Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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      Das erste Kapitel hat die geschichtlichen Entwicklungslinien nachvollziehbar gemacht, vor denen sich die heutige Kinder- und Jugendhilfe herausgebildet hat. Daraus ergeben sich Fragen nach den konzeptionellen normativen und fachlichen Grundlagen der heutigen Kinder- und Jugendhilfe: Wie lässt sich das Selbstverständnis der Kinder- und Jugendhilfe charakterisieren? An welchen konzeptionellen Leitbegriffen orientieren sich die Akteure und welche Leitbegriffe werden als Klammer für handlungsfeldbezogene Konzepte zugrunde gelegt. Existiert ein konzeptioneller, von den Akteuren weitgehend akzeptierter Rahmen, der die Unterschiedlichkeit der Arbeitsfelder und Methoden in zumindest lockerer Form miteinander verbindet und so etwas wie eine gemeinsame Verständigung über das Rahmenprofil der Kinder- und Jugendhilfe ermöglicht? Anregungen für die Erörterung solcher Fragen sollen in diesem zweiten Kapitel skizziert werden.

      In einem ersten Block (

Kap. 2.1) werden zunächst die Ziele und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe skizziert, wie sie sich aktuell als Ergebnis der Entwicklung hin zum SGB VIII darstellen. Dabei kann es sich nur um eine Momentaufnahme handeln, da die Jugendhilfe, wie in Kapitel 1 gezeigt, steten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterliegt und sie auch in der Gegenwart viele auf sie zukommende Herausforderungen bewältigen muss, deren Folgen für das konzeptionelle und methodische Selbstverständnis der Profession noch nicht einschätzbar sind (z. B. Migration und ihre Folgen, Digitalisierung der Lebenswelt durch soziale Medien, Digitalisierung der Verwaltungsvollzüge in der Jugendhilfe und damit verbundene Veränderungen der professionellen Aufgabenwahrnehmung, Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit körperlichen und geistigen Behinderungen;
Kap. 6). In einem zweiten Block (
Kap. 2.2) geht es um einige zentrale konzeptionelle Entwicklungslinien, die die heutige Aufgabenwahrnehmung der Kinder- und Jugendhilfe nachhaltig geprägt haben, sowie um Leitbegriffe, die in den Debatten der Kinder- und Jugendhilfe immer wieder auftauchen und die teilweise zu einer bedeutsamen Legitimationsfolie geworden sind, zu denen sich Fachkräfte in der Konzipierung und Begründung ihres Handelns verhalten müssen. Wir sind uns bewusst, dass die Darstellung der konzeptionellen Leitorientierungen und Leitbegriffe nicht umfassend sein kann, sondern selektiv erfolgt. Bei der Auswahl haben wir uns nicht an mehr oder weniger umfassenden theoretischen Positionen zur Sozialen Arbeit ausgerichtet (siehe dazu: Füssenhäuser 2018; Sandermann/Neumann 2018; Lambers 2018). Vielmehr haben wir uns daran orientiert, welche Begründungen nach unseren Beobachtungen in der Praxis der Kinder- und Jugendhilfe (ablesbar z. B. an Stellungnahmen von Fachverbänden oder Positionsformulierungen von Trägerverbänden) häufig zur Argumentation und zur Legitimation in der Kinder- und Jugendhilfe herangezogen werden. Auch die Darstellung von konzeptionellen Leitbegriffen (
Kap. 2.2.3) ist selbstverständlich eine Auswahl dar, die sich dadurch begründet, dass die Leitbegriffe nach unserer Auffassung auch in den nächsten Jahren als Orientierungs- und Legitimationsformeln in der Kinder- und Jugendhilfe nicht an Bedeutung verlieren werden.

      Zentrale Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe sind in § 1 SGB VIII genannt. Neben dem universalen Recht von Kindern und Jugendlichen auf eine Erziehung zu »einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit« (Abs. 1) ist hier der viergliedrige Auftrag aus Absatz 3 hervorzuheben:

      § 1 Abs. 3 SGB VIII

      Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere

      1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,

      2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen,

      3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen,

      4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.

      Die hier formulierte Zielbestimmung erscheint auf den ersten Blick als ein Konglomerat unterschiedlicher Erwartungen auf unterschiedlichen Ebenen. Hier steht die Verpflichtung, Angebote der Beratung und Unterstützung von Eltern bei ihrer Aufgabe der Erziehung ihrer Kinder bereitzustellen, neben einem als eigenständig erscheinenden Auftrag zur Förderung von jungen Menschen und zur Vermeidung bzw. zum Abbau individueller Benachteiligungen. Dies wird wiederum kontrastiert mit dem Auftrag der Gefahrenabwehr bei einer Gefährdung des Kindeswohls in- und außerhalb der Familie – ggf. auch gegen den Willen der Eltern. Ergänzt wird dies noch durch einen übergreifenden gesellschaftspolitischen Auftrag, für positive Lebensbedingungen für junge Menschen und für eine familienfreundliche Umwelt einzutreten.

      In dieser zunächst unsortiert und manchmal widersprüchlich erscheinenden Zielbestimmung werden bereits erhebliche Spannungsfelder erkennbar:

      • Ansatzpunkt bei den jungen Menschen, bei ihren Eltern, bei den gesellschaftlichen Verhältnissen;

      • Aufträge zwischen Förderung, Beratung und Unterstützung junger Menschen und Familien auf der einen Seite und der Abwehr von Gefahren für das Kindeswohl auf der anderen Seite;

      • Interventionsstrategien, die auf das Verhalten von Menschen gerichtet sind, auf der einen Seite, und Strategien, die auf die Beeinflussung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtet sind, auf der anderen Seite.

      In dieser Breite offenbart sich jedoch ein umfassender Auftrag, der unter dem Etikett »Einheit der Jugendhilfe« sogar als ›Markenkern‹ der Kinder- und Jugendhilfe artikuliert wird: Jugendhilfe mit ihrer Breite der Handlungsfelder und Methoden wird als der Versuch verstanden, auf vielfältige Lebensbewältigungsanforderungen von Eltern und ihren Kindern durch die Bereitstellung einer fördernden, helfenden und schützenden Infrastruktur zu reagieren. Ihre gesamten Aktivitäten sind eingebettet in einen umfassenden Auftrag der politischen Interessenwahrnehmung, der gesellschaftlichen Einflussnahme und der Infrastrukturgestaltung durch öffentliche und freie Träger (z. B. im Rahmen des Jugendhilfeausschusses durch eine offensive Jugendhilfeplanung).

      Je komplexer gesellschaftliche Anforderungen werden und je ungleicher die Teilhabechancen von Menschen in der modernen Gesellschaft verteilt sind, um so vielfältiger müssen die Angebotsstrukturen der Jugendhilfe ausgestaltet sein, um ihren Auftrag erfüllen zu können. Es geht um eine umfassende Verantwortung für die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen seitens der Jugendhilfe, die sich inzwischen weit über die ursprünglichen Wurzeln der Sozialdisziplinierung (

Kap. 1.2) und des hoheitlichen Wächteramtes hinaus entwickelt hat, ohne diesen Teil jedoch abspalten zu können oder zu wollen.

      Die im SGB VIII formulierten und dabei durch vielfältige Spannungsfelder gekennzeichneten objektiven Rechtsverpflichtungen und subjektiven Rechtsansprüche lassen sich als gesellschaftlicher Auftrag verstehen, für junge Menschen Bedingungen des Aufwachsens zu schaffen und weiterzuentwickeln, die ihnen eine optimale gesellschaftliche Teilhabe und optimale individuelle Verwirklichungschancen eröffnen. An diesem Auftrag kann die Kinder- und Jugendhilfe nicht ohne eine normative Basis arbeiten: Die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe