Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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Knie zusammenbrechen. Dann kann man sich halb blödsinnig an eine Ecke lehnen oder sich zu Boden werfen, sich anstarren lassen und sich – besinnen.

      Der Regen hatte aufgehört, der Nebel war geblieben; im Scheine des Gaslichtes glänzte das übereiste Pflaster; und Robert stürmte über den gefährlichen Boden, ohne zu ahnen, daß ihm die Wendung seines Lebens und Geschickes so nah auf den Fersen war und atemlos hinter ihm herkeuchte in der Gestalt Julius Schminkerts, des darstellenden Künstlers.

      Von dem verblüfften Wachtposten am Tor des Polizeihauses hatte sich Julius die Richtung, welche der Flüchtling genommen hatte, andeuten lassen und folgte ihr mit möglichster Schwung-und Schnellkraft. An der nächsten Ecke schon traf er auf einen ältlichen Herrn, welcher sich ärgerlich die Schulter rieb und Blicke und Worte des höchsten Mißfallens die Gasse hinabsandte. Diesen Worten oder Blicken konnte Julius ohne Aufenthalt nachsausen, ohne fehlzulaufen. Er tat es und stieß an der folgenden Straßenkreuzung auf eine Gruppe, die sich um einen auf dem Pflaster liegenden Korb und einen außer sich geratenen Menschen weiblichen Geschlechts gesammelt hatte. Wiederum, ohne sich damit aufzuhalten, der belfernden Furiosa die entfallenen Varia aufsammeln zu helfen, eilte Schminkert, die Gleichgültigkeit des Verfolgten gegen die Gefühle der begegnenden Menschheit segnend, weiter und traf noch auf mancherlei Zeichen, welche klar die Richtung angaben, die Robert Wolf genommen hatte, welche aber auch immer klarer bewiesen, daß derselbe die Zurechnungsfähigkeit, die man von einem polizierten Menschen verlangen kann, noch lange nicht wiedererlangt habe.

      Durch manche Straße, über manchen Platz setzte der Deklamator dem Jüngling, an dessen Fersen ein Darlehen von zehn Talern hing, nach, würde aber wahrscheinlicherweise doch weder des einen noch des ändern habhaft geworden sein, wenn nicht ein Zufall oder, besser gesagt, ein Unfall ihm beides zuletzt in die Hände geliefert hätte. Daß dieser Unfall bei dem Seelenzustande Roberts nicht früher eingetreten war, war fast für ein Wunder zu nehmen.

      Ein Wagen, der im vollen Rossestrab um die Ecke bog, setzte dem Lauf des armen Knaben ein Ziel. Von den Pferden zur Seite geschleudert, von einem Rade gestreift, verlor Robert Wolf völlig das Bewußtsein und legte sich langhingestreckt auf das kalte, mit Eis überzogene Pflaster.

      Welche Bewegung solch ein Fall in den Gassen einer größern Stadt hervorruft, wird wenigen unbekannt sein. Eine Volksmenge hat sich um den Wagen und den Verunglückten versammelt, als sei sie durch Hexenwerk aus dem Boden aufgestiegen. Man fällt dem entsetzten Kutscher in die Zügel; Weiber schlagen kreischend die Hände über den Köpfen zusammen; Männer fluchen und schreien nach der Polizei; die Polizei aber hat die größte Mühe, die schreckensbleichen Insassen des Wagens vor tätlichen Beleidigungen zu schützen. Vor Worten und Gesten kann sie dieselben nicht schützen.

      Julius Schminkert kam auf der Unglücksstätte grade zur rechten Zeit an, um dem Spektakel die Blüte abzubrechen und sich des unter den Fäusten mehrerer gutmütiger Weiber ins Leben zurückgerufenen Robert zu bemächtigen. Den Arm des niedergeworfenen Knaben aus dem Walde haltend, schickte sich der Mime eben an, im höchsten Tragödenton gegen die in donnernden Karossen über die Leichen des Plebejertums wegrasselnde Aristokratie und Plutokratie loszulegen, als ihn ein Blick auf den Wagen bewog, den Strom der beredten Rede durch ein krampfhaftes Niederschlucken zurückzudrängen und, grob und deutsch gesagt, doch lieber das Maul zu halten.

      Aus dem Wagenfenster beugte sich das hübscheste Mädchengesicht, bleich vor Schrecken und Entsetzen. Eine winzige Hand im weißen Handschuh mühte sich vergeblich zitternd ab, den Schlag zu öffnen, und große angstvolle Augen baten flehentlich die Menge um Erbarmen.

      Ein fetter Kommerzienrat, eine alte verrunzelte Gräfin hätten das angerichtete Unheil noch so tief empfinden und bedauern können; so rührend wie dieses junge, der Ohnmacht nahe Kind hätten sie nicht ausgesehen und also auch nicht solchen Eindruck auf die Stimmung und die Gefühle Julius Schminkerts und des übrigen Volkes gemacht.

      »Erlauben Sie, mein Fräulein, ängstigen Sie sich nicht!« rief der Deklamator, höchst dienstbeflissen den Wagenschlag öffnend und der jungen Dame die Hand zum Aussteigen bietend. »Sie würden am besten tun, wenn Sie ruhig sitzen blieben«, fügte er hinzu, »es hat wirklich nichts zu sagen – eine kleine Schramme – der Tölpel wird sogleich wieder auf den Füßen stehen und Ihnen die Hand küssen.«

      »O nein, nein! Bitte, lassen Sie mich aussteigen, – lassen Sie mich selbst sehen! – o, es tut mir so leid!«

      Schon stand sie im Schein des Laternenlichtes auf dem kalten, nassen Pflaster, stumm angestarrt von der eben noch so drohenden, so wilden Menge. Die Lieblichkeit und Zartheit der Erscheinung und ihre schmerzvolle Angst bändigten die rohesten Gemüter im Haufen, und der mutwilligste Schusterjunge unterbrach sein Pfeifen und Geschrei und hatte eine Ahnung davon, daß es ein edel Ding sei um die Schönheit.

      Während der bepelzte Kutscher dem auf dem Schauplatz des Unglücks erschienenen Mann der öffentlichen Sicherheit Bericht gab über das Geschehene und erklärte, daß dieser Wagen dem Bankier Wienand gehöre und daß die junge Dame Fräulein Helene, die Tochter des Bankiers, sei, wagte Fräulein Helene selbst die wenigen Schritte, welche sie von dem armen Robert Wolf trennten, und letzterer, die Augen öffnend, sah dicht vor sich das süße Wesen, sah in die treuen, guten, mitleidigen Augen des Kindes; und in den Schmutz, das Getümmel der Gasse hauchte es hinein, als habe der Wind im vergangenen Frühling den duftigen Atem einer blühenden Waldwiese seiner Heimat aufgenommen und irgendwo aufgehoben, um ihn in diese Stunde zu tragen. Das Geflacker der unruhigen Gaslaternen ward zu dem ruhig leuchtenden Goldglanz, in welchem die alten Maler ihre Engel der Verkündigung niedersteigen lassen. Es war freilich auch tiefes Mitleid und Mitgefühl in dem Auge des alten zerlumpten Weibes, welches den Kopf des Knaben aus dem Walde im Schoße hielt und seinen Tragkorb voll Knochen, Glasscherben und rostigem Eisen achtlos dem öffentlichen Ehrgefühl anvertraute; aber die schwache Menschennatur sieht nun einmal das Gute am liebsten in Verbindung mit dem Schönen und weiß es dann am besten zu würdigen, wenn es in anmutiger Hülle kommt. Die Hilfeleistung der alten schmutzigen Lumpensammlerin nahm Robert Wolf hin, ohne ihr großen Dank dafür zu wissen; die junge elegante Dame aber erschien ihm wie der Engel der Barmherzigkeit selbst, und als sie sich zu ihm niederbeugte und zitternd die zitternde Hand, die er gegen sie ausstreckte, berührte, da wünschte er, trotz Eva Dornbluth, in alle Ewigkeit so auf dem Straßenpflaster zu liegen in halber Bewußtlosigkeit und in solche glänzende, tränenvolle Augen zu blicken.

      »O, wie schrecklich ist das! O, wie leid tut es mir! Fühlen Sie viel Schmerzen?« rief Helene Wienand, und ihre Stimme war gleich ihrer Gestalt lieblich und harmonisch. Wie Musik schlug sie an das Ohr Roberts; er konnte nichts, als den Kopf auf die ängstlichen Fragen schütteln und die Fragerin anstarren. Er war in einer seltsamen Phantasmagorie befangen; die durch den vorhergegangenen Sturm abgespannten Nerven zitterten aus in einem physischen und psychischen Herzklopfen, während welchem das Bewußtsein von Raum und Zeit fast vollständig verloren gegangen war. Die Gestalten von Eva Dornbluth, dem Herrn von Poppen, den verschiedenen Polizeibeamten tanzten zwar noch einen gespensterhaft unheimlichen Reigen durch das Gehirn des Knaben; aber ihre Umrisse waren schattenhaft und verwirrt und flössen so sehr ineinander, daß keine Gestalt sich recht von der ändern ablöste, sondern alles nur ein häßliches Gemisch und Gewirr war. Auch das Getümmel des ihn umgebenden lärmenden Volkes trug dazu bei, diese vor kurzem noch so inhaltvollen Figuren in der Seele Roberts in solcher Weise aufzulösen zu farblosen Schemen. Er blickte zu dem dunkeln, sternleeren Nachthimmel empor, in welchen das rötliche Leuchten der großen Stadt hinaufschlug, und aus diesem dunkeln Hintergrunde trat in diesem Moment einzig und allein die zarte Gestalt und das Kindergesicht Helene Wienands klar und deutlich hervor, nahm alle Gedanken des Knaben für sich in Anspruch und fing sie in dem Schleier, welchen sie von dem Rosahütchen zurückgeschlagen hatte, und in den Löckchen, die unter eben diesem Hütchen so üppig hervorquollen.

      Aber der magische Augenblick, die Verzückung verging blitzschnell. Durch die immer mehr anwachsende Menge drängte sich der Polizeischreiber Fiebiger, welchen ein dumpfes Gerücht: in der Glockenstraße sei ein junger Mensch von einem Wagen total gerädert worden, – richtig zur Stelle geführt hatte. Der praktische Polizeischreiber brach den Zauber zuerst dadurch, daß er nach einem Wundarzt rief, worauf ein wohlbeleibter behaglicher Herr in einem warmen Mantel, vom Schreiber und mehr als