der allgemeinen Fürsorge bzw. dem allgemeinen Strafrecht herauszulösen und zu integrieren. Gleichzeitig wurden an mehreren Stellen im Reich Bestrebungen vorangetrieben, die private Jugendfürsorge mit den kommunalen Behörden stärker arbeitsteilig zu verbinden. Zu diesem Zweck bildeten sich halbamtliche Jugendfürsorgeausschüsse oder -vereine, die auch gesetzlich nicht geregelte Aufgaben übernehmen konnten und in denen private und amtliche Fürsorgeaktivitäten zusammengefasst wurden (Hasenclever 1978, 28).
Sieht man von den kirchlichen Verbänden teilweise ab, so herrschte im Bereich der privaten Fürsorge allerdings noch immer ein reges Neben- und Gegeneinander: Neben Vereinen, die auf lokaler Basis arbeiteten und sich nur mit sehr spezifischen Notständen befassten, standen die Zweigvereine von Organisationen, die für größere Bezirke zuständig waren, und neben landes- oder reichsweit durchgegliederten Fachverbänden die konfessionellen Einrichtungen und humanitären oder politisch geprägten Bestrebungen. Die auch hier bestehenden Ansätze zu einer Vereinheitlichung von Organisationsformen bleiben zunächst in ihrer Wirkung begrenzt und scheiterten in erster Linie an den grundsätzlichen weltanschaulichen Interessengegensätzen zwischen den einzelnen Einrichtungen und Vereinen. Weiterhin ungeklärt war auch die Frage nach dem Verhältnis von staatlicher bzw. kommunaler und privater Jugendfürsorge (Scherpner 1979, 176).
Vor diesem Hintergrund wurde deshalb auch innerhalb der freien Jugendfürsorge der Ruf nach einem Jugendamt zunehmend lauter, das nicht nur die öffentliche Fürsorge einheitlich regeln, sondern auch als Bindeglied zur privaten Fürsorge fungieren sollte. Das größte Hemmnis auf dem Weg zum kommunalen Jugendamt war allerdings die Tatsache, dass die verschiedenen Zweige der Jugendfürsorge noch immer auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen beruhten. Erst mit dem Inkrafttreten des Jugendgerichtsgesetzes (JGG) 1923 bzw. dem Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt (RJWG) 1924 konnte dieses Hindernis weitgehend beseitigt werden.
Obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine reichsweit verbindlichen rechtlichen Strukturen gab, lassen sich bereits vor der Einführung des RJWG inselartige Konsolidierungen und Institutionalisierungen interorganisatorischer Beziehungen zwischen freier und öffentlicher Kinder- und Jugendhilfe beobachten. In Teilbereichen der Jugendfürsorge war diese Entwicklung bereits zu Beginn des Jahrhunderts weitgehend zum Abschluss gekommen: »Die Ausbildung des Terrains der Zwangserziehung war (…) beim Inkrafttreten des RJWG völlig abgeschlossen. Tatsächlich sank (…) seitdem der Zöglingsbestand« (Peukert/Münchmeier 1990, 7). Auch in anderen Bereichen bildete und verfestigte sich in dieser Zeit – z. B. in Form von überregionalen Verbänden und lokalen Zusammenschlüssen – zunehmend eine »kommunikative Infrastruktur«, die es erst erlaubte, strategische Allianzen und organisationsübergreifende Interessenkoalitionen zu formieren. Trotz der zu beobachtenden Spezialisierung, der Entdeckung neuer sozialer Notstände und der dadurch bedingten Vervielfältigung der Aufgaben scheint sich also in dieser Zeit zunehmend eine kollektive Identität herauszubilden, die in engeren oder weiteren Zirkeln um das Problem »erziehungsbedürftige Kinder und Jugendliche« kreiste. Bereits hier deutet sich damit an, was dann einige Jahre später mit der Verabschiedung des RJWG zu einem vorläufigen Endpunkt kommen sollte – die strukturelle Fusionierung von Jugendfürsorge und Jugendpflege zu einem eigenständigen Handlungssystem mit rechtlich und institutionell garantiertem Zuständigkeitsanspruch.
Fragt man nach den unmittelbaren Folgen dieses Zusammenwachsens für einzelne Organisationen, so war damit ein entscheidender qualitativer Sprung verbunden: Zum einen verstärkte die allmähliche Herausbildung einer sinnhaften kollektiven Orientierung als Folge einer zunehmenden Strukturierung, Institutionalisierung und arbeitsteiligen Gestaltung zwischenorganisatorischer Beziehungen die Notwendigkeit zu einer rechtlichen Normierung und Verständigung über methodische Standards. Zum anderen musste sich dadurch auch der Umweltfokus einzelner Organisationen verschieben: Waren relevante Umwelten für Erziehungs- und Fürsorgeeinrichtungen zunächst vor allem ihre Mittelgeber (Spender und Spenderinnen, religiöse Gemeinschaften, kommunale Entscheidungsgremien usw.), so wurde diese Umwelt nun zunehmend komplexer und vielgestaltiger. So lange einzelne Einrichtungen noch relativ isoliert nebeneinander bestanden, konnte jeder, der sich dazu berufen fühlte und die entsprechenden Geldmittel organisieren konnte, seine eigene Anstalt eröffnen und darin arbeiten, wie er wollte. Der Entscheidungsfreiheit waren also kaum Grenzen gesetzt. Durch die zunehmende Integration weiterer Organisationen in diesen Verflechtungszusammenhang, die wachsende Verrechtlichung und die Zentralisierung von Ressourcen, stieg nun der Koordinierungsbedarf an und, andere Organisationen wurden stetig bedeutsamere Einflussgrößen bei organisationalen Entscheidungen. Ein Waisenhaus als Manufakturbetrieb zu führen, wäre zu diesem Zeitpunkt vermutlich schon nicht mehr möglich gewesen, ohne die Existenz der Einrichtung mittelfristig aufs Spiel zu setzen. Für einzelne Einrichtungen wurde es also zunehmend notwendig, andere Organisationen zu beobachten, sich an deren normative und kognitive Erwartungen anzupassen und die innerhalb des Systems gültigen Regeln (Formen, Methoden und Inhalte von Erziehung, Finanzierungsmodalitäten, baurechtliche Bestimmungen usw.) zu beachten.
Das sukzessive Zusammenwachsen der Jugendhilfe erzeugte also eine erhebliche Beschleunigungswirkung für diesen Prozess selbst, weil dadurch, im Sinne einer Rückkoppelungsschleife, erst die Voraussetzungen für eine kollektive Interessenformierung geschaffen wurden, die in dem Maße, wie sie sich durchsetzte, nicht nur zur Wahrnehmung immer neuer Probleme und Handlungsbedarfe führte, sondern zugleich den internen Regelungsbedarf erhöhte und dadurch die Jugendfürsorge noch enger zusammenrücken ließ. Dadurch entfiel teilweise die Notwendigkeit, sich gewissermaßen täglich und immer wieder aufs Neue um die für den Bestand der Organisation notwendigen Ressourcen zu kümmern und es wurde sehr viel leichter möglich, aus den Erfahrungen anderer Organisationen zu lernen oder sich zu Allianzen zusammenzuschließen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen.
1.6 Die Einführung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (1915–1925)
Wie eben dargestellt, war die Organisation der Kinder- und Jugendhilfe bis zur Verabschiedung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (RJWG) 1922 noch relativ stark zersplittert: Öffentliche und private Fürsorge arbeiteten, von Ausnahmen abgesehen, noch immer mehrheitlich unkoordiniert nebeneinander, und wesentliche Teile der Jugendfürsorge blieben innerhalb der Regelungskompetenz der Länder. Erst mit der reichsweiten Durchsetzung des RJWG, das viele der bis dahin in unterschiedlichen Gesetzen geregelten Sachverhalte zusammenfasste, änderte sich dieser Zustand allmählich.
Während des Ersten Weltkriegs wurde immer offensichtlicher, dass durch die rechtliche wie organisatorische Zersplitterung der Jugendfürsorge eine rasche Bearbeitung der kriegsbedingten Folgeprobleme – insbesondere von Kindern und Jugendlichen – kaum möglich war. Der Krieg beschleunigte deshalb den Prozess der Systemintegration weiter:
»Der Krieg verschweißte die Fürsorge auf kommunaler Ebene zu einem einheitlichen Gesamtkomplex, in dem der Unterscheidung von öffentlich und privat nur noch formelle Bedeutung zukam. Die Übertragung gesetzlicher Aufgaben an private Organisationen brachte deutlich zum Ausdruck, dass die Kriegsfürsorge insgesamt eine öffentliche Aufgabe war. Folgerichtig änderte sich die Finanzierung der privaten Wohlfahrtspflege. Zwar hatte es kommunale Zuschüsse an private Wohlfahrtsorganisationen auch vor dem Kriege gegeben. Jetzt aber wurde der privaten Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch eine systematische öffentliche Subventionierung privater Organisationen Rechnung getragen. Auch insofern bildete die Kriegsfürsorge die spätere Entwicklung bereits vor« (Sachße/Tennstedt 1988, 60).
Deshalb wurde noch einige Wochen vor Ende des ersten Weltkriegs, im September 1918, vom Deutschen Jugendfürsorgetag in Berlin ein Gesetz zur reichsweiten Schaffung von Jugendämtern gefordert. Diese Ämter sollten mit entsprechenden Fachkräften besetzt sein und unabhängig von den Armenbehörden in Kooperation mit den auf dem Gebiet der Jugendfürsorge engagierten Organisationen und Verbänden die Durchführung von Jugendhilfemaßnahmen übernehmen. Doch mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches und den sich daran anschließenden Revolutionswirren kamen zunächst alle Reformbestrebungen zum Erliegen, so dass sich die an die Eröffnung der Nationalversammlung im Februar 1919 in Weimar geknüpften Hoffnungen auf eine Verabschiedung des geplanten Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) zunächst noch nicht erfüllten. Auch der im Juni 1920 erstmals gewählte Reichstag stellte die Beratungen zum RJWG aufgrund anhaltender politischer Unruhen, Reparationszahlungen und