flimmert’s; seine Schriftzüge sind bei weitem nicht so fest und sicher wie sonst; – sein Vorgesetzter fragt ihn, was ihm sei, ob er Kopfweh habe. Friedrich Fiebiger schüttelt nur den grauen Kopf und murmelt etwas Unverständliches.
Robert Wolf wendete nun die zornigen, tränenvollen Augen dem Polizeirat zu; aber noch immer vermochte er nicht, ein Wort hervorzubringen. Man sah, wie es in ihm stürmte und wie er sich zwingen mußte, daß kein leidenschaftlicher Ausbruch erfolge.
Noch einen forschenden Blick warf der Rat auf den Inkulpaten; dann wandte er sich gegen den Schreiber.
»Fiebiger, nehmen Sie doch einmal das Register D zur Hand und geben Sie uns die Notizen über den Namen Dornbluth – Eva Dornbluth, Fräulein Eva Dornbluth. Wir müssen den Knaben überzeugen, daß die Sicherheitsbehörde offene Augen und scharfe Ohren hat. Lesen Sie, Fiebiger!«
Der Schreiber schlug einen umfangreichen Folianten auf, blätterte einige Augenblicke darin und las dann mit einer Stimme, die von Natur recht scharf und schneidend war, in diesem Moment aber etwas gemildert klang:
»Eva Sophie Dornbluth, Tochter des weiland Kantors und Opfermanns Otto Friedrich Karl Dornbluth zu Poppenhagen. Alter zwanzig Jahre. Ankunft in hiesiger Stadt am vierzehnten Mai 184–. Rubrikatin hielt sich anfangs im Hause der Frau Baronin Viktorine von Poppen, Kronenstraße Nummer fünfzig, auf, trat dann durch Verwendung des Barons Leon von Poppen am hiesigen Königlichen Theater ein und wohnt jetzt Lilienstraße Nummer zwölf. Bemerkungen –”
Der Schreiber las mit leiserer Stimme noch einige Noten, welche die hohe Polizei über das Dasein Eva Dornbluths gemacht hatte, und beobachtete dabei über den Rand des Folianten scharf den Jüngling aus dem Winzelwalde, und nicht ohne Grund; denn ein merkwürdiges Schauspiel bot Robert Wolf dem Menschenkenner dar während dieser Vorlesung. Mit unverkennbarem Entsetzen starrte er den Schreiber und sein giftgefülltes Buch an, krampfhaft zitterten seine Lippen, er ballte die Fäuste, ward totenbleich und bedeckte zuletzt das Gesicht mit beiden Händen und brach in ein bitterliches Weinen aus.
Der Hauptmann, welcher sich wieder auf dem Sünderbänkchen niedergelassen hatte, trommelte mit dem Fuß einen Marsch; der Polizeirat gab seinem Schreiber einen Wink, daß er seine Vorlesung einstelle; dann wandte er sich zu dem Inquisiten:
»Seht Ihr, lieber junger Freund, die Polizei weiß alles! Soll ich dir noch mehr vortragen lassen über die Jungfer Dornbluth, oder willst du uns jetzt mitteilen, was dich in die Wohnung des Mädchens führte? Du wirst den Ruf der Dame durch eine klare Darlegung der Tatsachen nicht verschlechtern, glaube mir das, Robert Wolf.”
Die hohe Polizei war fest von der Wahrheit ihrer Notizen überzeugt, und doch stand mehr als eine Lüge in dem Folianten D über Eva Dornbluth. Der arme gepeinigte Knabe aber schluchzte noch eine Zeitlang fort und rief dann wild und in Verzweiflung:
»Ich habe sie lieb gehabt – mehr als mein Leben hab ich sie lieb gehabt, und ich muß sterben darum!”
»Na, na! Nicht so rasch!” brummte der Polizeirat, aber der Hauptmann sowie der Schreiber fanden, daß der junge Mensch in diesem Augenblick von überraschender Schönheit in seinem dummen, kindischen Schmerz und Zorn war. Mit immer höher gesteigerter Teilnahme beobachtete vorzüglich Friedrich Fiebiger den armen Jungen von seinem hohen Dreibein aus. Der Schreiber hatte die magern, in schäbiges Schwarz gekleideten Beine so hoch als möglich zur Brust hinaufgezogen, die schäbig schwarzen Frackzipfel hingen so tief als möglich zur Erde hernieder; von überraschender Schönheit war er sicher nicht, wohl aber glich er in überraschender Weise einem alten erfahrenen Raben, der sich auf einem Dachfirst niedergelassen hat, einem Raben mit edeln Gefühlen, einem Raben mit Wehmut in den humoristisch zwinkernden Augen, einem melancholisch-satirischen Mitgliede des höchst achtbaren, vortrefflichen und deshalb auch nicht wenig verleumdeten Geschlechts der »krähenartigen Vögel”.
Die aufgeregten Affekte Robert “Wolfs machten sich jetzt in hastig übereinanderstürzenden Worten Luft.
»Als ich bei dem Pastor Tanne gewesen bin –- nachdem mein Bruder in die weite Welt gegangen war – sind Eva und ich immer zusammen gewesen. Meinem Bruder hatte sie es auch angetan, aber mir gewißlich noch mehr. O Gott, wer hätte gedacht, daß alles so kommen würde! Sie war so klug, viel klüger als ich. Viel leichter als ich konnte sie das Latein begreifen – sie hat es mit mir gelernt; sie wollte alles lernen, alles wissen. Alle Abende im Sommer saßen wir unter der Esche an der Hecke im Kantorgarten; und im Gefängnis, in welches Sie mich haben sperren lassen, mußte ich immerdar an den Sonnenschein denken, der war, als sie in ihrem weißen Kleide zur Einsegnung ging. O, wie hat die Schlechte mit mir gespielt – die Sonne ist auf ewig untergegangen! Ich will nach Frankreich, nach Algier zur Fremdenlegion. Nach Amerika will ich, wie mein Bruder. O, der hätte nicht gelitten, daß sie so mit ihm spielte. Der hat wohl recht gehabt, wenn er sagte, kein Mensch tauge was, und es schade gar nichts, wenn man ihnen so viel Böses schüfe, als man Macht hätte.«
»Na, na, wieder viel zu rasch!« brummte der Polizeirat. »Junger Mann, hier jedenfalls ist nicht der Ort, solche unmoralischen Grundsätze auszusprechen.«
Der Hauptmann Faber lächelte ein wenig; der Schreiber schnitt eine Feder und sich in den Finger. Robert Wolf achtete nicht im geringsten auf die Unterbrechung des Rats, sondern fuhr mit doppelter Hast fort:
»Aber mein Bruder Fritz nahm doch Eva Dornbluth aus und rechnete sie nicht unter die Schlechten; o, er war ein wilder Narr, hätte noch ein paar Jahre daheim bleiben sollen, bis die vornehme Dame auf das Gut kam. Keinem Menschen soll man Gnade geben, keinem. Der Pastor Tanne wird sich auch wohl meiner nur angenommen haben, weil er Langeweile hatte unter den Bauern. Er starb, als ich sechzehn Jahre alt war, und ich habe an seinem Sarge geweint, wie ich an dem meines Vaters nicht weinen konnte. Er hinterließ nichts als seine Bücher, ein paar Tische und Stühle und eine Kuh. Das nahm die Haushälterin; ich mußte in den Wald zurück. Da nahm ich Abschied von Eva unter der Esche. Sie sagte, wir wollten immer wie Bruder und Schwester sein. Sie sagte, ich sollte keinen dummen Jungen aus mir machen, ihr Los sei in alle Ewigkeit bestimmt. Was mag ich ihr in der Stunde gesagt haben? Ich weiß es nicht. O, sie wird höhnisch genug im Innersten darüber gelacht haben. Ich möchte umkommen auf der Stelle; aber sie müßte dann auch tot hier vor meinen Füßen liegen. Meinem Vater hat’s der Branntwein angetan, der hat ihm das Leben genommen. Als es zum letzten mit ihm ging und er in derselben Bettstatt lag, in welcher meine Brüder und Schwestern gestorben sind, kam ein Junge, welcher Beeren las im Wald, und brachte mir Nachricht, wenn ich Eva noch einmal sehen wolle, so möge ich eilen; sie gehe fort mit der Frau von Poppen, welcher der Poppenhof bei Poppenhagen gehört. Da schoß es mir ganz eiskalt durch die Seele und dann wieder wie Feuer; aber wie konnte ich fort von meinem Vater? Der lag und zitterte im Frost und schrie: die Wilddiebe hätten ihn zu Boden. Mit allerlei Gespenstern rang er durch Tag und Nacht und schrie nach meinen Brüdern und Schwestern, aber vorzüglich nach dem Fritz, der sein Herzensliebling gewesen war. Fast ein Jahr blieb er in diesem Zustand; zuletzt schlug er sich immer herum mit großen Scharen von kleinen Tieren, Mäusen oder Spinnen oder Fliegen; das ließ ihm gar keine Ruhe.«
»Was man so Delirium tremens nennt!« murmelte der Hauptmann.
»Ein ganzes, ganzes Jahr dauerte das«, fuhr Robert fort; »ein ganzes Jahr war Eva Dornbluth schon weg, und ich hörte nichts von ihr in der Verlassenheit auf dem Eulenbruch; sie war auch, kurz vor ihrer Abreise mit der gnädigen Frau, eine Waise geworden und mochte wohl ein hungerig Leben gehabt haben; das konnte sie nicht ertragen. So wartete sie nicht auf mich. Nun starb mein Vater, und ich brachte ihn in seinem Sarge nach Poppenhagen. Wie im Traum war ich; was mit mir werden sollte, wußte ich nicht; von Eva hörte ich nichts im Dorfe, sie hatte keine Nachricht von sich gegeben. Verstört lief ich umher oder lag im Wald, und endlich trieb’s mich, daß ich meine Kleider in meines Vaters Jagdranzen packte, meines Vaters Büchse über die Schulter hing, die Hunde verkaufte und verschenkte und fortging vom Eulenbruch, aus dem Winzelwalde. Zwölf Taler, welche mir der Pastor Tanne gegeben, hatte ich ebenfalls noch, damit kam ich hierher, doch mußte ich unterwegs noch die Büchse verkaufen. Es hat mich aber der Eva nachgetrieben; aber wie es mir unterwegs ergangen ist, davon weiß ich nichts zu sagen. Mein Vater in seinen letzten Tagen war nicht verwirrter in Kopf, Händen und Füßen, als wie ich es jetzt bin. Die Leute haben mir geholfen