Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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Bundesrepublik weiterlebt: Immer wieder folgt die Praxis Eigengesetzlichkeiten, die Antworten auf lokale Erfordernisse oder das Ergebnis mikropolitischer Prozesse darstellen. Die Heterogenität des Staatswesens und der politischen Strukturen machten und machen Deutschland in der Kinder- und Jugendhilfe, wenn man es denn so nennen will, zu einem ›Innovationsinkubator‹ par excellence. Hingegen sind die Beispiele, bei denen sich belegen lässt, dass Gesetzesnovellen zu Innovationen geführt haben, äußerst rar gesät. Die Regel ist eine andere: Immer wieder schreitet die Praxis voran, während der Gesetzgeber diese Praxis hinterher zusammenfasst, systematisiert, vereinheitlicht und manchmal erst legalisiert. Kennzeichnend für die Entwicklung der deutschen Kinder- und Jugendhilfe ist daher, dass Strukturen i. d. R. schon bestanden, bevor sie formal, in kodifizierter Form als Gesetz, umfassenden Erwartungscharakter annahmen.

      In der mittelalterlichen Feudalgesellschaft erfolgte die Versorgung hilfsbedürftiger Kinder – vor allem der Waisen – noch überwiegend im Rahmen verwandtschaftlicher Bindungen. Eine Ausnahme bildeten lediglich diejenigen Kinder, deren Sippe oder Familie nicht zu ermitteln war, sog. »Findelkinder«, also verlassene, ausgesetzte oder verlorene Kinder mit unbekannter Abstammung. Wenn man diese Kinder nicht erbärmlich zugrunde gehen lassen wollte, was oft genug geschah, mussten sie durch das Gemeinwesen versorgt werden (Sauer 1979, 8). Ihre Versorgung erfolgte im Allgemeinen in der universellen Fürsorgeeinrichtung des Mittelalters: dem Hospital. Dort wurden Findelkinder, meist gemeinsam mit anderen hilfsbedürftigen Gruppen – z. B. alte Menschen, Kranke sowie körperlich und geistig Behinderte – abgesondert von der übrigen Bevölkerung untergebracht (Scherpner 1979, 18). Aus heutiger Sicht mag diese unspezifische organisatorische Wahrnehmung von Kindern im Kontext allgemeiner Hilfsbedürftigkeit überraschen, vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, in der Kindheit und Jugend als eigenständige Lebensphase praktisch unbekannt war (vgl. Ariès 1985), erscheint sie jedoch nur konsequent:

      »Sobald ein Kind sich allein fortbewegen und verständlich machen konnte, lebte es mit den Erwachsenen in einem informellen natürlichen ›Lehrlingsverhältnis‹, ob dies nun Welterkenntnis oder Religion, Sprache oder Sitte, Sexualität oder Handwerk betraf. Kinder trugen die gleichen Kleider, spielten die gleichen Spiele, verrichteten die gleichen Arbeiten, sahen und hörten die gleichen Dinge wie die Erwachsenen und hatten keine von ihnen getrennten Lebensbereiche« (von Hentig 1985, 10).

      Erst als das mittelalterlichen Spitalwesen anfing, sich allmählich organisatorisch auszudifferenzieren, und erst, als vor allem infolge epidemisch sich ausbreitender Krankheiten gesonderte Krankenanstalten geschaffen wurden, wurde auch die Kinderfürsorge zunehmend aus dem allgemeinen Spitalwesen ausgelagert.

      Die in dieser Zeit im Entstehen begriffenen »Findel- und Waisenhäuser« waren jedoch zunächst reine Versorgungseinrichtungen, in denen die Kinder i. d. R. so lange aufgezogen wurden, bis sie selbständig genug waren, um wie andere Arme Almosen zu erbetteln. Von einem eigentlichen Erziehungsauftrag, der unserem heutigen Verständnis von Erziehung gerecht würde, kann deshalb im Mittelalter keine Rede sein (Scherpner 1979, 26).

      Vielmehr wurde die Kinderfürsorge bis ins 17. und 18. Jahrhundert hinein primär im Kontext der Armenfrage – und damit primär unter Versorgungs- und Sanktionsaspekten – gesellschaftlich wahrgenommen und öffentlich bearbeitet. Dennoch ist diese erste organisatorische Differenzierung beachtenswert, weil sie dazu beitrug, Kinder und Jugendliche dauerhaft aus dem Bereich der allgemeinen Fürsorge herauszulösen und in speziell dafür geschaffenen Organisationen zu versorgen.

      Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit war politisch, ökonomisch und sozial durch tiefgreifende Umbrüche charakterisiert und mit erheblichen Auswirkungen auf das damalige Fürsorgewesen verbunden (Sauer 1979, 10). Die Auflösung der relativ statischen mittelalterlichen Ständeordnung, Katastrophen, Hungersnöte und Kriege sowie insbesondere die großen Pestepidemien, die ganz Europa in der Mitte des 14. Jahrhunderts heimsuchten, führten zur Herauslösung größerer Bevölkerungsteile aus tradierten Sozialbindungen und zu einem Anwachsen der Armut. Letzteres führte mittelfristig zu einer Überforderung des kirchlichen Almosen- und Spitalwesens in den Städten. Infolgedessen ging die Armenpflege nach und nach von kirchlichen Einrichtungen auf die Städte über, die allmählich die Aufsicht über die Gesamtheit aller die Stadt betreffenden Aufgaben, inklusive des Armenwesens, übernahmen (Amthor 2012, 53 ff.). Hatte das Betteln bzw. das Almosengeben in der katholisch geprägten Gesellschaftsordnung des Mittelalters noch eine klar umrissene Bedeutung für die jenseitigen Heilserwartungen der Reichen (Dort 2014), wurde es nun immer stärker als gesellschaftliche Bedrohung wahrgenommen, und die Städte gingen sukzessive zu einer restriktiveren Armenpolitik über, bei der das Betteln verboten oder stark eingeschränkt wurde. Ab dem Ende des 14. Jahrhunderts wurden in den hierzu erlassenen Bettelordnungen erstmals Kriterien entwickelt, um die tatsächlich Bedürftigen von den (vermeintlichen) Simulanten und (potenziell) arbeitsfähigen Armen, die zur Arbeit gezwungen werden konnten, zu unterscheiden. Bettelabzeichen, die offen zu tragen waren, dienten gleichfalls der Unterscheidung zwischen ortsansässigen und nicht ortsansässigen Bettlern (Schilling/Klus 2015, 26 f.), also der Unterscheidung zwischen legitimen und nicht legitimen Ansprüchen.

      Im Gefolge religiöser Umbrüche im Zuge der Reformation und einem Erstarken humanistischer Ideen kam es praktisch zeitgleich mit der Reform des Armenwesens zu einer stetigen »Aufwertung« der Berufsarbeit. Selbst wenn der Einfluss dieser neuen Ideen auf das Fürsorgewesen nicht genau zu bemessen ist, so lag die Leistung der Reformation zuvorderst darin, »dass im Kontrast gegen die katholische Auffassung der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, beruflich geordnete Arbeit mächtig schwoll« (Weber 1988, 74). Als Folge dieses weitreichenden gesellschaftlichen Einstellungswandels setzte sich nun auch in der Fürsorge zunehmend der Gedanke einer Arbeitspflicht für Arme durch (Scherpner 1979, 27 ff.), und bereits die zweite Nürnberger Bettelordnung von 1478 enthielt die Forderung, Kinder nicht mehr nur aufzuziehen, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern sie dazu zu befähigen, »sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten« (Schilling/Klus 2015, 26). Dazu wurden ihnen von der Stadt Arbeitsplätze vermittelt.

      Umfassend theoretisch ausgearbeitet wurde diese Position durch den spanischen Humanisten Juan Luis Vives, der in seiner 1526 erschienenen Schrift De subventione pauperum entschieden den Gedanken einer systematischen Arbeitserziehung formulierte:

      »Der einzige Weg ist die planmäßige erziehende Bemühung um den einzelnen Armen. Mit der Unterstützung und durch die Unterstützung soll der Arme erzogen und, wenn er arbeitsfähig ist, zur Arbeit erzogen werden. Der innere Kern allen fürsorgerischen Handelns ist die Erziehung zur Arbeit« (Scherpner 1979, 28).

      Begreiflicherweise musste eine so verstandene Fürsorge, wenn sie Erfolg haben wollte, vor allem bei den Kindern einsetzen. Vives forderte daher, die Erziehung der Findel- und Waisenkinder, zusammen mit den Kindern der Armen, dem Gemeinwesen zu unterstellen, das diese Kinder in einer öffentlichen, internatsähnlichen Schule unterrichten sollte (Schmidt 2014, 81 ff.). Selbst wenn es zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Findel- und Waisenhäusern gab, die darum bemüht waren, zumindest den Jungen eine Bildung und Ausbildung zu verschaffen, blieb die allgemeine Praxis der Armenkinder-Erziehung jedoch weit hinter diesen programmatischen Ansprüchen zurück (Röper 1976, 102).

      Interessant ist die Reform der städtischen Armenfürsorge im 15. und beginnenden 16. Jahrhundert aber noch aus einem anderen Grund: Sie beendete nämlich die Phase der bloßen Ausgrenzung und leitete, wie Sachße/Tennstedt (1980, 38) zusammenfassend feststellen, »den Prozess der ›Sozialdisziplinierung‹ der untersten Bevölkerungsschichten der spätmittelalterlichen Gesellschaft, ihre Erziehung zu Arbeitsdisziplin, Fleiß, Ordnung und Gehorsam« ein. Mit diesen frühen Ansätzen zur Disziplinierung der Armenbevölkerung durch Erziehung wird ein neues Muster in der organisierten Bearbeitung sozialer Probleme erkennbar: Bedeutete »Fürsorge« bis dahin zumeist die dauerhafte räumliche