Wilhelm Raabe

Die wichtigsten Novellen, Romane & Erzählungen von Wilhelm Raabe


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mit atemloser Bangnis sah Fritz Fiebiger von dem Düngerhaufen aus dem häßlichen Schauspiel zu, und dasselbe tat ein kränklich blickendes Mädchen von der Tür aus, die in den Gutsgarten führte. Juliane von Poppen hieß die Kleine; ihre Mutter war tot, ihr Vater kümmerte sich wenig um sie, er zog bei weitem seinen Sohn, der einige Jahre jünger als das Mädchen war, vor. Hübsch war die Kleine jedenfalls nicht zu nennen, sie war zu bleich dazu; aber sie war mitleidig und hatte jetzt Tränen in den großen schwarzen Augen. Es war ein für ihr Alter winziges, nervöses Ding, und als sich der heulende, zerlumpte Betteljunge vor der Gerte ihres Bruders von der Schürze der Frau im Halseisen in ihre eigene Nähe flüchtete, machte sie sich von der Hand der Bonne los und trat mit abwehrenden Armen und geballten Händen dem jugendlichen Tyrannen und Dynasten vom Poppenhof entgegen.

      Der Rittmeister oben im Fenster lachte darüber aus vollem Halse; aber Junker Theodor schien nun die größte Lust zu haben, seinen Stock gegen die Schwester zu gebrauchen. Nur des Vaters ernstliches: »Laß die kleine Katze!« konnte seinem Zorn Halt gebieten, ohne ihm jedoch Einhalt zu tun. Seit den frühesten Kindertagen herrschte eine tiefe Abneigung zwischen den Geschwistern, was man leider viel häufiger findet, als man gewöhnlich annimmt.

      In dem schwächlichen, magern Körper des Mädchens steckte eine starke, willenskräftige Seele, welche hielt, was sie erfaßt hatte, Kenntnisse, Zuneigung und Abneigung, Liebe und Haß. Juliane von Poppen ward von dem Tage, wo seine Mutter am Halseisen stand, die erklärte Beschützerin von Heinrich Ulex, und der arme Knabe hing ihr dagegen mit der Ergebenheit eines Hundes an. Sie nahm das ganze Armenhaus unter ihre besondere Protektion, aber vorzüglich, wie gesagt, den Sohn der Hühnerdiebin. Sie hatte noch öfters Gelegenheit, ihn gegen die Ungeschlachtheit des Vaters und die Roheit des Bruders zu schützen, und wenn es ihr auch nicht gelang, jedes Ungewitter von ihm abzuwenden, so konnte sie doch manchen Blitz und Donner unschädlich seitwärts lenken.

      Es entstand allmählich zwischen dem Fräulein von Poppen und dem Sohn der diebischen Bettlerin ein eigentümliches Verhältnis. Das Mädchen hatte in der Gesellschaft ihres Vaters und Bruders traurige, freudenlose Tage hingebracht; jetzt fand sie zum ersten Male auf ihrem Lebenswege ein Wesen, welches ihr alles zuliebe tat, was sie nur irgend verlangen mochte. Unklare Gefühle, geschöpft aus einer Bibliothek sentimentaler Romane, dem einstigen Eigentum der verstorbenen Mutter, durchspukten das phantastische Köpfchen; die junge Chatelaine gebrauchte den erworbenen Einfluß, um den Knaben aus dem Armenhause an sich zu fesseln, wie eine kleine geistreiche Fee einen blöden, dickköpfigen, ehrlichen Kobold. Da gab es für Heinrich Ulex Aufträge der verschiedensten Art. Seltene Blumen mußten gesucht werden in den Wäldern und auf den Bergen; auf glänzende Steine, zierliche Moose, Vogeleier und Federn mußte Jagd gemacht werden zum phantastischen Schmuck des Zimmers des Fräuleins. Es verging kaum ein Tag, an welchem die Kinder nicht miteinander verkehrten in Wald und Feld oder hinter den Gartenhecken von Poppenhagen. Und niemand durfte etwas merken von der Vorliebe des Fräuleins für ihren Kobold als Fritz Fiebiger, der Sohn der Wirtswitwe. Er wurde von Zeit zu Zeit in allerlei wichtige Geheimnisse der beiden andern hineingezogen und ging dann und wann mit auf die Jagd nach Blumen, Steinen und Vogeleiern.

      Juliane von Poppen, welche vor ihrem Vater sich fürchtete und ihren Bruder haßte, wurde in der Einsamkeit des Waldes, in der Gesellschaft der beiden Knaben zum fröhlichen, liebenswürdigen Kinde. Das altkluge Gesichtchen verlor die bleiche Farbe, der ernste Mund lernte allmählich das heitere Lachen, und die schwarzen Augen behielten ihren Glanz, aber nicht ihre scheue Unstetigkeit.

      Es rauscht und plätschert manch ein Bach durch den Winzelwald, und der große Forst, im Jahre 1803 noch viel wilder und dunkler als heute, bot manch ein geheimnisvolles Versteck, ganz gemacht, daselbst Märchen zu erzählen und auf Märchen zu horchen. An einem solchen Fleckchen, wo die Waldvögel in die Lektion des Fräuleins vom Poppenhof hineinsangen, wo die Sonne zitternde Schattenbilder auf das Lesebuch im Schoß der kleinen eifrigen Lehrerin warf, lernten Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger das Lesen und Schreiben. Hier füllte dem armen Heinrich das elfenhafte, phantastische Mädchen das Herz mit den Gestalten und Bildern ihrer eigenen Lektüre. Ritter und Damen, Tyrannen, Henker, schuldlose Opfer, unglückliche Verliebte, Totengerippe, Gespenster, Räuber, Riesen und Zwerge zogen vorüber; und in wonnigem Bangen lauschten die beiden Kinder geheimnisvollen Klängen in der Ferne, sahen Gestalten hinter den Stämmen in der Dämmerung des Waldes und drängten sich scheu aneinander vor den Geistern und Schauern, welche sie selbst beschworen hatten. Dem mit gefalteten Händen horchenden Heinrich war oft zumute, als werde die Lehrerin mit ihrem Waldblumenkranz und den blitzenden schwarzen Augen sich gleich selbst in solch ein verschwebendes Bild auflösen und im Waldschatten, Vogelsang und Rauschen der Wasser verschwinden.

      Wie aber schreckten die Kinder auf, wenn ein Laut des wirklichen Lebens sie in ihrer Einsamkeit störte, wenn die Axt des Holzhauers in der Nähe erklang oder das Pfeifen des Hirten. Da schoß das eine hierhin ins Versteck, das andere dorthin. Und wenn dann gar der Rittmeister von Poppen mit seinen Hunden durch den Wald ritt, begegnete ihm wohl sein Töchterlein einsam auf einem verwachsenen Pfade oder trat ihm aus dem Dickicht entgegen und ließ sich, stumm die Augen niederschlagend, anschnauzen über solch albernes Umherstreifen; dem Knaben gewann sie dadurch Zeit, tiefer in die Wildnis zu flüchten.

      Zwei Jahre hindurch dauerte dies Verhältnis, harmlos und unschuldig. In ihrer Einsamkeit waren Heinrich und Juliane wie die Erstgeborenen der Erde, als der Baum der Erkenntnis noch unberührt stand im Paradiese. »Sie schämten sich nicht«, wie das Buch der Erschaffung so unbeschreiblich lieblich sagt. Und so kamen sie, ohne es zu merken, der Grenze der Kindheit immer näher. Im Herbst des Jahres 1806 gelangte jedoch das süße Spiel der Einsamkeit zu einem plötzlichen jähen Ende, und der Sohn der Bettlerin und das adelige Fräulein erwachten wie aus einem hübschen Traume.

      Am zwanzigsten September dieses Jahres, um die sechste Abendstunde, an einem düstern, nebligen Tage, warf ein armes Weiblein, welches im Gehölz in der Nähe des Poppenhofes Reisig für ihren Küchenherd gesammelt hatte, ihren Tragkorb mit hellem Aufkreischen weit von sich, schleuderte ihre schweren Holzschuhe von den Füßen, um schneller laufen zu können, und stürzte halb sinnlos vor Angst und Schrecken dem Dorfe Poppenhagen zu. Das Weiblein hatte ein Gespenst gesehen. Unter den Tannen war eine lange, hagere, schwarze Gestalt, stocksteif aufgerichtet, langsam und unhörbar durch die Nebeldämmerung grade auf die Holzleserin zugeschritten. Diese unheimliche Gestalt, dieses Gespenst war die Gouvernante, welche auf dem Poppenhofe angekommen war, um dem gnädigen Fräulein den Ton und die Wissenschaft der schönen Welt beizubringen.

      Mademoiselle Amalie Schnubbes Blütezeit war noch in die Blütezeit der Sentimentalität gefallen; aber diese Epoche lag weit zurück, und – sauer gewordene Mandelmilch ist ein sehr unangenehmes Getränk!

      Mademoiselle Schnubbe nahm ihre Aufgabe sehr ernst, und ihre kalte, knöcherne Hand zerknickte erbarmungslos die wenigen Blumen, mit welchen die arme Juliane ihr einsames, verlassenes Kinderleben schmücken konnte, eine nach der andern, würdevoll, methodisch und vornehm. Freilich versuchte das Mädchen anfangs gegen die Lehren und Pflichten des bon ton sich aufzulehnen; aber ihre Kräfte erlahmten fürs erste bald, wenn das Joch auch kein dauerndes sein konnte. In dem Eishauch, mit welchem die winterliche Amalie ihre Schülerin umgab, versank das Frühlingsleben, welches die Natur in dieses junge Wesen gelegt hatte, in eine Art Winterschlaf. Die schreckliche Amalie besaß das Talent, unpassende Verhältnisse auszuspüren und zu Ende zu bringen, in einem erstaunlichen Grade. Sie spürte auch das Waldmärchen aus, welches zwischen Heinrich, Fritz und Juliane gespielt hatte, und verfehlte nicht, pflichtgemäß den gestrengen Papa davon in Kenntnis zu setzen. In einen wahren Wutanfall gerieten die beiden Poppen, Vater und Sohn, darüber; die Heftigkeit ihres Zornes übertraf jede Schilderung, welche davon gemacht werden könnte. Zum Glück für Heinrich Ulex und Fritz Fiebiger marschierten um diese Zeit die Franzosen in Deutschland ein, und das Heilige Römische Reich, in welchem schon so lange der Schwamm gesessen hatte, stürzte mit Gekrach zusammen vor dem Fußtritt des fremden Eroberers. In dem Wirrwarr, dem Kopfunterkopfüber, welche die Folgen der Schlacht bei Jena waren, konnten sich Heinrich und Fritz leichter aus dem Staube machen und der kleinherrlichen Willkür und Roheit sich entziehen, als es bei ruhigeren Zeitläufen möglich gewesen wäre. Sie nahmen kläglichen Abschied von ihren Müttern und gingen davon mit den winzigsten Bündeln, die sich vorstellen lassen. Die beiden Mütter hatten noch viel