmenschen das Herz sich nicht mehr darob geregt. Mit diesen Namen drang Sonnenschein, Waldluft, Lust der Jugend und des Lebens in das Bureau Nummer dreizehn. Durch die Papiere rauschte es wie durch die Zweige der Buchen und Tannen, der Aktenstaub verwandelte sich in das Gestäube des Waldbachs, wie er nahe dem Dorfe Poppenhagen über die moosigen Steine stürzt und eine Mühle treibt, welche der kleine Fritz Fiebiger gebaut hatte. Besagte Mühle wurde aber noch im achtzehnten Jahrhundert errichtet; ‘s ist lange her, und der Polizeischreiber muß sich zusammenraffen, um keine Böcke zu schießen in dem Protokoll, welches ihm