Am 19. März 1921 wurde diese Vorlage erstmalig beraten und sogleich an einen neu zu bildenden Ausschuss zur erneuten Überarbeitung delegiert. Nach einer grundlegenden Überarbeitung, bei der der Ausschuss vier Fünftel aller Paragraphen strich oder veränderte, wurde das neue Gesetz schließlich nach der dritten Lesung am 14. Juni 1922 endgültig verabschiedet (Hasenclever 1978, 48 ff.).
Hatte auf dem Jugendfürsorgetag (1918) zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Kräften auf der einen sowie konfessionellen und unabhängigen auf der anderen Seite noch relative Einigkeit darüber bestanden, die Jugendhilfe neu zu organisieren und gesonderte Jugendämter zu schaffen, zeigten sich bei den Beratungen zum neuen RJWG bereits tiefe Risse in diesem Bündnis: Der gewachsene politische Einfluss von linksdemokratischen und kommunistischen Parteien nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches im November 1918 sowie die Übernahme der politischen Führung durch die Sozialdemokratie stärkten in der ersten Phase der Weimarer Republik Tendenzen, Funktion und Aufgaben privater Fürsorge radikaler als bisher in Frage zu stellen und die Soziale Arbeit konsequent zu verstaatlichen sowie bestehende Fürsorgeeinrichtungen in staatliche bzw. kommunale Trägerschaft zu überführen. Diese Angriffe gegen die Vormachtstellung der privaten, hauptsächlich konfessionellen Verbände, die zudem mit erheblichen internen Schwierigkeiten durch Geldmangel, organisatorische Zersplitterung und nachlassendem Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu kämpfen hatten, mussten dort erhebliche Widerstände erzeugen. Sie reagierten deshalb auf diese Existenzbedrohung – vor allem durch Kommunalisierung und Entkonfessionalisierung – mit der Forderung nach staatlichem Schutz und öffentlicher Subventionierung ihrer Arbeit.
Um ihren Einfluss auf die staatliche Politik zu stärken, reorganisierten und zentralisierten die Verbände ihre Struktur. Bereits 1921 schlossen sich u. a. die Innere Mission, der Deutsche Caritasverband und der Deutsche Verein zur »Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege« zusammen, mit dem Ziel, »praktische wirtschaftliche Fragen [zu] lösen und geeignete Propagandamaßnahmen für die freie Wohlfahrtspflege [zu] ergreifen« (Hammerschmidt 1999, 95). 1925 entstand daraus die »Deutsche Liga der freien Wohlfahrtspflege«. So organisatorisch gestärkt und ausgestattet mit zahlreichen ›Querverbindungen‹ in Politik und Wirtschaft, insbesondere zur Zentrumspartei, waren die freien Verbände nicht nur in der Lage, alle Versuche einer Kommunalisierung der Jugendfürsorge zu verhindern, sondern auch die Beibehaltung einer Doppelstruktur von freier und öffentlicher Wohlfahrtspflege und sogar eine Vorrangstellung der privaten Kinder- und Jugendhilfe bei den rechtlichen Beratungen zum RJWG durchzusetzen.
»In dem hierdurch ausgelösten so genannten Subsidiaritätsstreit, in dem es um die Frage des Vorrangs privater Hilfsangebote vor staatlichen Initiativen geht, setzten sich die Wohlfahrtsverbände durch: Wenn freie Träger (mit Hilfe der staatlichen Finanzzuschüsse) ausreichende Maßnahmen auf einem bestimmten Fürsorgegebiet anbieten, soll der Staat von eigenen Angeboten absehen« (Hering/Münchmeier 2014, 143).
Da jedoch keine der beiden Gruppen – d. h. weder kommunistische/sozialdemokratische noch konfessionelle Kräfte – in der Lage war, eigene Vorstellungen bedingungslos durchzusetzen, stellte schließlich die Verabschiedung des RJWG im Jahr 1922 einen Kompromiss dar.
Trotz seines in sich selbst oftmals widersprüchlichen Charakters war das RJWG ein Meilenstein in der Geschichte der Kinder- und Jugendhilfe, denn es regelte und vereinheitlichte reichsweit drei bis dahin ungeklärte zentrale Streitpunkte (Jordan 1987, 24 ff.): Erstens das Verhältnis von Jugendpflege und Jugendfürsorge und die Zusammenfassung aller behördlichen Maßnahmen für Kinder und Jugendliche unter dem Oberbegriff Jugendhilfe (§ 2 RJWG). Zweitens das Verhältnis von öffentlicher und freier Jugendhilfe durch die weitreichende Beteiligung der privaten Jugendfürsorge an den Entscheidungen des Jugendamts im Sinne einer Kollegialverfassung, die den lokalen freien Verbänden zwei Fünftel der stimmberechtigen Mitglieder garantierte (§ 9 RJWG), sowie die Festschreibung eines tendenziellen Nachrangs öffentlicher Jugendhilfe (§ 6 RJWG). Drittens schließlich die Frage des organisatorischen Aufbaus der Jugendhilfe durch die Schaffung einer verbindlichen, gestaffelten Organisationsstruktur, d. h. die Konzentration der örtlichen Jugendhilfe im Jugendamt der Stadt oder des Kreises (§§ 3 ff. RJWG). Zu dessen Aufgaben gehörte u. a. auch die »Wohlfahrt der Kleinkinder« (§ 4 Abs. 4 RJWG), die vorrangig durch die freien Wohlfahrtsverbände sichergestellt werden sollte. Mit der Zuordnung der Kleinkinderziehung zur Jugendhilfe und nicht etwa zur Schulorganisation, wurde nicht nur die Idee einer allgemeinen Vorschulpflicht endgültig ad acta gelegt, sondern auch die bis dahin gewachsene Struktur der öffentlichen Kleinkindererziehung und die starke Stellung der christlichen Verbände festgeschrieben. Weiter sollten Landesjugendämter (§§ 12 ff. RJWG) und ein Reichsjugendamt (§§ 15 ff. RJWG) entstehen, die den Auf- und Ausbau der kommunalen Jugendämter unterstützen und überwachen sollten. Dabei sollten in den Landesjugendämtern alle Aktivitäten koordiniert und überwacht werden, »die sich auf die Fürsorge für gefährdete und verwahrloste Minderjährige beziehen« (§ 13 Abs. 5 RJWG).
Durch das RJWG wurde also zum einen die zentrale Stellung des Jugendamts, das mit Fachleuten besetzt und von der Wohlfahrtsbehörde unabhängig sein sollte, verbindlich festgeschrieben, zum anderen trugen Kollegialverfassung und Subsidiaritätsgrundsatz der bedeutenden, historisch gewachsenen Rolle der freien Verbände Rechnung. »Diese Mischform zwischen professionell ausgestatteter Behörde und Repräsentativorgan barg die Gefahr mangelnder Effektivität einerseits, sie bot andererseits aber auch ein Dach für die Zusammenführung der entstehungsgeschichtlich völlig heterogenen sozialpädagogischen Aktivitäten« (Peukert/Münchmeier 1990, 10).
Insgesamt gilt es jedoch festzuhalten, dass das am 14. Juni 1922 im Reichstag verabschiedete RJWG »kein eigentliches Leistungsgesetz, sondern ein Organisationsgesetz [war, d. Verf.], in das verschiedene Leistungen eingestreut waren. Eigentlich war das RJWG ein Jugendamtsgesetz« (Peukert 1986, 137). Sofern es jedoch die ohnehin eher schwach ausgeprägte Leistungsseite des Gesetzes betraf, blieb diese auch nach dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. April 1924 weitgehend Makulatur. Zwischen der Verabschiedung und dem Inkrafttreten des Gesetzes hatte sich die politische und ökonomische Situation im Deutschen Reich weiter verschärft: Unter dem Eindruck der allgemeinen Geldentwertung kamen bald Zweifel an der Umsetzbarkeit des Gesetzes auf. Allen voran die Städte erhoben nun starke Bedenken gegen die zusätzlichen Belastungen, die ihnen mit dem Gesetz aufgebürdet würden, und so war zunächst fraglich, ob das Gesetz überhaupt in Kraft treten könne bzw. solle. Schließlich einigten sich im Dezember 1923 die Vertreter von Reich, Ländern, Gemeinden und der freien Wohlfahrtspflege anlässlich eines Treffens in Berlin, das auf Initiative des Deutschen Vereins durchgeführt wurde, darauf, das Gesetz zwar rechtzeitig in Kraft treten zu lassen, es aber für eine Übergangsphase von drei Jahren mit erheblichen Einschränkungen zu versehen. Insbesondere bei der Durchführung der Pflichtaufgaben nach § 4 RJWG (Förderung von Maßnahmen und ggf. Schaffung von Einrichtungen für die Beratung von Jugendlichen, für Mütter im Mutterschutz, für die Betreuung von Säuglingen und Kleinkindern sowie dem weiteren Bereich der Jugendpflege) wurden dabei erhebliche Abstriche gemacht. Diese Empfehlung wurde kurze Zeit später durch die »Verordnung über das Inkrafttreten des RJWG« nochmals eingeschränkt. Dabei wurden vor allem die zeitlichen Bindungen weiter gelockert, um das Kostenaufkommen für die Kommunen möglichst gering zu halten. Obwohl deshalb nach dem Inkrafttreten des RJWG in den meisten Städten und Landkreisen Jugendämter entstanden waren, setzte nur eine kleine Minderheit die Bestimmungen des RJWG auch tatsächlich um (Hasenclever 1978, 59 ff.).
1.7 Kinder- und Jugendhilfe im Nationalsozialismus (1933–1945)
Ungeachtet aller Unzulänglichkeiten, die mit der Einführung des RJWG verbunden waren, stellte das Gesetz eine juristische Rahmung dar, die die organisatorische Struktur des Feldes sowie grundlegende Formen der Verantwortlichkeit und Zusammenarbeit bis zur Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) im Jahr 1990/91 festschrieb. Die Jahre zwischen der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs bildeten davon keine Ausnahme: Nachdem ein 1934 vom »Reichszusammenschluss der freien Wohlfahrtspflege« vorgelegter Entwurf für ein neues Reichsjugendgesetz gescheitert war, fanden die z. T. erheblichen Veränderungen der Praxis im Nationalsozialismus überwiegend unterhalb der Gesetzesebene statt. Formell wurde lediglich die Kollegialverfassung