Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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großen Reisenden und Menschenfischer Faber. Der eine in seiner Dachstube hockend und seine Tage in dem denkbar widerlichsten Amte verkritzelnd, der andere, mit dem weitesten Spielraum für seine Beine, durch alle Völker und Länder streifend, sind einander verwandt wie zwei gleichschenkelige Dreiecke, und der Gesichtskreis des einen ist nicht weiter als der des andern; – sie haben beide gute Augen.«

      »Und jetzt will er diesen armen jungen Mann, welcher beinahe durch mich getötet worden wäre, bei sich aufnehmen?«

      »Tröster sagt’s; so sind diese Glücklichen, wenn’s ihnen zu wohl wird –.«

      »Sie sind ein alter Egoist, Pfingsten«, sagte das kleine Freifräulein trocken. »Lassen Sie diesen Friedrich Fiebiger, Sie kennen doch blutwenig von ihm. Wen haben wir hier?«

      »Lupus in fabula, der Hauptmann von Faber mit seinem jungen Yankee – der Papa Wienand«, sagte der Doktor und seufzte im geheimen: »Gottlob, so komme ich endlich doch noch zu meinem L’Hombre. Falsch ist alles, die Menschen und die Karten; ich ziehe aber die letzteren vor.«

      Der Bankier Wienand konnte an diesem denkwürdigen Abend, von der Sorge für seine Gesellschaft in Anspruch genommen, immer nur einige Augenblicke in dem Zimmer seiner Tochter weilen. Höchstens durfte er dann und wann den Kopf hineinstecken und sich nach ihrem Befinden erkundigen. Jetzt erschien er – ein wohlbehäbiger Herr mit stahlgrauem Haar, etwas harten Gesichtslinien und einem Zug lächelnden Selbstbewußtseins um den Mund, gleich einem Sonnenstrahl, der um einen eisernen feuerfesten Geldschrank spielt. Er kam Arm in Arm mit Konrad von Faber und einem jungen stattlichen Herrn mit rötlichem Haar und Bart, der mit sicherm Anstand vor den Damen sich verneigte und von dem Hauptmann vorgestellt wurde als:

      »Herr Friedrich Warner aus New-Orleans.«

      Der Sanitätsrat benutzte die gute Gelegenheit, dem Boudoir Helenes zu entschlüpfen. Wahrend er zu den Spieltischen zurückschlüpfte, murmelte er aber: »Ein prachtvoller Menschentypus, dieser junge Deutsch-Amerikaner. Ich liebe diese breitschultrigen Gesellen mit diesen blonden Löwenmähnen und den vollen Bruststimmen. Man fühlt sich dabei in seiner Rasse noch für einige Zeit gesichert; ‘s ist ein Trost für einen Arzt heutiger Epoche.« –

      Um diese Zeit stand der Polizeischreiber Fiebiger in der Musikantengasse mit untergeschlagenen Armen vor dem Lager seines Schützlings.

      »So habe ich nun«, sprach er, »den Griff in das volle Menschenleben getan. Was hab ich gepackt? Eine Handvoll Glück oder Unglück? Wir wollen sehen. Eins ist sicher; als William Shakespeare seine schönen Verse über den Mann, ›der nicht Musik hat in sich selbst‹, dichtete, da verstand er unter Musik jedenfalls nicht solche Nasallaute, wie sie der Junge hier jetzt hervorbringt. Bah, es ist besser, zu schnarchen als zu schluchzen. Soll mich doch wundern, was Ulex dazu sagen wird.«

      Der Schreiber nahm die Lampe von dem Stuhl wieder auf und schlich auf den Zehen aus der Kammer. Er zog seinen Oberrock wieder an, setzte den Hut auf, schloß sorglich die Tür seiner Wohnung, versenkte den Schlüssel in seine Hosentasche und verließ das Haus.

      Um die Ecke der Musikantengasse biegend, schritt er eine zweite Gasse hinab bis in einen Winkel, wo er vor einer niedrigen schwarzen Pforte stillstand. Diese Pforte führte auf einen umfangreichen Hof voll Gerümpel aller Art; der Schreiber trat hinein, und der schwere Türflügel schlug sogleich hinter ihm zu. Ein Licht flimmerte aus der Höhe, es flimmerte in dem Giebel des Astronomen Heinrich Ulex. Es war derselbe Schein, welchen man auch aus der Kammer sah, in der jetzt Robert Wolf schlief. Tastend fand Friedrich Fiebiger seinen Weg über den Hof, und in einer Ecke desselben stieg er eine Wendeltreppe empor. Sie führte empor zum Gemach des Sternsehers.

      Sechstes Kapitel

      Expektoration des Autors über die Einsamkeit; Lebensläufe aus vergangenen Tagen werden erzählt

       Inhaltsverzeichnis

      O Einsamkeit, du starke Göttin, der Königlich Großbritannische und Kurfürstlich Hannoversche Leibarzt Johann Georg Zimmermann hypochondrischen Angedenkens hat vier dicke Bände über deine Süßigkeiten und deine Schrecknisse geschrieben; ich werde das nicht tun. Eine starke Göttin nenne ich dich, o Einsamkeit, weil die Wirkungen deiner Macht grenzenlos sind im Guten wie im Bösen. Je nachdem du dem Menschen die lichtblaue oder die dunkelfarbige Seite deines Schleiers über die Augen hängst, führst du seine Seele in die stillsten Auen irdischen Friedens, irdischer Glückseligkeit, stürzest du sein Ich in die gräßlichste Nacht der Verzweiflung und des Wahnsinns. Du bist eine gewaltige Zauberin, Einsamkeit; Mutter der Kunst, der Weisheit und des Heldentums bist du und bevölkerst doch die Welt mit Gespenstern, Fratzen, mit allem Gaukelspiel der Hölle. Mutter bist du und doch eine Jungfrau: dem einen Maria die Allbeseligende, dem andern die eiserne Gestalt des Mittelalters, deren Arme zerfleischende Messer verbergen. Deine Arme breitest du aus: Kommet her zu mir alle, die ihr betrübt, mühselig und beladen seid, ich will euch eurer Last entledigen, ich will euch trösten! Deine Arme breitest du aus: Kommet her zu mir, ihr Verstockten, ihr Fanatiker, ihr Verbrecher, ihr Unglücklichen jeder Art; das Bittere soll bitterer werden, härter das Harte, schlechter das Schlechte, giftiger jedes Gift! – Im größten wie im kleinsten wirkst du, Einsamkeit; die Flammen der Sinnlichkeit löschst du und schürst du zum verzehrenden Brande; anders erscheinst du jeglichem Menschen: dem Alter auf andere Art als der Jugend, dem Weibe anders als dem Manne, der Jungfrau anders als der Mutter. Mir bist du bona Dea, o Einsamkeit, die gute Göttin des Lebens; ich bitte dich, sei auch eine gute Göttin allen denen, welche ihr Auge auf dieses Blatt werfen; ich bin ihnen gewogen, darum zeige ihnen deine holdeste Gunst und Kraft!

      Dicht am Dorfe Poppenhagen im Winzelwalde liegt das adelige Gut, der Poppenhof, welchem das Privilegium nobilitatis beigelegt war und damit die Vogtei und Untergerichtsbarkeit. Danach konnten die jedesmaligen Delinquenten »in solchen Delictis, so nicht in die peinliche Halsgerichtsordnung laufen, nach Beschaffenheit der Umstände mit einer Geldbuße beleget, incarceriret, auch mit Anschließung an das Halseisen, so auf dem Hofe befindlich, bestraffet werden«.

      Am vierzehnten April 1803 sollte diesem Privilegio gemäß das Halseisen der Witwe Ulex aus dem Dorfarmenhause umgelegt werden. Ihr Mann war, wie der Vater Robert Wolfs, Forstwart auf dem Eulenbruch gewesen und hatte als blutjunger Mensch die Annexionskriege des Alten Fritz mitgemacht. Als Unteroffizier des Regiments Pasewalk invalid entlassen, heiratete er, indem er das erste junge weibliche Wesen aufgriff, welches ihm bei seiner Rückkehr aus dem Garnisonsdienst am Eingange des Dorfes Poppenhagen entgegenlief. Aus dieser Zufallsehe entsproß Heinrich Ulex, der Sternseher.

      Um das Jahr achtzehnhundertundeins starb der Forstwart an einer Wilddiebskugel, welche eine alte Wunde aus dem Bayrischen Erbfolgekriege von neuem aufriß, und die Witwe zog mit ihrem Jungen nach Poppenhagen hinab in das Siechenhaus. Sie war dem Trunk ergeben und nahm es nicht allzu genau mit dem Mein und Dein. In der Kunst, Hühner zu stehlen, hatte sie es zu einer wahren Virtuosität gebracht, und wir benutzen die Gelegenheit, unsern Leserinnen zuzuraunen, daß es nicht nur eine Kunst ist, Herzen, sondern auch eine Kunst, Hühner zu stehlen. Vergeblich suchte die fromme Wirtswitwe Fiebiger, die ebenfalls mit ihrem Sohne Fritz ihre letzten Jahre in dem Siechenhause hinbrachte, moralisch auf die Sünderin einzuwirken; das Unterfangen war zu gefährlich und trug höchstens einige Kratzwunden ein. Die Fiebigerin war aber so still und demütig, wie die Witwe des Forstwarts wild und rebellisch war; sie konnte daher am vierzehnten April 1803 nur in den Winkel kriechen und die schreckliche Aussetzung ihrer Mitgenossin im Hunger und Elend des Armenhauses mit vors Gesicht gehaltener Schürze bejammern.

      So stand denn unter dem trüben Himmel des regenhaften Tages auf dem Gutshofe die Ulexin im Halseisen, während der Großvater Leons von Poppen, der Rittmeister außer Dienst Gotthelf von Poppen, mit der Tonpfeife im Fenster lag und das diebische Weib mit den greulichsten Flüchen und Schimpfwörtern überschüttete, während die Bauern, ihre Weiber und Kinder samt den Gutsknechten mit abgezogenen Hüten, wenn auch angstvoll, so doch sehr befriedigt gafften. Ein zerlumpter, verwahrlost blickender Knabe wurde neben dem Halseisen von einem etwas jüngern, wohlgekleideten Knaben geneckt und mißhandelt und suchte sich schreiend an dem Lumpenrocke des gefesselten,