Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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so bin ich ein wenig Psycholog und glaube, meinen Weg klar vor mir zu sehen. Ein Professor der Seelenkunde mag über sein Fach sehr gut dozieren können; aber ein alter Polizeischreiber wird auch immer wissen, was er dem Individuum gegenüber zu tun und zu lassen hat.«

      »Das mag alles sein, bester Fiebiger; aber – «

      »Ach, Herr Rat, wir tappen alle in der Finsternis umher und wissen selten, was zu unserm Besten ausschlagen wird. Ich habe nun einmal mein Herz an diesen Knaben und diesen Wunsch gehängt. Ich bitte gehorsamst, schenken Sie mir diesen Schlingel, diesen Robert Wolf aus dem Winzelwalde. Die Welt weiß in diesem Augenblick doch nichts damit anzufangen, sie würde ihn ausmustern und einen Lumpen mehr daraus machen; – ich aber will versuchen zu bewirken, daß sein Name nicht noch einmal in diesen Büchern, Folio W, erscheine.«

      »Ich werde Ihrem Plan und Vorhaben gewiß auf keine Weise entgegen sein, Fiebiger. Nehmen Sie den Burschen und machen Sie daraus, was Sie wollen. Sie sind mein treuer, guter Kollege und Freund. Hier haben Sie meine Hand, wir wollen Freunde bleiben, Sie alter Humorist.«

      »Geben Sie mir auch Ihre Hand, Herr Fiebiger!« rief Konrad von Faber. »Wenn ich Ihnen oder Ihrem Schützling einmal auf irgendeine Art nützlich sein kann, wird mir das zu großer Genugtuung gereichen.«

      Der Schreiber lächelte, indem er dem Hauptmann die Hand entgegenstreckte:

      »Sie kommen weit herum in der Welt, Herr Hauptmann; wer weiß, wo und wie Sie meinem jungen Wolf noch einmal begegnen. Wenn Sie dem Glück begegnen, so schicken Sie es mir nur zu, Musikantengasse Nummer zwölf, oder hierher, Zentralpolizeihaus, Bureau Nummer dreizehn. Ich darf also die Entlassung aus dem Arrest für Robert Wolf ausfertigen, Herr Rat?«

      »Tun Sie das, ich will sogleich unterschreiben.«

      Beides geschah, und die Klingel erschallte wieder; zum dritten und letzten Male trat Robert Wolf in das Bureau Nummer dreizehn.

      »Herr Wolf, Sie sind frei«, sagte der Polizeirat. »Die Banknote wird auf Ihren Wunsch dem Herrn von Poppen zurückgesandt. Ihre Freiheit erhalten Sie nicht auf Fürbitte des Fräulein Eva Dornbluth, sondern weil die Sicherheitsbehörde nach Kenntnisnahme der Sachlage, und da keine Anklage weiter erhoben ist, es so beschloß. Hier ist das Attest; was ferner noch hinzuzufügen ist, ist, daß –«

      Der Redner unterbrach sich, denn er sah klar, daß der Knabe nicht fähig war, seine Worte zu begreifen. Einen Augenblick starrte Robert wie ein Irrer das Papier an, welches der Rat in seine Hände gelegt hatte; dann stieß er einen rauhen Schrei aus, und ehe ihm jemand hindernd in den Weg treten konnte, stürzte er mit einem Sprung aus der Tür und war verschwunden.

      »Ihm nach, Greiffenberger!« rief der Rat, völlig außer Fassung gebracht. »Schnell ihm nach, bringen Sie ihn zurück –- diesen Tollkopf!«

      »Halt, halt!« rief der Schreiber ängstlich, »nicht Sie, Greiffenberger! Herr Rat, ich bitte – der Junge stürzt sich von der ersten Brücke in den Fluß, wenn wir ihn auf diese Art wiederbekommen wollen.«

      »Aber was soll geschehen? Wir dürfen dieses unbändige Waldtier doch nicht aus den Augen verlieren.«

      »Wer ist noch im Vorzimmer, Greiffenberger?« fragte der Schreiber.

      »Na, Sie wissen – der Schauspieler Schminkert – Herr Julius Schminkert – von wegen einer Auspfändung. Ich habe ihm schon erklärt, das gehöre nicht vor diese Stelle; aber er bleibt ein Narr und will sich nicht zurechtweisen lassen.«

      »Schon gut. War der mit dem jungen Menschen zusammen draußen?«

      »Ja, die ganze Zeit über. Es hätte beinahe eine Katzbalgerei zwischen ihnen gegeben.«

      Der Schreiber wandte sich an seinen Vorgesetzten:

      »Lassen Sie uns den Hanswurst hinter dem Flüchtling herschicken. Ich stehe dafür, er faßt ihn. Schminkert wohnt mit mir in einem Hause; ich kenne ihn. Darf ich mit ihm sprechen?«

      »Sie haben volle Freiheit. Ich gebe diese Sache jetzt ganz in Ihre Hand. Rufen Sie den Herrn, Greiffenberger.«

      Der Wachtmeister ging, und Julius Schminkert erschien mit seiner graziösesten Verbeugung:

      »Meine Herren, ich habe die Ehre – «

      »Keine Phrasen, Blumen und Verse, Julius!« rief der Schreiber. »Sie haben den Knaben gesehen, welcher soeben aus dem Zimmer stürzte?«

      »Haben Sie ihm hier keinen Tritt auf die hintern Weichteile versetzt? Nicht? Das wundert mich! Was beflügelt aber auf solche Weise seine Füße?«

      »Dummes Zeug. Eilen Sie dem jungen Menschen nach, Julius; und sollten Sie die ganze Stadt nach ihm durchlaufen, Sie müssen ihn uns schaffen. Ich komme Ihnen nach; aber Ihre Beine sind jünger. Zehn Taler – leihe – ich Ihnen, wenn Sie den Jungen finden und bewerkstelligen, daß ich meine Hand auf ihn legen kann.«

      »Aber –«

      »Kein Aber! Eilen Sie; jeder Augenblick ist kostbar. Denken Sie an die zehn Taler.«

      »Zehn Taler? – Greis, dein Wort klingt voll und schwer; –- Ich flieg und schaff den holden Flüchtling her.«

      Dem Polizeischreiber eine Kußhand zuwerfend, hüpfte der blaugekleidete Julius dem entflohenen Knaben aus dem Walde nach.

      »Da läuft auch der Narr hinter dem Tollen her«, lachte der Hauptmann. »Sie haben eine seltsame Bekanntschaft, Fiebiger.«

      »Es machte sich so, Herr Hauptmann. Darf ich für jetzt um Urlaub bitten, Herr Rat?«

      Der Polizeirat half seinem Untergebenen eigenhändig beim eiligen Anziehen des Überrocks. Der Hauptmann reichte ihm den Regenschirm. Greiffenberger stand erstarrt und erklärte im Innersten seiner Seele den alten Fiebiger für verrückt – rein verrückt.

      Der Rat Tröster blieb allein mit dem Hauptmann.

      »Was denken Sie darüber, Faber?«

      »Ich hab’s schon gesagt, by Gad, die Polizeistube hat ihre Wunder wie die weite Welt. Ich muß ins Freie, Eccellenza. Wir treffen uns heute abend doch bei Wienand? Ich muß meinen Amerikaner daselbst vorstellen. – Komme mir noch einer und behaupte, das alte Europa sei so platt und glatt geworden, daß es nicht mehr der Mühe lohne, sich daselbst zu bewegen.«

      Auch der Hauptmann ging. Die Lampen wurden angezündet in dem Zentralpolizeihause; der Rat Tröster vertiefte sich in eine dicke Akte, ein Intrigenstück voll tragischen Inhalts, wenn auch nicht in Jamben geschrieben. Als er dann eine Stunde später den Kopf wieder in die Höhe richtete, sagte er, ohne irgendwelchen Bezug auf seine Arbeit:

      »Närrische alte Schreiberseele. – Soll mich wundern, was der aus dem Jungen machen wird!«

      Drittes Kapitel

      Julius Schminken macht sich nützlich; Robert Wolf macht die Bekanntschaft eines Wagenrades und einer jungen Dame

       Inhaltsverzeichnis

      Wenn ein edles freies Tier Unglück gehabt hat und in die Hand des Menschen gefallen ist, wenn es dann, an dem Kasten, in welchem man es den Augen der gaffenden Menschen vorführt, eine schwache Stelle, eine lockere Eisenstange bemerkend, aus seinem qual-und schmachvollen Gefängnis hervorbricht und in eine unbekannte Welt von Mauern und Volksgewühl statt in die stille Wüste und Wildnis seiner Heimat stürzt, so mag es ungefähr ein gleiches Bewußtsein seiner Lage haben, wie Robert Wolf in dem Augenblicke, wo er aus dem Polizeihause auf die Gasse sprang, von der seinigen hatte.

      Besinnung, Überlegung, alles war untergegangen in dem einen tierischen Trieb, um sich zu schlagen, körperlich sich loszureißen, körperliche Hindernisse zu Boden zu werfen. Es war die höchste Zeit, daß die so arg gepeinigte Natur des Knaben sich nach irgendeiner Seite hin Luft machte, wie flüchtig das auch sein mochte. In solcher Seelenstimmung fragt man nicht, was aus einem werde, wenn man die Hand erhebt zum tödlichen Stoß