Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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rentablen Produktionsbetrieben, in spezifischer Weise überformte. Sichtbar wurde dieser Wandel an der allgemeinen Verbesserung der Lebensverhältnisse in den noch bestehenden Waisenhäusern: Man bemühte sich z. B. nicht nur um eine Verbesserung der hygienischen Verhältnisse und der Verpflegung, sondern versuchte auch die Kinderarbeit zu reduzieren und stattdessen den Schulunterricht auszuweiten und zu modernisieren.

      »Bei Neubauten machte man sich jetzt Gedanken über einen pädagogisch geeigneten Standort und sorgte für Gärten und Spielplätze. Insbesondere aber versuchte man, die Vorteile der Familienerziehung mit denen der Anstaltserziehung zu verbinden und sprach sich für kleine Gruppen aus, die in voneinander getrennten Häusern oder doch in abgetrennten Abteilungen wohnen sollten, so dass die Kinder zu ihrem Hauselternpaar (eine ganz neue Vorstellung!) besser ein persönliches Verhältnis gewinnen könnten« (Sauer 1979, 32).

      Parallel dazu entwickelte sich allmählich das allgemeine Schulwesen, das nun auch für Kinder aus den sozialen Unterschichten zunehmend die gesellschaftlich notwendigen Integrationsaufgaben übernahm.

      In diesem Kontext muss auch die Hamburger Armenreform aus dem Jahr 1788 gesehen werden, die dort zu einer vollständigen Neuorganisation der städtischen Armenfürsorge führte (Scherpner 1979, 99 ff.): Durch ein feinmaschiges Netz städtischer Armenüberwachung wurden nicht nur unmittelbar hilfsbedürftige Kinder erfasst, sondern alle armen Kinder, um so vorbeugend auf deren Erziehung einzuwirken. Durch eine planvolle schulische Erziehung und das Erlernen handwerklicher Fertigkeiten sollten diese Kinder auf ihren Stand, den der »arbeitenden Armen«, vorbereitet werden (ebd., 100). Im Kern der Hamburger Armenkindfürsorge stand folglich ein umfassendes Armenschulsystem, das Arbeitsausbildung, Erwerbsarbeit und Lehrschule miteinander verband. Die Hamburger Armenreform ging damit weit über Reformen hinaus, die zur selben Zeit an anderen Orten Europas stattfanden, was vermutlich ihre Vorbildfunktion auch außerhalb von Deutschland erklärt:

      »Man machte hier den ersten Versuch, die Kinder- und Jugendfürsorge aus der Armenpflege herauszulösen und als ein eigenes Gebiet gesellschaftlicher Hilfeleistungen zu erkennen und zu organisieren. Die Armenkinder waren (…), soweit sie in die Schule gingen, im Wesentlichen von der Schule erfasst und erzogen worden. Daneben aber stand von Anfang an die häusliche Beaufsichtigung aller von der Armenpflege versorgten Kinder durch die Armenpfleger in den einzelnen Armenquartieren« (ebd., 110).

      Die Hamburger Reform ist also in zweifacher Hinsicht bemerkenswert: Zum einen nahm sie in Ansätzen bereits vorweg, die mehr als 130 Jahre später reichsweit durchgesetzt werden sollten – die kommunale Organisation der Kinder- und Jugendhilfe. Zum anderen wurde hier erstmals in Deutschland ein präventiver Ansatz – Kinderfürsorge als vorbeugende Armenpflege – verfolgt und notfalls auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt, indem der Armenpfleger die Kinder aus den Familien nehmen konnte. Im Grunde finden sich hier also bereits die ersten Vorläufer der späteren Jugendämter.

      In der Kinder- und Jugendfürsorge zeichnen sich damit weit früher als in anderen Bereichen des organisierten Umgangs mit sozialen Problemen erste Umrisse einer »Pädagogisierung« ab. Mit Richard Münchmeier (1981, 9 f.) kann »Pädagogisierung« hier verstanden werden, als »die ›Umdefinition‹ sozialer und sozial verursachter Probleme in solche individuell zu konstatierende Defizite von Moral, Lernen und Erziehung. In dieser individualisierenden Deutung sowohl der Erscheinungsformen wie der Ursachen sozialer Not ergibt sich eine – politisch ungemein relevante – veränderte Lokalisierung der Probleme von Armut, Desintegration und Devianz: im Rückgang von der äußeren Not auf den ›inneren Menschen‹ wird das innere Leiden an der Armut zur ›eigentlichen‹ Not und die Bearbeitung des inneren Leidens an der äußeren Not zur genuinen Aufgabe einer sich pädagogisch verstehenden Fürsorge.« Erst diese »Pädagogisierung« der Kinder- und Jugendfürsorge öffnete den Blick auf Normalisierungsarbeit im engeren Sinne und wurde zu einem generativen Kern, um den herum sich das Selbstverständnis der Jugendhilfe bis in die jüngste Zeit kristallisiert.

      Das Ende der napoleonischen Kriege bedeutete für die Entwicklung der Kinder- und Jugendfürsorge einen tiefgreifenden Einschnitt. Nicht nur wurden durch den Krieg, wie in Hamburg, viele ehemals pädagogisch genutzte Einrichtungen in Mitleidenschaft gezogen oder einer anderweitigen Verwendung zugeführt, sondern der völlige Zusammenbruch der Wirtschaft zog zugleich eine allgemeine Verarmung nach sich und brachte viele Städte an den Rand des finanziellen Ruins. Zeitgleich führten das Erstarken der Restauration und die daran geknüpften anti-aufklärerischen Tendenzen zu einer gesellschaftlichen Neubewertung der Armenfrage, die auch die Kinder- und Jugendfürsorge einschloss (Scherpner 1979, 117 f.). Gemäß der damals allgemein vorherrschenden Auffassung, die stark durch den englischen Nationalökonomen Thomas Robert Malthus beeinflusst war, galten nun staatliche Eingriffe zugunsten einer Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen als im höchsten Maße verfehlt.

      Malthus hatte in seinem damals viel beachteten Essay on the Principle of Population (1798) die Theorie entwickelt, wonach die Bevölkerung sehr viel schneller wachse als die für ihre Ernährung notwendigen Subsistenzmittel. Die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung hätte damit zwangsläufig die Not der anderen zur Folge gehabt. Malthus war deshalb ein entschiedener Gegner jeder geordneten öffentlichen Armenpflege, denn jede öffentliche Fürsorge, die aus dem Steueraufkommen die Mittel zum Unterhalt der Armen entnahm, musste sie zu früher Eheschließung anreizen und so die Geburtenzahl erhöhen. Nur moralische Enthaltsamkeit konnte seines Erachtens das Los der Armen verbessern; eine Forderung, die sich im Laufe der Diskussion um die malthusischen Lehren so sehr in den Vordergrund schob, dass schließlich Not und Elend der untersten Bevölkerungsschichten als deren selbstverschuldetes Los erschien. Dabei korrespondierten die malthusischen Überlegungen mit dem individualistischen Geist des deutschen Frühliberalismus, nach dessen Staatsverständnis die Obrigkeit ausschließlich die Interessen der Gesamtheit der Bevölkerung zu schützen habe, es fehle ihr aber jedes Recht, in das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben oder in das von Familien einzugreifen.

      In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es deshalb zu einem fast vollständigen Rückzug staatlicher und kommunaler Organe aus dem Bereich der öffentlichen Fürsorge: Allenfalls ein regelmäßiger Schulbesuch sollte gewährleistet bleiben, darüber hinaus beschränkten sich das Handeln von Staat und Kommunen auf die Durchführung polizeistaatlicher Maßnahmen, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und das Betreiben von Gefängnissen und Besserungsanstalten.

      Die Armen – ebenso wie ihre Kinder – waren damit unmittelbar den Bedingungen des einsetzenden Industriezeitalters ausgesetzt und auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen: Die Verelendung und Verwahrlosung der unteren Bevölkerungsschichten, von der besonders die Kinder betroffen waren, nahm deshalb bald dramatische Ausmaße an (Scherpner 1979, 117 ff.). Parallel zum Rückzug des Staates kam es im Bereich der Kinder- und Jugendfürsorge zu einer Zunahme privater, überwiegend religiös geprägter Hilfsorganisationen und zu zahlreichen Neugründungen von Erziehungsanstalten und Fürsorgeeinrichtungen. Im Zentrum ihrer erzieherischen Arbeit stand die »Seelenrettung« von »leidenden, entwurzelten und unerzogenen Kindern« (Sauer 1979, 39).

      Von zentraler Bedeutung für die gesamte »Rettungshausbewegung« war Johann Heinrich Wichern, der 1833 das »Rauhe Haus« in Horn bei Hamburg gründete und später, 1848, eine zentrale Rolle beim Zusammenschluss der protestantischen Hilfsorganisationen zum »Centralausschuß für die Innere Mission der evangelischen Kirche« spielte. Wichern sah, wie die meisten Vertreter der Rettungshausbewegung, die vorrangigen Ursachen der herrschenden sozialen Misere in der unkontrollierten Ausweitung gesellschaftlicher Freizügigkeit. Sein pädagogischer Ansatz war deshalb an romantisch verklärten Vorstellungen einer ständisch-patriarchalen, letztlich vorindustriellen Gesellschaft ausgerichtet, zu der er hoffte, durch traditionale Gemeinschaftsbindung zurückzukehren. Während der praktischen Umsetzung im »Rauhen Haus« kamen allerdings auch neue pädagogische Ansätze zum Tragen: So beispielsweise der familienähnliche Charakter der Erziehung in der Einrichtung (bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Geschlechtertrennung), die Verteilung der Verantwortung (Anfänge von Mitverwaltung), die Verbindung von theoretischer Ausbildung und Werkbildung oder die