Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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dass Fürsorge und Sozialdisziplinierung im 17. und 18. Jahrhundert immer stärker einen inklusionsvermittelnden Charakter annahmen: Ausgrenzung, bis dahin Selbstzweck, wird nun zu einem Mittel, das die Voraussetzungen für eine erneute Inklusion in den Sozialzusammenhang der Gesellschaft zu einem späteren Zeitpunkt schafft, indem der Ausgegrenzte sich bessern soll, während er ausgegrenzt ist.

      Europaweit scheitert die breite Durchsetzung einer allgemeinen Arbeitspflicht für Arme allerdings vor allem an dem vorhandenen Überangebot an verfügbarer Arbeitskraft, dem kein entsprechender Bedarf gegenüberstand. Mit dem Aufkeimen frühkapitalistischer Wirtschaftsformen und dem Entstehen einzelner Manufakturbetriebe am Ende des 16. Jahrhunderts änderte sich dies allmählich:

      Bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden in England, zur Behebung des Armutsproblems und zur Sicherung des einsetzenden Arbeitskräftebedarfs, bei gleichzeitigem Verbot des Bettelns vereinzelt Anstalten geschaffen, in denen umherziehende Arme unter Anwendung härtester Körperstrafen zur Arbeit gezwungen wurden. Nach und nach entwickelte sich in den damaligen Zentren des Kapitalismus – England, Frankreich und Holland – ein Anstaltstypus ganz neuer Art: das Zucht- oder Arbeitshaus (Scherpner 1979, 40 ff.).

      Auch in den alten Handelsstädten Hamburg, Bremen und Lübeck wurden bald Anstalten des ›neuen‹ Typs geschaffen. Diese waren, bedingt durch die engen Handelsverflechtungen mit den Niederlanden, vor allem an holländischen Vorbildern orientiert. Dort verlief die Entstehung der Zuchthäuser, anders als in Frankreich und England, teilweise unabhängig von der allgemeinen Armenfürsorge. Beeinflusst durch humanistische und reformatorische Glaubensvorstellungen sah der niederländische »Sonderweg« eine getrennte Behandlung jugendlicher Straftäter und verwahrloster Jugendlicher vor, die im »tuchthuis« durch strenge Zucht und schwere Arbeit moralisch gebessert und zu nützlichen Gliedern der Wirtschaftsgesellschaft erzogen werden sollten. Im Gegensatz zu Frankreich und England war Arbeitserziehung in den Niederlanden also vorwiegend an wirtschaftspolitischen und pädagogischen – nicht armenpolizeilichen und disziplinierenden – Überlegungen orientiert (ebd., 58 ff.). Insgesamt waren aber die Voraussetzungen im konfessionell wie politisch zersplitterten Deutschland für den ›neuen‹ Anstaltstyp eher ungünstig. Er setzte sich dort erst verspätet, mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, allmählich durch. Zu diesem Zeitpunkt war es vor allem der massive, kriegsbedingte Bevölkerungsrückgang und der notwendige ökonomische Neuaufbau, die das Interesse der Obrigkeit an der wirtschaftlichen Nutzung kindlicher Arbeitskraft anwachsen ließ. Dabei gingen häufig die Interessen einzelner Kapitalgeber Hand in Hand mit den Interessen der jeweiligen Landesherren an der Einführung und Entwicklung neuer Produktionszweige, während pädagogische Überlegungen in den Hintergrund traten.

      Neue Impulse erhielt die Anstaltserziehung in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg durch das Aufkommen des Pietismus. Der Pietismus, wurzelnd im lutherischen Protestantismus, betonte vor allem die persönliche Glaubensüberzeugung und Frömmigkeit sowie die Verantwortung des Einzelnen für sein Seelenheil. Dazu gehörte auch die aktive Befassung mit dem Wort Gottes. Auf diese Weise formulierte der Pietismus gleichzeitig die Programmatik für die grundlegende Bildung breiter Schichten, denn die individuelle Befassung mit der übersetzten Bibel erforderte Kenntnisse im Lesen und förderte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Arbeitsamkeit, Bescheidenheit, Ordnung und Pflichtgefühl. Die für die Kinder- und Jugendfürsorge wohl wichtigste Person des Pietismus war August Hermann Francke (1663–1727), der um 1695 damit begann, die späteren »Halleschen Anstalten« aufzubauen, in denen die Kinder, getreu seiner pietistischen Überzeugung, wonach erst Bildung den Zugang zu Gott ermögliche, auch eine Schulbildung erhielten, selbst wenn das vorrangige Ziel von Franckes Arbeit mit den Kindern das »Einpflanzen der wahren Gottseligkeit« war. Um einen Teil der Unterhaltskosten selbst bestreiten zu können, vor allem aber, um sie vor den »Verlockungen der Welt« zu schützen, sollten die Kinder in den Anstalten unter ständiger Aufsicht stehen und allzeit nützlich beschäftigt werden, um sie, früh an Arbeit gewöhnt, entsprechend ihren Neigungen und Fähigkeiten auf die Berufsarbeit vorzubereiten (Röper 1976, 107 ff.).

      Von zentraler Bedeutung für die Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe ist Francke aber weniger wegen seines pädagogischen Programms und der vielfach auf ihn zurückgehenden Armenschulen, sondern vielmehr deshalb, weil mit ihm ein völlig neuer Organisationstyp in die Geschichte der Kinder- und Jugendfürsorge eintritt: Lag bisher die Verantwortung für die Versorgung von Schutzbedürftigen bei den Städten, den Landesherren oder kirchlichen Einrichtungen, so bemüht sich mit Francke erstmals ein Einzelner, angetrieben von religiösen Motiven, um die Beseitigung sozialer Notstände und gründet dafür eine besondere Einrichtung, wobei die finanzielle Unterstützung von Gesinnungsfreunden den Bestand der Einrichtung sicherstellte (Scherpner 1979, 72 f.). Francke war also, wenn man einen Begriff von Howard S. Becker heranziehen will, der erste erfolgreiche »Moralunternehmer« (Moral Entrepreneur) auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendhilfe. Seine Einrichtung stand Pate für viele weitere, ähnlich geartete Institutionen. Das so entstandene Nebeneinander privater, überwiegend religiös motivierter Fürsorge und staatlicher bzw. kommunaler Fürsorge sollte bis in die Gegenwart hinein bestimmend bleiben für die deutsche Kinder- und Jugendhilfe.

      Allerdings blieben die »Halleschen Anstalten« eine – wenngleich in ihrer Modellwirkung nicht zu unterschätzende – Ausnahmeerscheinung im damaligen System der Fürsorge. Die überwiegende Mehrzahl der Waisenkinder war noch immer unter widrigsten Bedingungen in Einrichtungen untergebracht, deren vorrangiges Ziel die Ausbeutung und ökonomische Nutzung kindlicher Arbeitskraft war.

      Bekannt geworden ist die Beschreibung Christian Gotthilf Salzmanns, der in der 1783–1787 in Leipzig erschienenen Schrift Carl von Carlsberg oder über das menschliche Elend die Zustände in einem dieser Waisenhäuser wie folgt beschreibt:

      »Nie habe ich so anschauliches Gemälde vom menschlichen Elend gehabt, als in dieser Stube. Ein ganzes Heerdchen Kinder (…) Alle sahen sie bleich aus, wie die Leichen, hatten matte, viele triefende Augen, kein Zug von Munterkeit war an ihnen sichtbar, einige hatten verwachsene Füße, andere verwachsene Hände, und alle starrten vor Grätze, die alles Mark auszusaugen schien. Die Stube war schwarz vom Oeldampfe, und an den Wänden flossen die Ausdünstungen herab, die diese Elenden von sich gaben. (…) Und alle ihre Arbeit war Spinnen. Einige, besonders die Kleinen, sponnen sitzend, die anderen stehend.«

      Der mit der Aufklärung gegen Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende »Waisenhausstreit« (Röper 1976, 140 ff.; Sauer 1979, 25 ff.) richtete sich daher in erster Linie gegen die unhygienischen und gesundheitsgefährdenden Zustände in den Anstalten sowie die inhumane Behandlung der Kinder und die Profitgier der Anstaltsbetreiber. Kritisiert wurde auch das Übermaß an religiöser Erziehung, das nicht mehr den Forderungen eines aufgeklärten Christentums entsprach. Indes wurden keine prinzipiellen Einwände gegen eine Erziehung durch und zur Arbeit erhoben (Eilert 2012, 533 ff.). Im Gefolge dieser Auseinandersetzung kam es jedoch zur Auflösung eines Teils der bestehenden Waisenhäuser, deren Insassen anschließend meist in Familienpflege überführt wurden.

      Zwei Entwicklungen, die in dieser Zeit ihren Anfang nahmen, scheinen für die weitere Entwicklung der Anstaltserziehung folgenreich: erstens die weitere Ausdifferenzierung der Waisenhäuser, die bis dahin noch immer eine eher unspezifische Fürsorgeeinrichtung gewesen waren. So entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts »aus der Einsicht in die besonderen Erziehungsbedürfnisse bestimmter Gruppen von Kindern die ersten Sonderanstalten: die Blinden- und Taubstummenfürsorge findet von Frankreich ausgehend überall Nachahmung, die Anfänge von Idioten-(Kretinen-)Anstalten tauchen auf, denen später Krüppelanstalten und Epileptikeranstalten folgen. An die Stelle jenes einen Waisenhauses traten die verschiedensten Anstalten mit besonderen Aufgaben und eigenen Arbeitsformen« (Klumker 1931, 670). Erst durch die ›Auslagerung‹ von geistig- und körperbehinderten Kindern und Jugendlichen, für die nun eigene Spezialeinrichtungen geschaffen wurden, wurde für die verbleibenden Anstalten der Weg frei, sich nun sukzessive immer stärker Erziehungsaufgaben zu widmen. Die zweite folgenreiche Entwicklung, die sich mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi verbindet, mündete in die Forderung, Kindheit als eine