Wicherns zentrale Bedeutung für die Kinder- und Jugendhilfe rührt jedoch vor allem aus seiner tragenden Rolle beim freiwilligen Zusammenschluss aller evangelischen Einrichtungen zum »Centralausschuß für die Innere Mission der Evangelischen Kirchen« auf dem Kirchentag in Wittenberg (1848), einer Vorläuferorganisation der heutigen »Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband«. Über die damaligen Landesgrenzen hinweg entstand nun die Möglichkeit, die Aktivitäten der vielfältig zersplitterten Einrichtungen und Vereine durch Zusammenarbeit und Erfahrungsaustausch zu bündeln, überörtlich zu planen, neue Notstände aufzudecken und für spezifische Gruppen von Kindern differenzierte fürsorgerische Angebote zu schaffen (Scherpner 1979, 148 ff.). Zwar waren auf katholischer Seite im 19. Jahrhundert ähnliche Bestrebungen zu beobachten, bis zu einem Zusammenschluss der katholischen Einrichtungen im Jahr 1897, vergleichbar dem der evangelischen, sollte allerdings noch rund ein halbes Jahrhundert vergehen (Buck 1991, 143). Mit dem Zusammenschluss der kirchlichen Träger ging natürlich auch eine Stärkung des kirchlichen Einflusses in der Fürsorge einher.
Gleichzeitig bemühten sich die kirchlichen Einrichtungen erkennbar um Distanz zum Staat, indem sie z. B. aus Gründen der Autonomiewahrung gegenüber dem Staat Kinder und Jugendliche nur mit Zustimmung der Erziehungsberechtigten aufnahmen. Ungeachtet dessen entwickelten sich einige dieser kirchlichen Einrichtungen – finanziert durch Spenden und Beiträge der Eltern – zu großen Anstaltskomplexen, in denen oftmals mehrere hundert Kinder versorgt und erzogen wurden. Delinquente Kinder und Jugendliche blieben allerdings von dieser Form privater Fürsorge ausgeschlossen. Das Disziplinierungs- und Sanktionsinstrumentarium in Form von Armen- und Besserungsanstalten oder Gefängnissen, das gegenüber straffällig gewordenen Kindern und Jugendlichen zum Einsatz kam, blieb vorerst noch unverändert in den Händen der staatlichen Obrigkeit. Allerdings wäre den staatlichen Organen, die sich mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wieder stärker in der Kinder- und Jugendfürsorge engagierten, kaum möglich gewesen, eine per Gesetz eingeführte Zwangserziehung durchzusetzen, wenn nicht die privaten Anstalten schließlich ihren Widerstand aufgegeben hätten, im staatlichen Auftrag erzieherisch zu handeln (Scherpner 1979, 155).
Parallel zu den Entwicklungen in der Heimerziehung erfolgten in dieser Phase der »Protoindustrialisierung« und der durch sie erzeugten gesellschaftlichen Wandlungen auch erste Vorstöße zu einer Organisation der öffentlichen Kleinkinderziehung (Erning/Neumann/Reyer 1987; Hering/Schröer 2008). Dabei spielten verschiedene Gründe zusammen: Neben dem Erhalt der Arbeitsfähigkeit der Armen, indem man arme Familien von der Kinderbeaufsichtigung versuchte zu entlasten, um insbesondere den Müttern die Aufnahme einer Erwerbsarbeit zu ermöglichen und Unfälle bei unbeaufsichtigten Kindern zu vermindern, spielte dabei die Angst vor möglichen Aufständen bzw. die Erziehung der Kinder zur Selbstgenügsamkeit und zur Vorbereitung auf ihren späteren Stand als erwerbstätige Arme ebenso eine Rolle wie die Erziehungsvorstellungen eines aufgeklärt-philanthropischen Bürgertums, das Kindern zunehmend altersspezifische Entwicklungs- und Bildungsbedürfnisse zubilligte. Typisierend lassen sich diese Ansätze öffentlicher Kleinkinderziehung mit den Begriffen »Bewahranstalt«, »Kleinkinderschule« und »Kindergarten« zusammenfassen, die mit den Namen Johann Georg Wirth, Theodor Fliedner und Friedrich Fröbel als deren zentrale Promotoren verbunden sind (Erning/Neumann/Reyer 1987, 29 ff.).
1.5 Das System der Kinder- und Jugendhilfe formiert sich (1870–1915)
Obwohl es bereits während des 19. Jahrhunderts in einigen Staaten des deutschen Bundes Ansätze gab, die Situation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern (z. B. Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht, Einschränkung der Kinderarbeit, Verbesserung der Situation der Pflegekinder, Sonderbestimmungen für jugendliche Straftäter), setzte ein eigentlicher Umschwung in der Frage der Kinder- und Jugendhilfe erst nach 1871 und der Gründung des Deutschen Reiches ein. Industrialisierung, Verstädterung, Binnenwanderungen enormen Ausmaßes, die bedrohliche Zusammenballung der Armut in den Arbeiter- und Elendsvierteln der Städte und vor allem der sich immer mehr verschärfende Interessengegensatz zwischen Unternehmern und organisierter Arbeiterschaft zwangen den Staat gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend, seine liberale Grundhaltung aufzugeben und Sozialreformen einzuleiten (Sachße 1986, 18 ff.). Mit der Anerkennung seiner grundsätzlichen Verantwortlichkeit für die Ordnung der sozialen Verhältnisse erschien nun auch die allgemeine Fürsorge sukzessive in einem neuen Licht:
»Zivilisierung der Unterschichten im allgemeinen, Kanalisierung des bedrohlichen Massenpotentials der ›gefährlichen Klassen‹, Ersetzung der mangelhaften privaten Wohltätigkeit durch effektivere Staatshilfe, Tendenzen zur generellen Ausdehnung der pädagogischen Provinz und der fortschrittsoptimistische Glaube an die Evolution der modernen Humanwissenschaften zu praktisch durchgreifenden Instrumenten der Abschaffung von Krankheit, Elend und Kriminalität: Solche Strategien und Zielvorgaben standen im Hintergrund der neuen sozialpädagogischen Initiativen« (Peukert/Münchmeier 1990, 6 f.).
Parallel dazu vollzog sich in der Pädagogik »eine dramatische Richtungsänderung der Gedankenentwicklung (…), ein neues Bild vom Kinde, von den Zielen und den Mitteln der Erziehung und des Unterrichts setzt sich immer mehr durch« (Plake 1991, 9).
Dieser von Plake diagnostizierte »Paradigmenwechsel in der Erziehungstheorie« und die Renaissance reformpädagogischer Leitideen führten zusammen mit dem sich wandelnden Staatsverständnis dazu, dass Kinder- und Jugendhilfe nun immer mehr als öffentliche Aufgabe begriffen wurde. Die Kinder- und Jugendhilfe trat damit sukzessive in eine neue Phase ein, in deren Verlauf sie sich zum einen von der staatlichen Armenfürsorge endgültig ablöste und zum anderen immer stärker gegen den konkurrierenden Erziehungs- oder Sozialisationsanspruch der Familie als primäre Sozialisationsinstanz durchsetzte.
1.5.1 Das Wiedererstarken öffentlicher Fürsorge
Als Ausdruck dieses relativ günstigen »reformerischen Milieus« lassen sich in den Jahrzehnten nach der Reichsgründung eine ganze Reihe folgenreicher Entwicklungen, zunächst vor allem im rechtlichen Bereich, beobachten: Seit der Novelle zum Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1876, wonach strafunmündige Kinder unter zwölf Jahren nach Maßgabe landesrechtlicher Vorschriften in einer Erziehungs- oder Besserungsanstalt untergebracht werden konnten, war es grundsätzlich möglich, statt einer Gefängnisstrafe Zwangserziehung für Kinder und Jugendliche zu verhängen. In der Folge ergingen dann in zahlreichen deutschen Staaten Ausführungsgesetze, wie z. B. das preußische Zwangserziehungsgesetz von 1878. Dieses Gesetz war für die Entwicklung der Fürsorgeerziehung (FE) insofern von Bedeutung, als es in Form der Provinzialverbände erstmals spezifische Erziehungsbehörden vorsah, die FE ausdrücklich außerhalb der Armenfürsorge ansiedelte und die strafrechtliche Beurteilung strafunmündiger Kinder zumindest teilweise aus dem allgemeinen Strafrecht auslagerte (Sachße 1986, 72).
Eine zweite wesentliche Neuerung war die Einführung der Berufsvormundschaft (nach Art. 136 EG.BGB). Vor allem infolge der rasch voranschreitenden Industrialisierung, zogen immer mehr junge Frauen aus ländlichen Gebieten in die damaligen industriellen Zentren. Ein Anstieg der nichtehelichen Geburten dort war die Folge. Da sich die Mütter häufig zur Sicherung des eigenen Überlebens als Dienstmädchen oder Arbeiterinnen verdingen mussten, wurden die Kinder vielfach in Pflege gegeben (Scherpner 1976, 169). Als Folge davon stieg die Säuglingssterblichkeit bei nichtehelichen Kindern rasch an, denn die Bedingungen in den Pflegestätten waren häufig erbärmlich. Um 1900 betrug sie in Teilen der städtischen Agglomerationen Berlins und des Ruhrgebiets zwischen 40 % und 80 % (Spann 1912, 27). Nicht zuletzt waren diese hohen Sterblichkeitsraten eine Folge der damaligen Praxis im Vormundschaftswesen, die sich stark auf das Ehrenamt stützte: Da viele der zugezogenen Frauen über keine verwandtschaftlichen Bindungen in der Stadt verfügten, auf die man bei der Wahl des Vormunds hätte zurückgreifen können, war es bei nichtehelichen Geburten üblich, dass die Gemeindewaisenräte willkürlich Namen aus Adressbüchern auswählten und diese Männer den Vormundschaftsrichtern vorschlugen. Diese oftmals nur widerwillig ihren Bürgerpflichten nachkommenden Personen wurden dann zu Vormündern bestellt, um das Aufwachsen der Kinder zu beaufsichtigen (ebd., 13). Da ein persönliches Interesse an Mutter und Kind meist nicht gegeben war, beschränkten sich die so Ausgewählten oftmals nur auf die gesetzliche Vertretung, ohne eine angemessene Betreuung