Wolf herniederbeugte.
Nach einer kurzen Untersuchung tat er den Ausspruch: »Subjekt möge versuchen, sich auf den Status quo, nämlich seine beiden Beine, zu stellen.«
Unterstützt von mehreren hilfreichen Händen erhob sich Robert von der Erde und aus dem Schoß der alten Kehrichtdurchwühlerin und ging mit einigen unbedeutenden Schrammen und Quetschungen, einigen sehr bedeutenden Rissen in Rock und Hosen und ungemein strubbeligem Haar aus dem Unglück hervor.
Fräulein Helene schlug mit einem kindlich jauchzenden Freudenschrei die Hände zusammen, der Schreiber nahm beruhigt eine Zigarre hervor; nur Julius Schminkert schien das Wohl und Wehe des »unzivilisierten Geschöpfes«, dessen Einfangung ihm übertragen worden war, ganz gleichgültig zu sein. Er hatte sogar die versprochenen zehn Taler Wildfangsgeld, er hatte die Tochter eines barbarischen Vaters, Fräulein Angelika Stibbe, vergessen. Dagegen drückte er die Hand auf die Stelle, wo er das Herz vermutete, nämlich die Stelle, wo gewöhnlich die Milz zu suchen ist, starrte unverwandt auf Fräulein Helene Wienand und murmelte etwas von »Herzschlag mit Hochdruck, Sternenaugen und komprimiertester Wehmut«, verdrehte und schloß gleich einem Automat mit mangelhafter Mechanik die Augen und seufzte:
»Perennierender Eindruck!«
Nicht den vorübergehendsten Eindruck machte er jedoch durch solches Gebaren auf die junge Dame. Sie hatte noch nicht den geringsten Begriff davon, daß ein Mensch ihretwegen die Augen verdrehen könne, – eine sehr seltene und recht klägliche Unwissenheit bei dem schönsten Geschlecht aller Zeiten, dem schönen Geschlecht der so äußerst gescheiten und unterrichteten Jetztzeit.
»Guten Abend, Fiebiger; – Ihr Diener, Helene. Nun, junges Fräulein, wollen wir jetzt über die Leiber unserer Mitmenschen fahren, wie wir demnächst über ihre Herzen fahren werden? Beruhigen Sie sich, liebstes Kind, dem Bengel ist kein Schaden geschehen. Schnell wieder in Ihren Wagen, oder es setzt einen Katarrh der Nasenschleimhäute oder gar eine Grippe, für welche ich dem Papa dann verantwortlich bin. Man darf die Männer der Börse in diesem Jahrhundert nicht ärgerlich machen; steigen Sie ein, Fräulein Wienand; ich wollte, meine Gliedmaßen wären in so gutem Zustande wie die des Jungen hier. Steigen Sie ein, und nehmen Sie mich mit. Sie fahren doch nach Hause, he?«
Helene bejahte die Frage des Arztes; aber sie zögerte noch, den Fuß auf den Wagentrkt zu setzen. Ihr Blick schweifte immer noch mit tiefem Bedauern zu Robert Wolf hinüber.
»Nun? Eh?!« fragte der Arzt, und Helene flüsterte ihm etwas in das Ohr, indem sie ihm zugleich verstohlen ihre Börse in die Hand gleiten lassen wollte.
»Aha«, brummte der Arzt. »Was ist da zu flüstern? Geben Sie, ich will schon –«
»Lassen Sie, ich bitte, Herr Sanitätsrat«, sagte aber schnell Fiebiger. »Der junge Mann steht unter meinem Schutz und gehört mir an.«
»Das ist etwas anderes. Bitte um Entschuldigung. Guten Abend, Fiebiger. Steigen Sie ein, Helene; hier ist Ihre Börse zurück.«
Jetzt trat das junge Mädchen, Schreckhaftigkeit und Schüchternheit niederkämpfend, ganz mutig auf Robert zu:
»Es tut mir so leid, – ich – ich –«
Der ungeduldige Arzt hob die zarte Gestalt fast mit Gewalt in den Wagen, ehe sie ihre Rede vollenden konnte.
Er stieg ihr auch sogleich nach und schlug den Wagenschlag zu:
»Fort nach Haus, Johann, du unvorsichtiger Tolpatsch!«
Polizeimann Schnaubert steckte die Brieftasche mit den dienstlichen Notizen über den Fall in die Brusttasche, berührte mit der Hand den Mützenrand gegen den Polizeischreiber und trat zurück unter den Chor des Volkes. Die Pferde zogen an. Noch einmal blickte ein bleiches Gesichtchen aus dem Wagenfenster auf die Unglücksstelle. Der Wagen rollte um die Ecke, und die Menge, welche zum größten Teil jetzt bedauerte, daß die Geschichte so gut abgelaufen und das Schauspiel so schnell zu Ende sei, zerstreute sich. Der Polizeischreiber, Robert Wolf und Julius Schminkert blieben allein zurück in einer kleinen Schar hartnäckiger Maulaffen.
Eine Seele ist geschieden vom Leibe, das schwere, mühselige Erdenleben liegt hinter ihr. Durch das Weltall sucht sie ihren Weg dahin, woher sie stammt. Aber das Weltall ist dunkel; das Licht klebt nur, wie wir wissen, an den kapriziösen Bällen, welche durch die ewige Finsternis ihre rätselhaften Bahnen gehen. Die arme Seele ist ratloser auf diesem Wege als auf irgendeinem andern, welchen sie auf Erden zwischen weltlichen und geistlichen Gewalten, Ver-und Geboten jemals wandelte. Schwankende Zustände mag sie auch auf ihren Erdenwegen gekannt haben; aber das war alles nichts gegen die Schwierigkeiten, welche sie jetzt vor sich findet. Sie wirbelt durch die ewige Nacht wie ein Blatt im Winde und erkennt die ganze schreckliche Bedeutung des horror vacui. Sie fängt an zu bedauern, daß die Seelen nicht auch, dem Lichte gleich, bloß an den Körpern kleben; – da – plötzlich – fällt ein Schein auf ihren Pfad, ein Glänzen geht blitzschnell vor ihr vorüber, und in dem Glanz ein prachtvoller weißer Engel, ein glänzender Schmetterling der Unsterblichkeit, ein echter Paradiesvogel. Verschwunden ist das Leuchten, wie es kam; aber die arme irrende Seele hat wenigstens den Glauben wiedergewonnen, daß es wirklich einen Weg zum Himmel gibt.
Ein ähnliches Gefühl erfüllte nochmals einen kurzen Augenblick hindurch die Seele Robert Wolfs, nachdem der Wagen, welcher Helene Wienand von dannen führte, um die Ecke verschwunden war. Dann gewannen die vorige Verworrenheit und Dunkelheit von neuem die Oberhand, und der Polizeischreiber Friedrich Fiebiger war für das Wohl des jungen Mannes fürs erste ein bei weitem wichtigerer Faktor als alle Lichterscheinungen, Engel und Heilige in und über der irdischen Welt.
Sanft nahm der Schreiber den Arm des Knaben und sagte:
»Wir wollen nicht hier in der Gasse zum Ergötzen des unbeschäftigten Publikums stehen bleiben, lieber Robert. Kommen Sie!«
Verwundert blickte der Angeredete den Alten an:
»Ich soll mit Ihnen gehen? Was wollen Sie von mir? Sie haben mich ja freigelassen, oder nicht?! Sind Sie nicht der Mann aus der Polizeistube?«
»Das kann ich leider nicht leugnen, wie gern ich es auch möchte«, sprach der Schreiber lächelnd.
»Achtenswerte Stellung, von etwas penetrantem Duft umhaucht!« brummte Schminkert drein; aber Fiebiger fuhr fort:
»Nehmen Sie an, ich sei Ihr Freund, Robert Wolf – der Freund Ihres Vaters.«
»Mein Vater hatte keine Freunde, und ich habe auch keine. Der Pastor Tanne ist tot.«
»Über alles das wollen wir später mehr sprechen; jetzt bitte ich Sie, Robert Wolf, mir zu folgen. Sie werden doch nicht einem alten Manne und Landsmanne, der Ihnen ein Obdach und Nachtessen anbietet, sein gutgemeintes Wort vor die Füße zurückwerfen?«
»Seid kein Narr, edler Fremdling, krasses Beispiel moralischer und sozialer Übel«, mischte sich Julius wieder ins Gespräch. »Ich kenne Leute, welche für ein Nachtessen ihre Seele dem Teufel verkaufen würden. Werft auf die Banner, schmettern laßt Posaunen; die Mitwelt soll, es soll die Nachwelt staunen – nämlich über den Appetit, welchen ich an dem gastfreien Tische dieses hochherzigen Bureaukraten, der mir, beiläufig gesagt, zehn Taler schuldig ist, entwickeln werde.«
Der Polizeischreiber warf einen bedenklichen Blick auf den Redner, dann wandte er sich von neuem an Robert:
»Sie als Schüler des Pastors Tanne müssen ja wissen: levis est dolor, qui capere consilium potest, leicht ist der Schmerz, der noch auf guten Rat hört. Sagt nicht so der Hofphilosoph des Nero, der Kaiserliche Wirkliche Geheime Hofrat, Prinzenerzieher und Professor Lucius Annäus Seneca? Na ja, so weit kamen Sie aber vielleicht noch nicht unterm Pastor Tanne in Ihren klassischen Studien. Was meinen Sie, Wolf; wie wäre es, wenn Sie versuchten, augenblicklichen guten Rat anzunehmen? Starren Sie mich doch nicht so eulenhaft an; ich will Ihre Seele weder kaufen noch verkaufen.«
»Herr, – ich – ich –«
»Ich wäre ein Esel und nichts mehr, wenn ich einem alten Mann seine Bitte, einen Abend bei ihm zuzubringen, aus grundlosem Trotz abschlagen würde. Kommen Sie, Sie holen sich sonst bei Ihrem aufgeregten