Joachim Merchel

Kinder- und Jugendhilfe


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Jugendlichen wirksam werden« (ebd.).

      Damit charakterisierten sie zum einen den mit dem Konzept der Offensiven Jugendhilfe vollzogenen Perspektivenwechsel von den Problemen der jungen Menschen zu deren gesellschaftlichen Ursachen. Zum anderen wird hier der Anspruch deutlich, dass Jugendhilfe sich um die Belange aller Kinder und Jugendlichen kümmern soll, indem sie ihren Vertretungsanspruch für die gesamte Jugend erklärt und sich politisch stellvertretend für die Interessen aller Jugendlichen einsetzt. Das Selbstverständnis, für alle und nicht nur für junge Menschen mit Problemen in der Erziehung zuständig zu sein, wird in der Selbstproklamation als »vierte Erziehungsinstanz« verstärkt.

      In den heutigen Konzeptdebatten zur Kinder- und Jugendhilfe sind Argumentationsmuster erkennbar, die in der Traditionslinie der Offensiven Jugendhilfe liegen: das auf Emanzipation ausgerichtete Menschenbild mit seinen verschiedenen, den o. g. Leitkategorien folgenden Elementen, die Ablehnung einer reinen Defizitorientierung mit einer Ausrichtung an der Förderung und Unterstützung aller Kinder und Jugendlichen sowie der Einbezug gesellschaftspolitischer Überlegungen und Impulse in das Konzept- und Handlungsrepertoire der Kinder- und Jugendhilfe.

      Man kann die Regelungen des § 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII auch als eine gesetzliche Anknüpfung zur Offensiven Jugendhilfe« interpretieren (so Meysen/Münder, in Münder et al. 2019, § 1 Rz 25): Der Jugendhilfe wird als Ziel zugesprochen, »dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen« (§ 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII) – eine generelle Zielsetzung, die in den Regelungen zur Jugendhilfeplanung (§ 80 Abs. 4) und zur Zusammenarbeit mit Organisationen aus anderen administrativen und politischen Bereichen (§ 81) aufgegriffen und konkretisiert wird.

      2.2.2.2 Das Konzept lebensweltorientierter Jugendhilfe

      Ende der 1970er Jahre entwarf Hans Thiersch (2005; 2006) das Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe. Seither stellt dieses Konzept einen zentralen Bezugspunkt für die Gestaltung Sozialer Arbeit dar. Der Begriff ist bis heute fester Bestandteil fachpolitischer und praktischer Diskurse in der Kinder- und Jugendhilfe und darüber hinaus in der gesamten Sozialen Arbeit. Insbesondere der 8. Jugendbericht (BMJFFG 1990) ist ein Dokument, in das Konzeptformulierungen zur lebensweltorientierten Jugendhilfe eingegangen sind und das für den Wechsel vom Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) zum KJHG (SGB VIII) eine große Bedeutung hatte. Mittlerweile wird in vielfältigen Veröffentlichungen das Konzept einer lebensweltorientierten Jugendhilfe beschrieben und zum Ausgangspunkt für methodische Handlungsorientierungen gemacht. Die Konzeptformel »Lebensweltorientierung« wird in einer solch ausgeweiteten Form verwendet und vereinnahmt, dass sie zum einen profillos zu werden droht und zum anderen in Gefahr ist, ihren Stachel zu verlieren, mit dem sie zum Zeitpunkt ihrer Formulierung – in der Kinder- und Jugendhilfe: in den 1980er Jahren – als kritischer Maßstab an die Praxis herangetragen wurde.

      Grunwald/Thiersch (2016, 29) verorten das Konzept der Lebensweltorientierung »in der Tradition einer hermeneutisch-pragmatischen Erziehungswissenschaft und einer pragmatisch orientierten Sozialen Arbeit«, die angereichert werden durch sozialwissenschaftliche Argumentationen. Das Konzept ist weniger empirisch und eher programmatisch ausgerichtet. Der normative Bezugspunkt des Konzepts ist »soziale Gerechtigkeit«, die »in der Unterschiedlichkeit von individuellen und situativen Lebenssituationen konkretisiert werden« muss (ebd., 31).

      »Lebenswelt« wird sichtbar und erlebbar im Alltag der Menschen. Diesen Alltag hat die Kinder- und Jugendhilfe in den Blick zu nehmen und Unterstützungen anzubieten, mit denen die Menschen ihren Alltag besser bewältigen können. Alltagsorientierung als Bezugspunkt methodischen Handelns fordert zum einen die Hinwendung zu den konkreten Lebensvollzügen der Menschen und zu ihrer persönlichen Sichtweise auf ihren Alltag; zum anderen bietet Alltagsorientierung eine kritische Perspektive, weil der Blick zu richten ist auf die Frage, was ein »gelingender Alltag« für die Individuen sein kann, und auf die Verhältnisse, die am Gelingen des Alltags hindern.

      Lebensweltorientierung beinhaltet somit gleichermaßen eine Handlungsorientierung wie ein kritisches Korrektiv sowohl zur Betrachtung des Alltags als auch zur Bewertung des Handelns der Institutionen der Kinder- und Jugendhilfe. Thiersch/Grunwald/Köngeter (2010) charakterisieren Lebensweltorientierung als ein Prinzip, das

      »in den gegebenen Verhältnissen Optionen [sucht], die auf Gestaltungsräume in gegenseitiger Anerkennung verweisen könnten. Als Handlungskonzept verbindet sie den Respekt vor dem Gegebenen mit dem Vertrauen in Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten im Feld. Sie agiert in den Verweisungen zwischen Personen, Sachaufgaben und Beziehungen, zwischen hilfreichen Strukturen in Zeit und Raum und Beziehungen. Sie agiert im Zusammenspiel von Zutrauen, Vorschlägen von Alternativen und Konfrontationen – klassisch geredet also im Horizont von Fördern, Behüten und Gegenwirken« (S. 179).

      Methodisch sind insbesondere Prinzipien wie der »respektvollen Annäherung an die Lebenswelt«, des »Respekts vor der Andersartigkeit und der Eigensinnigkeit von Lebensvoraussetzungen und -entwürfen« und der »strukturierten Offenheit« bedeutsam (Grunwald/Thiersch 2016); mit »strukturierter Offenheit« ist ein methodisches Handeln gemeint, das einerseits durch eine professionelle Logik im Verfahren strukturiert ist, andererseits aber hinreichend Raum lässt für individuelle und situative Konstellationen der Adressaten und Adressatinnen (insbesondere deren Alltagserfahrungen und Kompetenzen).

      Für die Kinder- und Jugendhilfe impliziert das Konzept »Lebensweltorientierung« die Abkehr vom Versuch, professionelle Soziale Arbeit vorwiegend durch expertokratische Diagnose oder Therapie zu realisieren. Jugendhilfe soll an den konkreten Bedürfnissen von jungen Menschen und ihren Familien in ihren jeweiligen Lebensräumen anknüpfen. Ausgangspunkt professionellen Handelns sind nun die eigenen Problemdeutungen, aber besonders auch die eigenen Ressourcen des Individuums, um so in der Zielperspektive einen »gelingenden Alltag« zu ermöglichen. Eine solche Sicht verbietet standardisierte Reaktionen auf individuelle Probleme, sondern erfordert einen stets neuen reflexiven Zugang zu den Menschen. Hilfeprozesse sollen so gestaltet werden, dass sie zum einen eine Integration der Adressaten und Adressatinnen in gesellschaftliche Systeme (Arbeit, Schule, Familie) zu fördern vermögen, dabei aber zum anderen an deren Alltag und deren Sichtweise zu ihrem Alltag ansetzen sowie deren Fähigkeiten zur aktiven Gestaltung ihres Alltags in den Mittelpunkt stellen.

      Während im Verständnis der Offensiven Jugendhilfe die ›Betroffenen‹ implizit als ›Opfer‹ restriktiver, ungerechter gesellschaftlicher Verhältnisse und als in ihren Handlungsmöglichkeiten und ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkte, den Verhältnissen eher passiv ausgesetzte Menschen gesehen werden, was sozialpädagogische Intervention (als »Emanzipationshilfe«) und stellvertretendes politisches Handeln erforderlich macht, werden Hilfeprozesse in einer lebensweltorientierten Kinder- und Jugendhilfe anders verstanden:

      »Zentral werden [nun] beratende und begleitende Arbeit und Anregung und Hilfe zur Erschließung von materiellen, informationsbezogenen, sozialen und biographischen Ressourcen, von Ressourcen in Bezug auf Geld, Räume, Wohnungen und Freunde, die Entdeckung eigener Möglichkeiten« (BMJFFG 1990, 16).

      Ziel ist es, Kinder und Jugendliche auf Wahrnehmung von Eigenverantwortung für ihren Alltag und auf selbständige Lebensführung vorzubereiten. Neben der Familie werden nun auch das System der Arbeit, die Wohnumwelt und die persönlichen Netzwerke der Adressatinnen und Adressaten mit in den konkreten Hilfeprozess einbezogen (BMJFFG 1990, 137). Ihnen selbst wird in diesem Kontext eine aktive Rolle zugeschrieben, womit sie gleichzeitig im Sinne einer Aktivierungslogik in die Verantwortung für die Überwindung ihrer Probleme genommen werden. Durch Hilfeprozesse sollen sie »eigene Vorstellungen zur Veränderung ihrer Situation (…) entwickeln und Spielräume der Selbststeuerung und Mitverantwortung (…) nutzen« (BMJFFG 1990, 24).

      Im Vergleich zu Konzeptformulierungen der Offensiven Jugendhilfe verschiebt sich im Konzept der Lebensweltorientierung der Blick vom politisch stellvertretenden Handeln und einem auf gesellschaftliche Bezüge ausgerichteten Verständnis von »Emanzipation« und »Autonomie« hin zu einer Ausrichtung auf »Alltag« und eigenständige Lebensbewältigung, wobei die in der Biografie erworbenen, im Alltag sichtbaren und in der unmittelbaren Lebenswelt erschließbaren Ressourcenpotenziale